Hier ist der Artikel zum Anhören:

 

Es schallt laut aus Richtung der friedvollen Elternschaft und bedürfnisorientierten Kinderbegleitung:

„Hinter jedem Verhalten steckt ein Bedürfnis.“

Aber viele Eltern, Blogger*innen und Elternberater*innen haben den Begriff „Bedürfnis“ offenbar nicht ganz verstanden. Da wird sich gefragt „Ist das jetzt ein Wunsch oder ein Bedürfnis?“. Eltern glauben: „Immer wenn mein Kind ein Bedürfnis hat, muss ich es sofort erfüllen und es glücklich machen.“. Oder sie sind überzeugt: „Ich als Elternteil habe ein Bedürfnis nach Zeit allein, deswegen muss mein Kind früh ins Bett.“.

Das soll so nicht weitergehen! Deswegen kommen hier nochmal Infos zu Bedürfnissen, die Abgrenzung zu Strategien und was das alles mit friedvoller Elternschaft zu tun hat.

Was ist ein Bedürfnis?

Der Begriff kommt vor allem aus der humanistischen Psychologie, war wichtig im Behaviorismus und wurde dann zum zentralen Begriff in der Kommunikationstheorie.

Wenn ich über Bedürfnisse schreibe, beziehe ich mich auf den Begriff, wie er in der Gewaltfreien Kommunikation verstanden wird. Er wird dort relativ umfassend, fachlich sauber und trotzdem gut verständlich gefasst.

Nach dieser Theorie ist ein Bedürfnis etwas, das potentiell jeder Mensch haben kann. Und wir alle brauchen erfüllte Bedürfnisse, damit es uns gut geht. Sie können unterschiedlich stark ausgeprägt sein: Eine Person braucht täglich zehn Stunden Schlaf, eine andere isst gerne bestimmte Nährstoffe, die nächste braucht viel Gemeinschaft, die übernächste mag täglich Sex haben. Die Ausprägungen sind verschieden, aber tendenziell und prinzipiell betreffen Bedürfnisse alle Menschen.

Bedürfnisse sind universell.

Die Formulierung ist sehr weich, aber ich finde sie äußerst hilfreich für die Praxis. Denn dadurch können wir durch eine einzige Frage Bedürfnisse von Strategien unterscheiden: Kann das potentiell jede Person haben?

Was ist eine Strategie?

Strategien sind Methoden, die Menschen anwenden, um sich Bedürfnisse zu erfüllen.

Strategien sind spezifisch.

Beispiel: Du gehst Schuhe kaufen. Das ist eine Strategie und sie kann viele verschiedene Gründe haben.

  • Vielleicht geht es um die neuesten Barfußschuhe und du willst zu der coolen, bedürfnisorientierten Eltern-crowd dazugehören.
  • Es kann auch sein, dass du dir Schuhe kaufst, weil deine derzeitigen durchgelaufen sind und du gerne warme und trockene Füße haben willst, was deiner Gesundheit zuträglich ist.
  • Oder du willst dir Schuhe kaufen, um dir Wertschätzung zu zeigen. Du hast gerade ein schwieriges Projekt abgeschlossen, du bist das erste Mal seit drei Monaten wieder allein unterwegs, nachdem du ein Baby bekommen hast, du hast ganz viel Geld verdient und willst das jetzt auf den Kopp hauen. Es kann also sein, dass du Schuhe kaufen als Belohnungsmechanismus für dich einsetzst, dass du dir damit zeigen möchtest, dass du dir wichtig bist.

Hinter einer Strategie können viele Bedürfnisse stehen.

Wenn dann deine Tante vorbeikommt und findet, du sollest dir keine teuren klack-klack-Schuhe kaufen, weil du gerade pleite bist, und stattdessen lieber auf das Angebot im Discounter zurückgreifen, hilft das nur bedingt. Die Discounterschuhe würden dir vermutlich trockene Füße bescheren, aber vielleicht lag ja ein ganz anderes Bedürfnis als Gesundheit hinter dem Kauf, das mit den günstigen Schuhen unerfüllt bleibt.

Es ist unmöglich sauber von der Strategie einer Person auf ihr Bedürfnis rückzuschließen.

Sowieso nicht bei anderen, aber auch erstmal nicht so einfach bei dir selbst. Dafür musst du dich erst kennenlernen auf dieser Ebene und deine Bedürfnisse herausfinden.

Bedürfnisse ausgraben

Ich habe meine Kinder früher zu einer bestimmten Zeit ins Bett geschickt, weil ich dachte, mein Bedürfnis wäre „Zeit für mich“. Ich dachte, ich bräuchte „meine Ruhe“. Das sind oft so vage Floskeln, hinter denen sich Bedürfnisse verbergen. Ich hab also meine Kinder ins Bett verbannt, um dann mit meinem Mann zu quatschen, mit Freundinnen zu telefonieren, Musik zu hören oder Filme zu gucken. Ich wollte also weder allein sein, noch wollte ich es leise haben.

Da ich gerade die Gewaltfreie Kommunikation kennengelernt hatte, hab ich mich gefragt, warum es mir so wichtig ist, dass meine Kinder im Bett sind. Da mir nichts einfiel, habe ich die Kinder nicht mehr ins Bett gezwungen – und bin komplett ausgerastet.

Ich hatte also sehr wohl ein unerfülltes Bedürfnis, es hat nur ewig gedauert, bis ich rausgefunden habe, welches. Ich hab lange gegraben. Es ging mir um Autonomie und Selbstwirksamkeit. Es ging mir darum, dass ich entscheiden wollte. Und als ich das gecheckt hatte, ist so vieles einfacher geworden. Denn dann konnte ich mir das Bedürfnis woanders erfüllen und meine Kinder mussten nicht mehr um acht ins Bett stiefeln, weil ich fand, dass ich „jetzt auch mal dran sei“. Seitdem achte ich darauf, mir mein Autonomiebedürfnis aktiv zu erfüllen, sodass meine Kinder nicht mehr die Sollbruchstelle sind.

Bedürfnisse, Strategien und friedvolles Miteinander

Wenn wir auf Bedürfnisse fokussiert sind, kann unsere Welt übervoll mit Möglichkeiten sein.

Wenn wir auf eine bestimmte Strategie fokussiert sind, kann unsere Welt voller Mangel sein.

Mary Mackenzie

Wir alle haben irgenwelche Strategien, die wir blöd finden, es gibt einfach unterschiedlich gute bzw schlechte Strategien zur Erfüllung von Bedürfnissen. Wenn du eine bemerkt hast und loswerden willst, ist es häufig schon enorm hilfreich, dich nicht zu verurteilen, dir nicht zu sagen, wie scheiße du bist, dir nicht zu sagen, dass du dich halt mal zusammenreißen musst, sondern immer davon auszugehen, dass du einen guten Grund hast. Das kennst du schon im Umgang mit deinem Kind. Du siehst ein komisches Verhalten und unterstellst ihm, dass es das beste tut, was es kann. Du brauchst das gar nicht laut sagen, es reicht die Haltung, dass sich sofort die Energie in der Beziehung verändert. Das hilft auch bei dir selbst!

Du hast gute Gründe für dein Verhalten, mag es auch noch so wunderlich sein.

Bedürfnisorientiertes Miteinander zeigt sich darin, dass du deinem Gegenüber und dir selbst unterstellst, hinter jeder eurer Handlungen stehe ein Bedürfnis. Damit unterstellst du euch Menschlichkeit und soziale Kompetenz. Beziehung findet dann statt,  wenn ihr von dieser Idee aus miteinander umgeht. Da braucht es keine sofortige Bedürfniserfüllung oder unausweichliche Strategien.

Wir alle haben Bedürfnisse und wir geben unser bestes.

Am Anfang der Reise in die friedvolle Elternschaft wissen wir oft nicht, wo in dem bescheuerten Verhalten von mir, meine*r Partner*in oder meinem Kind etwas Gutes sein soll. Wir sind nicht gewohnt, zu denken: „Ok, das Verhalten ist jetzt absoluter Mist, aber ich gehe davon aus, dass es ein Bedürfnis erfüllen soll. Was könnte das dahinterliegende Bedürfnis sein?“

Strategien sind keine Bedürfnisse

Dieser Beitrag wurde inspiriert von der Erfahrung, dass Leute mir schreiben: „Hier ist auch mal Schluss, hier muss ich auf mein Bedürfnis achten!“ Und jedes Mal meinen sie eine Strategie. Es ist kein Bedürfnis, abends ohne Kind auf dem Sofa sitzend Wein zu trinken. Das ist eine Strategie. Diese Vermischung ist fatal, denn sie rechtfertigt Machtgebrauch. Ich finde es nicht schlimm zu sagen: „Leute, heute geht gar nix, ihr geht alle um acht ins Bett, weil mir das voll wichtig ist, alleine auf dem Sofa zu sitzen.“, solange du offen bist für Widerspruch und dein Kind als Menschen und als Gegenüber ansiehst. Versteh mich nicht falsch:

Bitte achte auf deine Bedürfnisse!

Das ist so, so wichtig. Aber es bedeutet nicht, dass du eine Strategie mit Hilfe deiner Macht durchdrückst. Manchmal entscheidest du dich vielleicht dafür, auf diese eine Strategie zu bestehen, das ist ok, aber es bleibt eine Strategie von vielen, die du nutzt, um dir dein Bedürfnis zu erfüllen. Und ganz ehrlich: Es ist nicht ratsam, diese Macht all zu oft zu nutzen.

Wir lügen uns in die Tasche, wenn wir Bedürfnis-Nummer immer dann aus dem Hut zaubern, wenn es gerade passt, aber nicht grundsätzlich so mit Menschen umgehen.

Schreib voll gerne in die Kommentare, was du so denkst über Bedürfnisse und Strategien. Hast du ähnliche Erlebnisse? Oder ganz andere? Welche Bedürfnisse sind für dich schwer zu erkennen? Und welche Bedürfnisse hast du hinter welchem Verhalten entdeckt? Ich freu mich auf die Diskussion.