Hier ist die Hörversion:
Heute möchte ich über Motztage reden. Ich habe fünf Ideen zusammengetragen aus meinen fast 12 Jahren als Mutter und von den vielen, vielen Menschen, die ich schon begleiten durfte auf ihrem Weg in die friedvolle Elternschaft.
Friedvolle Elternschaft bedeutet nicht, dass du keine Scheißtage mehr hast, an denen du am liebsten alles gegen die Wand klatschen und auf die Malediven auswandern willst. Und gerade in schwierigen, stressigen Zeiten, wenn die Umstände hart sind und du so schnell nichts daran ändern kannst, mag ich dich bitten, lieb zu dir zu sein.
Friedvolle Elternschaft und Motztage schließen sich nicht aus.
Wir alle sind Menschen. Und Menschen fühlen eine weite Palette an Gefühlen, da gehören die ganz unangenehmen genauso dazu wie die angenehmen. Es ist völlig ok, dass das so ist.
Das hier ist kein Post darüber, warum Motztage scheiße sind, dass wir sie loswerden und sowieso alle negativen Gefühle weg müssen und du nur noch positiv über den Dingen schweben sollst. Das ist nicht praktikabel. Das hat nichts mit menschlichen Empfindungen zu tun, das hat nichts mit unseren Emotionen zu tun, das ist toxische Positivität. Das ist die Idee, Dinge zu unterdrücken. Und meine Erfahrung ist, dass Emotionen, wenn wir versuchen, sie zu unterdrücken, mit 180%er Gewalt zurückkommen. Mach das nicht.
Nimm an, dass heute ein Motztag ist.
Das heißt nicht, dass es morgen wieder so ist, das heißt noch nicht einmal, dass der ganze Tag so verläuft.
Es gibt keine schlechten Tage, es gibt schlechte Momente.
Es kann in zehn Minuten wieder anders sein oder in zwei Tagen, es wird wieder anders sein und es ist total ok, dass es gerade so ist.
Motztage, Konflikte, Streit und unangenehme Gefühle gehören auch zu friedvoller Elternschaft.
1. Körperliche Bewegung
Es ist der go to move, wenn du gerade gefangen bist in Schleifen, wenn du denkst: „Boah ej, warum kann denn mein Kind nicht einmal fünf Minuten aaaaaah!!“ Beweg dich! Beweg dich unperfekt, du brauchst nicht drei Stunden Marathon laufen. Es ist alles super, wenn du fünf Hampelmänner oder drei Yogaübungen machst, wenn du dein Kind Huckepack nimmst und einmal den Flur rauf und runter rennst.
Fang an, dich zu bewegen!
Deine Emotionen sind im Körper, sie sind körperliche Reaktionen. Sie sind in deinem Körper gespeichert, dein Körper drückt die Emotionen aus und wenn du mit Emotionen umgehen willst, dann müssen sie sich in irgendeiner Form ausdrücken dürfen. Sich körperlich zu bewegen, ist einer der einfachsten Zugänge, diese Energie irgendwohin zu bringen. Gerade wenn du merkst, da ist Anspannung, ich balle die Fäuste, ich kneife die Lippen zusammen, ich beiß mir auf die Zähne. Bewegung!
Das kann ganz unterschiedlich aussehen, vielleicht fängst du bei lauter Musik sofort an zu wippen und kriegst Lust, zu tanzen. Vielleicht ist ein Boxsack passend für dich. Es kann sein, dass du Homeworkouts liebst, bei denen du nach zehn Minuten schnaufend auf der Seite liegst – zumindest dann, wenn du so unfit bist, wie ich. Oder du bist ein Yogamensch. Alles ist gut!
Es geht darum, dass du deinen Körper mit ins Boot nimmst. Dein Kopf ist laut und produziert die ganze Zeit frustrierende Gedanken, das ist ok, das darf er weiter machen, aber nimm deinen Körper mit. Was löst das in deinem Körper aus? Lass die Emotionen durch deinen Körper gehen – dazu gleich mehr – anstatt die Anspannung in deinem Körper zu halten.
2. Mach kleine Schritte in Sachen Selbstfürsorge.
Wir reden beim Kompass ganz viel über kleine Schritte. Wir glauben nicht daran – und alle unsere Erfahrungen aus den letzten fünf Jahren zeigt uns, dass wir Recht haben damit – dass du von heute auf morgen alles grundsätzlich verändern kannst: All deine Gedanken, deine Prägungen, deine Idee darüber, wie Kinder zu sein haben, deine Ängste. Wie von Zauberhand ist all das weg und du bist super friedvoll. Diese Idee ist hochtoxisch und verhindert, dass du deinen eigenen Weg gehst. Dein Weg besteht aus ganz vielen, kleinen Schritten. Ab und zu mal gibts ein paar Schritte zurück und dann geht es irgendwo anders lang, danach gibt es einen kleinen Umweg. Es gibt nicht die eine, richtige Art.
Vielleicht erwischst du dich an solchen Motztagen dabei, dass du Gedanken hast wie: „Oah, ich müsste jetzt eigentlich total geduldig sein. Ich müsste jetzt eigentlich ne heiße Wanne nehmen. Ich müsste jetzt eigentlich den Haushalt machen…“ Dieses müsste, hätte und sollte sind wichtige Indikatoren dafür, dass du in deinem Kopf ein Bild etabliert hast, das zu weit weg ist von dir.
Und das gilt auch für Selbstfürsorgestrategien.
Es kann sein, dass du gerade das heiße Bad nicht nehmen kannst, weil dein Baby schreit, wenn du eine Stunde nicht erreichbar bist und außerdem dein Kleinkind nicht von deiner Seite weicht.
Es kann sein, dass du Ideen in deinem Kopf hast, was du eigentlich brauchst. Typisch wäre so etwas wie: „Einmal ne Stunde Ruhe!“ oder „Endlich mal Zeit für mich allein!“. Brich das runter auf einen minikleinen Schritt. Nimm dir Noisecanceling-Kopfhörer und setz sie dir auf. Ist das perfekt? Nein. Ist das ein reeller Schritt, den du machen kannst? Yes!
Hast du den Eindruck, du musst mehr frische Luft schnappen? Mach das Fenster auf!
All diese kleinen Schritte, alles, was du tust, wird unperfekt sein, aber es ist das, was du tun kannst.
Kleine, machbare Schritte trumpfen alle 20 perfekten Schritte in deiner Fantasie. Denn während du überlegst, was perfekt sein könnte, motzt du weiter.
Es geht oft nicht darum, dass du deinen Wunsch komplett umsetzst, es geht vielmehr darum, dich ernst zu nehmen: „Ok. So wie ich es eigentlich brauche, geht es gerade nicht, aber ich bemüh mich. Ich bin das wert! Ich kratz das Geld zusammen und bestelle Essen, anstatt mich in die Küche zu stellen. Ich schau doch noch mal nach, ob ich meinen Lieblingsschal irgendwo finde wickel mich in ihn ein. Ich nehme mir die Zeit und die Energie. Ich lege die Konzentration auf mich“
Das ist viel wichtiger, als tatsächlich an der frischen Luft oder in der Badewanne gewesen zu sein. Es geht darum, sich selbst diesen Raum zu nehmen und das geht am besten, indem du kleine, machbare Schritte gehst.
3. Lass deine Gefühle zu.
Ich höre deinen Aufschrei: „Warte mal, was sagst du gerade? An einem Motztag sollte ich auf gar keinen Fall meine Gefühle zulassen, weil dann motz ich doch die ganze Zeit.“
Gefühle zulassen, bedeutet aufzuhören, gegen sie zu kämpfen.
Das bedeutet nicht, dass du allen Leuten deine fiesen Gedanken an den Kopf wirfst. Das sind zwei völlig unterschiedliche Dinge.
Wenn du irgendwie kannst, nimm dir den Raum, deine Gefühle durchzufühlen. Und durchfühlen bedeutet, aufhören zu reden und anfangen zu fühlen.
- Was passiert da in meinem Körper?
- Wie fühlt sich das an?
- Kann ich das benennen?
- Bin ich traurig, angespannt, ärgerlich, unzufrieden, hilflos?
- Was ist die richtige Bezeichnung dafür?
Und dann – das ist die große Herausforderung – mit dem Gefühl sein ohne es zu verändern, ohne es wegzumachen und ohne danach zu handeln, was dein Kopf dir erzäht. Und der erzählt dir schräge Sachen, sei dir sicher. Lass dich von seinem „Guck mal, wie schlecht es mir geht, das Kind muss heute aber echt mal früh ins Bett!“ nicht beirren, sondern fühle nur. Ohne Lösung.
Gefühle sind wie kleine Wellen, die durch deinen Körper gehen. Die brechen irgendwann und dann werden sie wieder ruhiger, sie können nicht unendlich weiter rollen.
Nimm dir den Raum, sie zu fühlen, nur fühlen, benennen, für dich da sein. Ohne danach zu handeln.
Das ist eine Frage der Übung. Es kann sich erstmal super unangenehm anfühlen, aber glaub mir, es lohnt sich.
4. Umlenken
An Motztagen sind unsere Bedürfnisse nicht gut erfüllt und wir neigen dazu, alte Muster zu wiederholen, weil wir einfach keine Energie für das Neue haben. Was ich dir empfehlen mag, ist ein realistisches Umlenken.
Das heißt, du versuchst die Energie, dein Kind anzumotzen, die gerade ganz stark in dir brodelt, auf das nächstliegende Kissen umzulenken und dann motzt du das Kissen an. Oder du lenkst die Kraft, die du gerade in deinen Händen fühlst, mit der du dein Kind am liebsten packen und vorwärts schleifen willst, damit ihr ENDLICH nach Hause kommt, auf das nächststehende Objekt um und packst es richtig fest (ein Stressball wäre dafür super, aber den hast du vermutlich nicht da, wenn du ihn gerade brauchst).
Umlenken ist eine Form dieser unperfekten Schritten, die ich sehr empfehle. Ich sage natürlich nicht, schrei einfach immer Kissen an, wenn du frustriert bist. Es geht darum, dass du deine Impulse nimmst, auch die peinlichen, auch die, von denen du denkst „Oh Gott, ich bin der schlechteste Elternteil aller Zeiten, dass ich sowas machen möchte!“ und sie ein Stück umlenkst.
Gib deinen Impulsen Raum, aber so weit wie möglich entfernt von deinen Lieben.
Das kann eine sehr effektive Strategie sein. Und es ist wieder ein Fall von: Ein realer, unperfekter Schritt ist besser als Perfektion in deinem Kopf.
5. Biete aktiv Verbindung an
An Motztagen rutschen wir leicht in Schuldspiralen. Wir meckern unser Kind an, Kind ist traurig, wir sind traurig, alles ist irgendwie doof und dann machen sich Schuld und Scham breit: „Oh nein, jetzt muss ich mich entschuldigen, was ist bloß los mit mir?“ Damit belaste ich mich noch mehr, was mir noch mehr Ressourcen entzieht, sodass ich beim nächsten Problem gleich wieder explodiere.
Um da rauszukommen, kann es helfen dann Verbindung anzubieten, wenn du den Eindruck hast, jetzt gerade geht es mir halbwegs ok. In Verbindung gehen heißt nicht, drei Stunden Monopoly spielen, das kann vielmehr bedeuten:
- Ins Gesicht schauen und gucken, was ist bei meinem Kind los? Was seh ich da in dem kleinen Gesichtchen?
- In den Arm nehmen oder den Rücken oä streicheln.
- Das Lieblingssandwich belegen oder einen Obstteller vorbeibringen, obwohl das Kind nicht danach gefragt hat.
- Aufs Sofa kuscheln und fünf Minuten der Lieblingsserie mitgucken.
- Ein kurzes Brett- oder Kartenspiel spielen.
Verbindung anbieten, wenn ich es gerade kann, ist so viel hilfreicher, als mich, wenn ich es gerade nicht kann, zusätzlich damit zu belasten, dass ich ja eigentlich ganz anders sein sollte. Und da sind wir wieder bei unserem recurring theme.
Biete das an, was du kannst, mache kleine Schritte und vergiss nicht, es ist nur dieser Moment, es ist nur diese Stunde, es ist nur dieser Tag, es ist nur diese Woche.
Der Motztag definiert nicht euer Leben.
Es ist total ok, es ist total normal! Mach den nächsten unperfekten Schritt.
Danke liebe Ruth! Genau heute haben wir so einen Motztag und da helfen die Ratschläge enorm weiter. auch wenn ich es schon alles gefühlte tausend Mal gelesen habe, lese ich doch jedes Mal noch einen Tipp für mich heraus, der gerade passt. Vielen vielen Dank für deine tolle Arbeit!
Liebe Cindy,
das ist ja echt oft einfach so – wir brauchen nochmal die gleiche Idee auf eine andere Art und Weise gelesen oder gesprochen und dann sickert sie ein. Das kenn ich auch gut!
– Ruth
Hallo liebe Ruth, das ist sowas von gutes und hilfreiches Input für mich. Ich kann mich nicht oft genug daran erinnern, mal die Perspektive zu wechseln oder aus den gewohnten Denk und Verhaltensmustern auszusteigen. Diese Tipps sind der Hammer. so auf den Punkt und präzise formuliert! Annehmen, wahrnehmen, spüren, in den Körper gehen, bei mir sein, beim Kind sein. Und immer wieder neu die Herausforderung annehmen. Mir fällt es immer noch schwer und ich darf immer noch üben und wissen, dass ich viele Mitüber habe. 😀
Die hast du, die Mitüber!
– Ruth
Liebe Ruth, ein ganz großartiger Beitrag! Ganz lieben Dank dafür. Er hilft mir von meinen hohen Ansprüchen an mich selbst runter zu kommen und eröffnet mir nochmal ganz neue Wege und Ansichten.
Liebe Annemarie, das ist so schön zu lesen! Genau das ist der Plan.
– Ruth