Dein Kind ist frech? Heute geht es darum, wie du trotzdem friedvoll reagieren kannst.

Das ist gar nicht so einfach, weil wir tief konditioniert sind, auf ein Kind, das wir das als frech, unverschämt, grenzüberschreitend, dreist – was auch immer dein Wort dafür ist – einordnen, mit Grenzen setzen oder einer anderen Form von Gewalt, die wir uns dann schön reden, zu reagieren.

Aber das willst du nicht machen, sonst wärst du ja nicht hier. Also lass uns darüber reden, was wir stattdessen machen können.

 

Schritt 1 mit frechem Kind: Selbstanbindung

Das erste, was immer wichtig ist in solchen Momenten, ist das, was ich Selbstanbindung nenne. Also einmal zu dir und deinem Körper zurückkommen. Irgendwie klar kriegen: Was passiert hier eigentlich gerade bei mir?

Es geht nicht darum, dass du dich eine Stunde in die Badewanne legst, während dein Kind durch die Küche wütet. Oder dass du sofort super tiefenentspannt sein musst, weil du einmal auf deine Selbstanbindung geachtet hast.

Wichtig ist vielmehr, dass du bei dir eincheckst und dich verortest.

Das kannst du ganz schnell machen. Kind streckt dir die Zunge raus, sagt „Du Arschloch-Mama!“, haut dir auf den Arm – egal welches Verhalten dein Kind zeigt – und du schaust erst einmal: Was macht das gerade mit mir? Was passiert da gerade bei mir?

  • Du kannst es über den Körper tun, indem du zum Beispiel die Hand auf die Körperstelle legst, von der du merkst: Boah, hier brodelt es, hier ist mir ganz warm, hier ist es angespannt.
  • Du kannst es über die Atmung machen: Einmal tief durch die Nase einatmen und durch den Mund wieder aus. Einmal kurz bei Dir ankommen.
  • Du kannst einmal die Augen schließen und deine Gedanken beobachten: Was denke ich gerade? Was passiert gerade?
  • Du kannst einen Achtsamkeitsimpuls mit reinnehmen und dich fragen: Was kann ich gerade hören? Wo stehen meine Füße? Was kann ich gerade fühlen? Wie kalt oder warm ist es auf meiner Haut? Wo berührt meine Haut die Luft? Irgendwas ganz, ganz Kleines.

Das sind übrigens Impulse, die ich aus unserem Praxiskurs habe. Vielleicht hast du ja Bock, dir diese Alltagsimpulse und ganz konkreten Prinzipien, mal anzuschauen. Wir haben den Kurs entwickelt, weil diese ganz kleinen Schritte super viel verändern können.

Vielleicht fühlst du jetzt einen Widerstand und denkst: Pfff, mein Kind ist frech, da ändert mein Atmen auch nix dran! Vielleicht wirst du sogar ärgerlich, während du das hier gerade liest.

Ich empfehle dir trotzdem von Herzen, es auszuprobieren. Lass dich mal drauf ein – wenn du magst! Du wirst merken, diese ganz kleinen Sachen in deinem Alltag werden viel verändern.

Schritt 2 mit frechem Kind: Interpretieren

Nach der Selbstanbindung heißt es, zu gucken: Was passiert da. Was ist da los?

Und dafür müssen wir Abstand nehmen von der Idee, dass das Kind frech, böse, unverschämt, egoistisch oder was auch immer die Worte sind, die du in deinem Kopf hast, ist. Du brauchst sie nicht zu bekämpfen. Gerade wenn du sehr, sehr aufgebracht bist, macht es keinen Sinn diesen Strom an Gedanken und Worten in deinem Kopf zu unterbrechen. Aber leg sie mal ein bisschen zur Seite und überleg, warum das Kind sich so verhalten könnte. Was ist die freundlichste Unterstellung, die ich hier machen kann? Was ist das Netteste, was ich unterstellen kann? Worauf lässt das Verhalten schließen?

Was ist das Netteste, das ich meinem Kind unterstellen kann?

Wenn ich davon ausgehe, dass das Verhalten Sinn macht, was könnte der Sinn sein? Ist das Kind vielleicht überfordert? Sensorisch überfordert? Ist es vielleicht gerade sehr laut oder heiß oder kalt oder gibt es viel zu sehen und zu erleben? Ist es sozial überfordert? Hat es schon ganz viel kooperiert an diesem Tag und jetzt ist einfach Schluss? Ist es vielleicht in Not? Ist es hungrig, durstig, hat Schmerzen?

Versteh mich nicht falsch, auch hier wieder geht nicht darum, dass du irgendwas perfekt machst. Es geht nicht darum, dass du hinterher super gelaunt bist. Es geht nicht darum, dir deine Gefühle abzusprechen. Es geht nicht darum, dass wir das richtig hinbekommen.

Aber wenn wir uns sowieso schon Geschichten erzählen, wie „Das Kind ist frech, das Kind ist egoistisch, das Kind ist dreist.“, dann können wir uns auch einfach nettere Geschichte ausdenken. Das Kind zeigt ein Verhalten und dieses Verhalten können wir aktiv interpretieren und dann können wir uns fragen: Was ist hier die netteste Interpretation? Was könnte da los sein?

Schritt 3 mit frechem Kind: Zeit gewinnen

Gewinne Zeit für euch beide. Versuche, die Situation zu unterbrechen, das Kind abzulenken, das Verhalten umzulenken. Das kann schwierig sein, vor allem wenn das Kind ein Verhalten zeigt, was wir landläufig gerne als „provozieren“ betiteln, wenn das Kind also von dir offensichtlich eine Reaktion braucht. Das hat häufig damit zu tun, dass wir nicht authentisch reagieren, kann aber auch andere Gründe haben.

Zeit gewinnen wir durch Disruption. Wir gehen also gar nicht weiter auf das unerwünschte Verhalten ein, sondern versuchen, die Situation zu unterbrechen.

Hier ein paar Beispiele:

  • Ach übrigens, ich hab noch Eis im Kühlschrank.
  • Lass uns doch mal aufschreiben, was du dir zu Weihnachten wünschst.
  • Laute Musik anmachen und lostanzen.
  • Körperliches Spiel, also einen Kampf beginnen. Gerade bei Kindern zwischen etwa 5 und 10 Jahren kann das eine sehr coole Art der Kommunikation sein.
  • eine andere Person involvieren: Komm mal her, ganz, ganz dringend, ich muss mal hier raus für einen kurzen Moment.

Was als Ablenkung zieht, hängt natürlich auch mit Alter und Entwicklungsstand zusammen, ein Einjähriges kann ich gut ablenken, indem ich einfach irgendeinen Quatsch mache, eine*n 13jährige*n nicht so ohne weiteres.

Es geht übrigens nicht darum, die Situation überhaupt nicht zu besprechen. Ein Verschieben ist aber auch mit 13jährigen möglich: Du, boah, ich komm da gleich drauf zurück, aber jetzt brauche ich mal einen ganz kurzen Moment. Ich finde es auch total ok zu sagen: Ey, ich geh raus, das macht mich gerade richtig aggressiv, das geht gar nicht für mich, ich bin gleich wieder da.

Alles, was irgendwie disruptiv ist und uns ein bisschen Zeit gibt, ist völlig in Ordnung. Eine dreizehnjährige Person kurz alleine zu lassen, ist natürlich etwas völlig anderes, als das bei einem Baby zu tun, letzteres würde ich überhaupt nicht empfehlen. Aber du verstehst, was ich meine: klare Disruption, irgendwie die Richtung ändern, ablenken.

Um friedvoll zu handeln, kannst du mit dir selbst verhandeln.

Es kann sein, dass du einen Widerstand fühlst, das Verhalten nicht zu beachten, sondern einfach abzulenken. Vielleicht willst du in dem Moment unbedingt darauf reagieren. Da kannst du dir selbst gegenüber Zeit gewinnen, indem du zum Beispiel sagst: Ich gehe gleich darauf ein, das versprech ich mir, ich tanz nur eben fünf Minuten und dann schrei ich mein Kind an und sag ihm was für ein verzogenes Gör es ist. Du kannst mit dir selbst und deinem Gehirn verhandeln und du wirst merken, wenn du fünf Minuten getanzt hast, kurz raus gegangen bist, deinen Kaffee getrunken hast oder wenn ihr die Liste für den Weihnachtsmann geschrieben habt, ist dieser Drang nicht mehr so stark.

Schritt 4 mit frechem Kind: Über das Verhalten sprechen

Über das unerwünschte Verhalten sprecht ihr am besten außerhalb der Situation. In der Situation selbst bist du total in Not und damit beschäftigt, dein eigenes Verhalten zu managen, um möglichst friedvoll zu agieren. Dass du nicht super perfekt handelst, wenn dich das Verhalten deines Kindes stark provoziert, ist logisch, es geht eher darum, den Schaden zu minimieren und die Situation so über die Bühne zu bringen, dass ihr euch gegenseitig möglichst wenig verletzt.

Ich habe mal einen Artikel darüber geschrieben, was 12 Alternativen zum Anschreien sein können. Vielleicht passt da ja was für dich.

Wirklich lösen und über das Problem reden geht am besten außerhalb der Situation, also wenn es vorbei ist. Wie auch immer sie vorbeigegangen ist, vielleicht habt ihr es geschafft, dass ihr euch ablenken konntet, vielleicht wart ihr aufeinander ein bisschen wütend und genervt und dann war es irgendwann wieder gut und dann könnt ihr euch nochmal zusammensetzen.

Die Lösung des Problems erfolgt außerhalb der schwierigen Situation.

Erstens ist es wichtig für dein Kind, zu erfahren, was für dich nicht in Ordnung war. Je genauer du da bist und je genauer deine Rückmeldung über deine Gefühle und deine Bedürfnisse ausfällt, desto hilfreicher.

Und zweitens ist es für uns Erwachsene wichtig, zu verstehen, welche unserer Spekulationen über unser Kind – du erinnerst dich an Schritt 2 – zutreffend war. Was war da los beim Kind? Da können wir nachfragen, da können wir auch Vorschläge machen wie: Ach, ich glaub, du warst echt richtig müde/hungrig/hibbelig. War das vielleicht deswegen? Oder warst du noch enttäuscht, weil vorher … passiert ist?

Einfühlen und Raum geben für das, was gerade los war, ist für mich der abschließende Schritt einer solchen Situation.

Du willst jetzt vielleicht wissen, an welcher Stelle du das Kind korrigierst, an welcher Stelle du sagst, das das Verhalten nicht in Ordnung war. Du kannst das natürlich sagen, ich würde es aber nicht in den Vordergrund stellen. Ich finde es hilfreicher, zu erklären, wie es mir in der Situation ging.

  • Das macht … mit mir, wenn …
  • Als du … gesagt hast, hab ich mich wirklich sehr, sehr geärgert.
  • Ich war sehr traurig, weil …
  • Ich war ganz erschrocken, als …
  • Ich fand es wirklich super eklig oder doof oder peinlich, als …

Angepasst an das Alter des Kindes und an die jeweilige Situation kann ich auch erzählen, warum es mir so geht, wenn ich das denn weiß.

Über meine Gefühle zu reden, finde ich viel hilfreicher, als zu sagen: Das macht man nicht! Oder: Das ist doof! Wenn es nicht zufällig das allererste Mal ist, dass das Kind die Sache macht, weiß es bereits, dass sie nicht erwünscht ist. Und beim ersten Mal macht es die Sache sicher nicht, um zu ärgern, sondern weil es ausprobiert, entdeckt, forscht. In diesem Fall können Informationen hilfreich sein.

Mit Einfühlung, Gesprächen, uns offen zeigen erreichen wir viel mehr. Was war da gerade los? Ich war auch echt wütend, tut mir leid! Was könnte ich nächstes Mal anders machen? Hast du eine Idee, was du anders machen könntest?

Und ganz wichtig: Auch wenn ihr Alternativen gefunden habt, erwarte bitte nicht, dass beim nächsten Mal gleich alles super toll klappt und euch nur noch Friede, Freude, Eier(satz)kuchen umgibt!

Rückmeldung und Verbindungen schlägt moralische Belehrung bei Weitem.

Das ist mein Fazit für heute.

Hab ich an alle Schritte gedacht? Wie machst du das, wenn dein Kind dich provoziert oder wenn du wütend bist auf dein „freches“ Kind. Erzähl doch mal!

Ich freue mich auf deine Kommentare.