Du und dein Kind, ihr guckt euch eine freie Schule an. Es gibt nicht viele Plätze, du hast also im Hinterkopf, dass ihr einen guten Eindruck hinterlassen solltet, damit die Chance auf einen Schulplatz steigt. Die Lernbegleiterin, mit der ihr verabredet seid, streckt euch zur Begrüßung die Hand entgegen, dein Kind versteckt sich hinter deinen Beinen. Sie spricht dein Kind an, es hält sich die Ohren zu. Sie zeigt euch den Toberaum der Schule, dein Kind tritt einen Mülleimer um und guckt grimmig.

Das kannst du so nicht stehenlassen. Du willst irgendetwas loswerden. Jetzt. Du willst etwas sagen, du willst etwas machen und du weißt genau, es ist nicht das, was du EIGENTLICH tun willst.

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Es können auch ganz andere Sachen sein, die dich anpieksen. Vielleicht brüllt dein Kind den Supermarkt zusammen. Oder es haut dich. Oder es spuckt auf den Wohnzimmerboden. Es macht irgendetwas, was dich doll aufregt, und du kommst in Not. Vielleicht deswegen, weil du, als du selbst noch ein Kind warst, ähnliches gemacht hast und in diesen Situationen Gewalt und Abwertung erfahren hast. Oder ein fieser Gedanke überschwemmt dich und schwupps fühlst du dich als Opfer und kannst dich nur noch verteidigen. Gründe gibt es viele.

Du weißt selbstverständlich, dass es nicht ok ist, ein Kind anzubrüllen, du bist davon überzeugt, dass Kinder friedvoll begleitet werden sollen, du hast auch schon von tausend friedlichen Alternativen gelesen. Das Problem ist aber:

Gerade jetzt in diesem Moment verspürst du einen überwältigenden Drang, dein Kind zurechzuweisen.

Du denkst: „Oh Göttin, ich muss das jetzt sagen, mein Kind lernt es sonst nie! Und was sollen bloß die anderen von mir denken?“ Und auf einmal sind da all diese alten Themen, von denen du dachtest, du hättest sie schon lange hinter dir gelassen, und sie sind LAUT.

Was ist da los?

Kaum eine*r von uns hat ausreichend gelernt, unangenehme (sog schlechte/negative) Emotionen in etwas Konstruktives zu transformieren. Du vermutlich auch nicht. Und deswegen willst du diese Gefühle einfach nur loswerden.

Du willst nicht wütend, traurig oder hilflos sein, also sucht dein Gehirn eine schnelle Lösung, um dich zu retten.

Dein Gehirn kennt eine kurzfristige Lösung. Und die sieht so aus, dass du dein Kind in den Gehorsam zwingst. Das geht, weil du deinem Kind gegenüber in einer extremen Machtposition bist, du kannst es zu allem zwingen, denn dein Kind ist dir völlig ausgeliefert. Und ja, Gehorsam durchsetzen ist kurzfristig total erleichternd.

Da du aber weißt, dass Machtmissbrauch Mist ist, fliegen dir genau in diesem Moment lauter Erziehungsratschläge zu. Du versuchst dir selbst einzureden, dass es ok ist, grenzüberschreitend zu handeln. Vielleicht wälzst du in Gedanken deine Verantwortung ab („Wenn mein Kind sich so verhält, kann ich ja nicht anders.“) oder du rechtfertigst es damit, dass deine Grenzen verletzt seien und du deswegen das Recht habest, deine Macht zu missbrauchen.

Und während du noch dabei bist, dir einzureden, Machtmissbrauch sei ok und notwendig, weißt du schon, dass du ihn hinterher bereuen wirst. Du weißt genau, dass diese kurzfristige Lösung zum Abschalten deines unangenehmen Gefühls, langfristig schadet: Dir selbst, dem, was dir wichtig ist in deinem Leben, deinem Kind und eurer Beziehung.

Die Frage ist also weniger: Wie finde ich eine bessere Lösung? Das ist ja einfach. Sondern:

Wie schaffe ich es, die kurzfristige Lösung beiseite zu legen und stattdessen das unangenehme Gefühl auszuhalten.

Und genau da kommt Brooke Castillos Konzept ins Spiel.

Das Murmelglas

Du brauchst: ein großes, durchsichtiges Gefäß und Steine, Murmeln, Muscheln, Perlen öä

Dann gehts auch schon los. Wenn du das nächste Mal merkst, du willst einem Drang folgen, der dir zwar kurzfristig Erleichterung verschaffen wird, aber deinen langfristigen Zielen nicht zuträglich ist, dann halte inne und reagiere nicht. Wenn du das schaffst, nimmst du eine Murmel und legst sie in das Glas. Ziel ist es, das Glas komplett zu füllen.

Es ist ein alter Teil deines Gehirns, quasi das Primatengehirn, das dich diesen Drang spüren lässt, schnell zu handeln. Und das Primatengehirn findet es super, wenn Dinge abgeschlossen sind. Die Murmel im Glas soll genau das visualisieren: einen Abschluss.

Wenn das Glas voll ist, wird sich dein Verhalten verändert haben, weil du dein Gehirn trainiert hast. Weil du geübt hast, den Drang zu halten und nur zu fühlen, was mit dir passiert. Du bist durch dieses Training nachgereift. Der große Unterschied zwischen einem Gehirn, das durch den Moment gesteuert wird, und einem, das langfristig entscheidet, ist ein Reifegrad. Und diese Reife wird meines Erachtens vor allem durch Erziehung massiv gestört: durch Belohnung und Bestrafung, denn dadurch hören Menschen auf, ihre eigenen Ideen zu verfolgen.

Die Reife deines Gehirns erst lässt es zu, dass du dich für Gesten entscheiden kannst, die deinen langfristigen Zielen dienen.

Es funktioniert wirklich. Und damit mein ich nicht, dass es angenehm ist. Im Gegenteil. Es ist super unangenehm, diesen Drang zu haben und ihm nicht nachzugeben, aber es lohnt sich. Wirklich!

Fiese Gedanken sind ok!

Schmeiße erst eine Murmel in das Glas, wenn du den Drang haben durftest.

Oft werten sich Eltern ab, überhaupt solche Gedanken zu haben. Sie bestrafen sich, weil sie denken „Diesen Rotzlöffeln müsste man mal eine scheuern, dann wär alles viel einfacher.“ Denken darfst du selbstverständlich alles, was dir in den Kopf kommt. Du darfst natürlich fiese Gedanken haben. Du darfst auch den Drang verspüren, dein Kind gegen die Wand knallen zu wollen. Es wäre unmenschlich, dir das zu verbieten.

Das Ziel ist, den Gedanken ziehen zu lassen und das unangenehme Gefühl auszuhalten.

Es geht darum, dich darauf zu trainieren, diese Gedanken auszuhalten, ohne dir zu glauben. Dein Gehirn wird dir alle möglichen Storys erzählen („Später in der Schule wird mein Kind riesige Probleme haben, wenn ich ihm jetzt nicht mal vernünftig eine Grenze setze!“) und dein Job ist es, einfach nur da zu sein.

„Ich höre dich. Ich bin da. Ich atme. Ich bin präsent. Das geht vorbei.“

Was oft unangenehm ist, ist der Gedanke: „Oh Göttin, wenn ich mich dem jetzt einfach nur hingebe ohne zu handeln, einfach nur wahrnehme, hört das nie wieder auf. Ich werde ein gefährliches Monster.“ Das ist nicht wahr. Es geht vorbei! Versprochen!

Und wenn es vorbei ist, nimmst du dir deine Murmel und legst sie ins Glas.

Ich habe damals mit mir selbst einen Packt geschlossen: Wenn ich nach fünf Minuten oder nach fünf tiiiiieeeefen Atemzügen immer noch sagen oder tun will, was sich gerade so scheiße wichtig anfühlt, darf ich das tun. Dieser Drang war für mich so überwältigend, dass ich mir nicht einfach verbieten konnte, ihn auszuleben. Ich war in dem Moment davon überzeugt, dass mein doofes Rotzlöffelgör, dass jetzt definitiv braucht. Ich hab mir die wildesten Geschichten erzählt. Ich bin nicht stolz darauf! Aber genau so wars. Und wisst ihr was? Ich wollte es nicht ein einziges Mal.

Friedvolle Elternschaft bedeutet nicht, dass du immer gut gelaunt bist und ausschließlich tolle Gedanken über dein Kind im Kopf hast. Nein. Friedvolle Elternschaft kann auch bedeuten, dass du denkst: „Du blödes, egoistisches Rötzgör, dir würde ich gern mal zeigen, wo der Hammer hängt.‘ Und diesen Gedanken lässt du weiterziehen. Du spürst, in welcher Not du bist. Du lässt dich sein mit allem, was da gerade peinlich und unangenehm und schmerzhaft ist. Du bist für dich da, aber reagierst nicht auf das, was dein Gehirn dir da erzählen will.