Eigentlich geht es um einen Keks. Oder einen Pullover. Oder es ist komplett unklar.

Auf jeden Fall brüllt dein Kind. Weint. Schmeißt sich gegen die Wand und auf den Boden und ist unglücklich. Und du fühlst dich beschissen. Du kriegst Stress. Du willst dass es aufhört.

Aber warum eigentlich?

Die Unfähigkeit, zu trauern

In den 70er jahren des letzten Jahrhunderts schrieben die Mitscherlichs ihr berühmtes Buch Die Unfähigkeit zu trauern: Grundlagen kollektiven Verhaltens. Auf der Höhe der Generationenkonflikte rund um die Erinnerung an das dritte Reich und seine Verarbeitung. Ganz schön mutig.

Darin konstatierten sie eine gesellschaftliche Verfassung, die die Trauer um den Zerfall der Ideologie des Dritten Reiches und die großen persönlichen Verluste nicht zulässt. Weitermachen, hart sein, nach vorne sehen. Das war die Devise.

Ihre Thesen sind weltweit in die Betrachtung von kollektiven Traumata eingeflossen und heute eine Standardtheorie in Psychologie und Kulturwissenschaft.

Zu Recht.

Denn die Unfähigkeit zu trauern um das, was kollektiv verloren ging, führt zu schrecklichen Resultaten.

Eines davon ist Erziehung.

Der Schmerzkreislauf

Es ist ein Kreislauf: Der Schmerz, der uns durch Erziehung zugefügt wurde, ist unaussprechlich und gleichzeitig kollektiv – alle halten es für normal. „Das hat mir doch auch nicht geschadet“ ist trauriger Zeuge dieser Massenblindheit.

Unaussprechlich ist es auch deswegen, weil Erziehung sich der Tatsache bemächtigt, dass Kinder glauben müssen, was die allmächtigen Eltern sagen. Und dass sie es richtig finden – egal wie schmerzhaft, demütigend oder traurig es für sie ist. Sie glauben im Zweifelsfall immer, was die Eltern sagen und verleugnen das, was in ihnen lebt.

Das ist schlau, das ist ein Überlebensmechanimus der Seele. Und in Erwachsenen führt er zu verheerenden Folgen.

Und dann sind da unsere Kinder und wir wollen neu handeln und unser Schmerz kommt mir aller Wucht auf.

Immer und immer wieder.

Streit zwischen den Geschwistern. Nerviges Getrödel. Hunderte kleine Sachen, die tagtäglich passieren und die uns an unseren Schmerz erinnern, erzogen worden zu sein.

Das Leid, erzogen worden zu sein, ist aber eben nicht benannt, es ist nur quälend im Unbewussten. Alice Miller beschreibt es so:

Später leiden die einst misshandelten Kinder an Schuldgefühlen, schlagen – ohne es zu wollen – ihre eigenen Kinder, und bleiben lebenslang an ihre Eltern, die sie misshandelt haben, gebunden.

Gerade deshalb bleibt die Ignoranz der Gesellschaft so massiv und Eltern produzieren mit bestem Gewissen weiterhin in jeder Generation das schwere Leiden, das mit mehr Bewusstsein vermeidbar wäre. (Alice Miller)

Das ist übrigens auch einer der Hauptgründe, warum Menschen unglaublich wütend auf die Ablehnung von Erziehung reagieren: Es tut ihnen weh. Der Anteil in ihnen, der die Eltern verehrt und geglaubt hat, dass sie aus Liebe handeln und nicht aus Furcht und Unwissenheit, der ist zäh. Der hält die psychische Stabilität beisammen und schweigt, wie in Mitscherlichs Analyse die Deutschen schweigen, weil sie keine Worte für die traumatischen Empfindungen haben.

Erziehung als Form der Gewalt

Erziehung ist oft leise. Sie schleicht sich an, sie wirkt freundlich und zugewandt, sie wird mit Liebe und Verantwortungsbewusstsein verwechselt.

Aber sie tut immer zwei Dinge: Sie macht jemanden in einer Beziehung zum Objekt und sie vermittelt, dass dieses Objekt nicht so ist, wie es sein sollte. Und deswegen erzogen werden muss.

Das tut weh.

Objektivierung ist eine schwere psychische Gewalttat.

Aber wenn alle das machen, ist das schwer zu erkennen. Und wenn wir dann auch noch selber unsere Eltern als liebevoll erlebt haben, ist es beinahe unmöglich, Liebe und Erziehung zu trennen. „Wir tun das nur, weil wir dich lieben“ sagen noch immer nicht wenige Eltern. Und meinen es wohl auch so.

Auch zu dieser Verleugnung der Wucht, die wir als Kinder durch unsere Erziehung erlebt haben, sagt Alice Miller Kluges:

All diese Menschen wollten von ihrem frühen Leiden nichts wissen und lebten in einer Gesellschaft, die dieses Leiden ebenso ignoriert. Für das Wissen über das Schicksal von Kindern und seine Bedeutung für das spätere Leben gibt es bis heute keinen oder viel zu wenig Raum. (Alice Miller)

Wenn du nun antwortest, indem du keine Konflikte erträgst und es ruhig und harmonisch haben willst, sitzt du der Idee auf, dass dein inneres Problem mit dem Verhalten deines Kindes zu tun hat.
Es schreit, also fühlst du dich schlecht. Es beißt, also wirst du wütend.

Das ist aber nicht so. Du fühlst, was du fühlst, weil du Schmerz in dir hast. Weil in dir ein Anteil ist, der den Menschen, die dich erzogen haben, Recht gibt. Der ihre Idee von Liebe nicht aufgeben will. Der den Schmerz vermeiden will.

Dabei sind Konflikte so wertvoll. Und die mehr oder weniger unbewusste Überzeugung, dass sie um jeden Preis zu vermeiden sind, nimmt dir vor allem eins: Die Freiheit, dich deinen Erfahrungen zu stellen und sie loszulassen.