Stell dir vor, du bist mit deinem Kind in der vollen Innenstadt und es schreit, schreit, schreit, weil es irgendwas total blöd findet. Du bist bei deinem Kind und begleitest es durch seine Emotionen. Du schimpfst nicht, du beschämst dein Kind nicht, du bist einfach bei ihm, versuchst vielleicht, ihm Worte für seine Gefühle zu geben.

Es werden Leute vorbeikommen, die dir einen wohlwollenden Blick zuwerfen, die dir vielleicht sogar sagen, dass sie deinen Weg, dein Kind durch seine Wut zu begleiten, toll finden. Ja, die wird es geben.

Du wirst aber auch böse Blicke ernten. Getuschel hören, wie verantwortungslos dierser Umgang sei, dass so eine Göre mal ein paar hinter die Löffel verdient habe, damit sie lernt, wie man sich in der Öffentlichkeit verhält. Und genau darum, um die Frage nach Verantwortung, wird es heute gehen.

Hier kommt das Video, falls du lieber schauen als lesen magst:

 

Was ist Verantwortung und warum ist sie wichtig?

Es ist gesellschaftlicher Konsens, dass Verantwortung in Bezug auf Kinder wichtig ist. Sie liegt bei den Eltern und diese müssen sich verantwortungsvoll verhalten. Wie Verantwortung aber aussieht, davon gibt es durch Globalisierung, Digitalisierung und den daraus folgenenden Austausch über sie kein einheitliches Bild mehr. In einer bunten Gesellschaft mit einer Menge zunehmend gespaltenen Strömungen wird es schwer, zu wissen was als richtig gilt. Das gilt für alle Werte – und auch für Verantwortung.

Verantwortung und Entscheidungen

Verantwortung kann als das Abwägen möglicher Folgen einer Entscheidung gesehen werden (‚Verantwortungsethik‘ nach Hans Jonas).

Wenn ich eine Entscheidung treffe, frage ich mich also nicht nur, ist das jetzt gut oder schlecht für mich oder eine andere Person, sondern wäge außerdem die möglichen Folgen dieser Entscheidung in einer unbekannten Zukunft für alle Betroffenen ab.

Das ist natürlich nicht immer eindeutig.

Ich weiß nicht, ob mein Kind, wenn ich ihm heute Abend die Zähne nicht putze, in drei Jahren Karies bekommt. Und wenn es Karies bekommt, weiss nicht, warum. Lag es wirklich an den paar Abenden ohne Zähne putzen? Oder ist es ein genetischer Faktor? Lag es an der Ernährung?

Wenn ich also Verantwortung denke als das Abwägen möglicher Konsequenzen einer Entscheidung, dann fehlen mir ganz oft Infos, vieles weiß ich einfach nicht bzw kann mir nicht sicher sein.

Und deshalb ist es wirklich, wirklich schwer zu sagen, was gute Verantwortungsübernahme ist und was nicht. Das ist so wichtig, dass ich es dir nochmal sage: Es ist nicht von außen erkennbar, was eine gute Verantwortungsübernahme ist. Wenn dir also der Nachbar sagt, dein Verhalten sei verantwortungslos, fehlen ihm Infos, um das zu beurteilen. An einem barfuß laufenden Kind erkenne ich gar nichts, außer dass es barfuß ist.

Verantwortung und Macht

Ein Mensch kommt als völlig hilfloser Säugling auf die Welt und braucht mindestens eine Person, die sich um ihn kümmert, um zu überleben. Völlige Abhängigkeit. Ein Baby, das du irgendwo liegen lässt, ist tot. Ein Kleinkind, dem du nichts zu essen gibst, ist tot. Ein Kind, das keine Zuwendung und körperliche Nähe bekommt, stirbt auch.

Es dauert Jahre, bis sich diese Abhängigkeit verringert, ganz weg ist sie nie, denn Menschen als hochsoziale Wesen sind interdependent und brauchen auch als Erwachsene das soziale Miteinander, weil sie sich nicht alle Bedürfnisse selbst erfüllen können.

Die Abhängigkeit von jungen Menschen aber ist auf vielen Ebenen extrem: Sie sind psychisch, physisch und ökonomisch abhängig. Sie sind uns großen, mächtigen Leuten ausgeliefert. Und wo viel Macht ist, da ist auch viel Verantwortung.

Macht wird oft mit Gewalt assoziiert, was so nicht stimmt. Machtverhältnisse sind anfällig für Gewalt, ja, aber Machtverhältnisse an sich sind erst einmal nur reale zwischenmenschliche Verhältnisse. Das Problem ist der flächendeckende Missbrauch dieses Machtverhältnisses.

Wenn wir sensibel für dieses Machtverhältnis sind, können wir die ganze Welt verändern.

Wenn ich zu einer erwachsenen Person mit einem entwickelten Gefühl von sich selbst sage ‚Geh weg, du nervst!‘, kann sich die Person denken: ‚Huch, was ist denn mit der Henne los? Die hat wohl einen schlechten Tag.‘ Sie kann sich entscheiden, wie sie mit meinem Geschnatter umgeht. Kann die Verantwortung zurückgeben. Sie kann beschließen, dass das, was hier gerade passiert, nicht in Ordnung ist.

Diese Optionen hat ein Kind nicht. Es kann sich nicht von seiner primären Bezugsperson abgrenzen, es muss sie immer weiter lieben, sie weiter großartig finden. Das einzige, was ein Kind machen kann, ist, sich selbst falsch zu fühlen. Dann kommt es zu einer Integritätsverletzung.

Manche Kinder werden dann ’schwierig‘, können sich aber nie gegen ihre Bezugsperson wenden, weil sie sich nicht abgrenzen können. Sie können nicht sagen: ‚Ej stop! Das ist nicht in Ordnung! Ich bin ein wundervoller Mensch und du hast nur einen schlechten Tag.‘ Das ist ihnen nicht möglich, weil sie die geistige Reife nicht haben und weil sie sich in diesem extremen, psychischen Abhängigkeitsverhältnis befinden.

Wie können wir unserer Verantwortung gerecht werden?

Vielleicht liest du das jetzt hier und es kommt dir alles sinnvoll vor und trotzdem willst du nicht, dass dein Kind das dritte Eis isst.

Ist das jetzt Gewalt? Ist das Machtmissbrauch?

Im Lichte von Verantwortung ist es wichtig, verschiedene Verantwortungsebenen zu verstehen.

Dein Kind kann sich erst dann ein Eis kaufen, wenn du ihm Geld gibst und ggf das Eis bestellst. Es ist also ökonomisch, psychologisch und vielleicht auch physiologisch abhängig. Durch das Machtverhältnis, in dem ihr euch befindet, hast du die Verantwortung fair mit dem jungen Menschen umzugehen.

Beim dritten Eis wirst du aber nervös. Vielleicht ist dein Kind laktoseintolerant oder es hat Karies. Oder du hast bereits erlebt, dass es deinem Kind nicht gut tut, wenn es Zucker isst. Oder du isst vegan, das Eis ist aber voller Kuhmilch.

Da kommen jetzt deine persönlichen Werte ins Spiel und es entsteht ein Wertekonflikt.

Genau jetzt wird Verantwortung interessant, denn wie jeder Grundwert ist sie erstmal abstrakt und wird erst sichtbar, wenn du einen Konflikt hast. Dann merkst du, dass die Entscheidung nicht eindeutig ist, du befindest dich in einem moralischen Dilemma.

Was ist dir gerade wichtiger? Das Selbstbestimmungsrecht deines Kindes oder dass kein weiterer Zucker an die Zähne kommt?

Dir ist ganz klar, was du machen würdest? Du findest eine der Entscheidungen völlig verantwortungslos?

Erst wenn wir eine Entscheidung wirklich sehen, die verschiedenen Werte sehen, die verschiedenen Ebenen, können wir eine echte wertebasierte Entscheidung treffen.

Ich glaube, dass wir als Eltern oft in diesen das-haben-wir-schon-immer-so-gemacht-Modus verfallen und alles andere als verantwortungslos abtun. Damit entschuldige ich mich schnell selbst, dass ich keine dreidimensionale Entscheidung treffe, aber am Ende des Tages fühle ich mich unwohl. Die Sicherheit der Herde nimmt mir die Last, aber sie drückt mir gleichzeitig kollektive Werte auf, die ich vielleicht so allein nie entscheiden würde.

Gehen wir weg von Schuld und hin zu mir und meinen Werten. Was ist für mich gerade richtig?

Bei friedvoller Elternschaft bekommt das Selbstbestimmungsrecht der jungen Menschen sehr viel Gewicht. Wir versuchen die bestehende Machtungleichheit nicht unnötig zu nutzen.

Deswegen ist die Frage so spannend: WARUM entscheidest du dich für oder gegen das dritte Eis? In diesen kleinen Entscheidungen lebst du deine Werte.

In deiner Verantwortung und deinen Entscheidungen wirst du Fehler machen. Und was du für eine verantwortungsvolle Entscheidung hältst, kann für andere komplett verantwortungslos sein. Wo wir wieder bei der Anfangssituation sind. Die verschieden reagierenden Menschen zeigen, dass sie verschiedene Werte haben.

Verantwortung erkennst du nicht daran, wie jemand handelt. Erst recht nicht im Vorbeilaufen, in einem winzigen Ausschnitt.

Du kannst nicht wissen, was für andere der richtige Schritt ist und was für andere eine verantwortungsvolle Entscheidung ist. Du weißt nur, was du gerade jetzt für eine verantwortungsvolle Entscheidung hältst. Und es kann sein, dass du zurück guckst und denkst: ‚Das war kacke, dass würde ich heute anders machen.‘ Ich hoffe sogar, dass das so ist, denn es zeigt dir, dass du dich weiterentwickelt hast, dass du neugierig bleiben solltest.

Denn Neugierde ist so viel schöner als starre Regeln, so viel beziehungsförderlicher und so viel wunderbarer zu leben.

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