Hier die Hörversion:

 

Wenn ich über Nichterziehung spreche, kommt von Leuten, die Erziehung befürworten, immer wieder dieser Einwand:

„Aber du lebst deinen Kindern ja sowieso die ganze Zeit alles vor.“

Das ist natürlich eine sehr simple Feststellung. Wir alle wissen, vor allem, wenn wir – so wie ich momentan wieder – in therapeutischer Begleitung sind, dass wir ständig den Scheiß wiederholen, den wir aus unserer Kindheit kennen.

Also ja, wir leben unseren Kindern etwas vor, wir zeigen ihnen, wie wir Liebe sicht- und fühlbar machen. Auch dann, wenn wir das nicht besonders gut können. Auch dann, wenn unsere Liebe sich als Gewalt ausdrückt. Unsere Kinder werden es als Liebe übersetzen und so übernehmen.

Wir zeigen ihnen, wie wir über Gefühle sprechen und mit ihnen umgehen, wie wir uns in Geschlechterrollen verhalten, wie wir mit Geld umgehen. Und wir zeigen ihnen vor allem, wie wir über diese Welt denken. Was für ein Ort diese Welt ist, wovor eins Angst haben sollte, worauf eins sich freuen sollte. Wir zeigen ihnen all das. Ja. Das ist richtig.

Und gleichzeitig tun wir das mit allen anderen Menschen auch.

Vorleben und erziehen sind sehr unterschiedliche Dinge.

Erziehen hat immer eine Intention, diese Idee, ich leb das vor, damit mein Kind etwas daraus lernt.

Das ist kein Vorleben, das ist das Vortanzen.

Oft kommt es dann zu ganz schrägem Verhalten von Eltern: Zum Beispiel ernähren sie sich tagsüber super gesund und abends – kaum liegt das Kind im Bett – verdrücken sie Schokoladenberge.

Das Ungesagte

Ich glaube, dass da ein ganz wichtiger Teil vergessen wird, nämlich der Einfluss, den das Ungesagte auf alle Menschen, nicht nur auf junge, hat. All das, worüber wir nicht sprechen, wofür wir keinen Ausdruck haben, dem wir ausweichen. Die kleinen Lügen, die wir erzählen, von denen wir denken, unsere Kinder verstünden sie eh nicht, der Seufzer, den wir ausstoßen, wenn Arbeit ansteht. Was sagt das über Arbeit? All die Dinge, die in unseren Gehirnen unbewusst abgespeichert sind und über die wir gar nicht groß nachdenken, zB dass Geld schlecht und Schule ein furchtbarer Ort ist oder dass Menschen nicht vertrauenswürdig sind…

Auf eine konkrete Frage hin würden wir anders antworten, aber unbewusst drücken sich unsere Annahmen von Welt in lauter kleinen Handlungen aus.

Das kann sehr verwirrend sein, wenn du versuchst, etwas vorzuleben, was du nicht wirklich glaubst oder nicht schaffst, umzusetzen, wie zB gesunde Ernährung. Wenn du so tust, als seist du Schule gegenüber super aufgeschlossen, obwohl du im Grunde deines Herzens denkst, Schule sei ein schrecklicher Ort, weil du dort schlimme Erfahrungen gemacht hast. Wenn du versuchst, Sport zu machen, obwohl der dich quält oder regelmäßig raus zu gehen, weil du glaubst, das würde von dir erwartet als guter Elternteil, aber nicht weil du es gerne machst.

Deine Vorbildfunktion ist viel mehr als das Vortanzen von dem, was dein Kind mal nachmachen soll.

Weder Vorbild sein, noch Vortanzen funktionieren.

Hinzukommt, dass dein Kind nicht automatisch übernehmen wird, was du vorlebst oder vortanzst.

Meine Eltern hatten Glaubenssätze und Ideen, die sie meinen Geschwistern und mir vorgelebt haben, mit denen ich nix am Hut hatte und habe. Manche Dinge haben nur meine Geschwister übernommen, andere nur ich. Ich habe an manche als Kind oder Jugendliche geglaubt, jetzt aber nicht mehr. Das ist ja das schöne an der Pubertät, in der junge Menschen anfangen, zu hinterfragen.

Meine Mutter fand es zB ganz, ganz schön, das Haus jahreszeitlich zu schmücken, hat gerne gebacken, gebastelt, sie wäre die perfekte Pinterest-Mama gewesen. Ich nicht! Obwohl sie mir das vorgelebt hat, war mir schnell klar, dass es für mich nicht passt. Mehr als ein schlechtes Gewissen, weil ich dachte, genau so müsse eine Mutter sein, hab ich da nicht mitgenommen. Aber das ist nochmal eine ganz eigene Geschichte.

Das heißt, so einfach ist das nun auch wieder nicht mit dem Vorleben und so linear ist es auch nicht.

„Spiele ich etwas vor oder bin das wirklich ich?“

Das ist die Frage, die du dir stellen darfst, wenn du dich fragst, was du vorlebst.

Spätestens wenn wir enttäuscht sind, dass unsere Kinder nicht nachmachen, was wir vortanzen, wissen wir, dass es nicht echt war. Dass wir es nicht getan haben, weil wir es wollten, weil es uns gut tut, sondern um unsere Kinder zu manipulieren. Lasst uns ehrlich sein!

Ich seh das auch manchmal im Umgang mit Geschlechterrollen. Da glauben Mütter, es sei total wichtig, arbeiten zu gehen, damit ihre Kinder lernen, dass Frauen auch Geld verdienen können. Versteh mich nicht falsch, wenn du gerne gegen Geld arbeiten möchtest, mach das, finanzielle Unabhängigkeit von Frauen finde ich super! Aber wenn du das nur machst, damit dein Kind irgendetwas sieht, was du nicht bist, bringst du deinem Kind vor allem bei, dass es nicht wichtig ist, wer du wirklich bist. Und dass du als Frau bestimmte Dinge zu tun oder zu lassen hast, was ziemlich das Gegenteil von dem ist, was du eigentlich vermitteln wolltest.

Was wir alle mehr vorleben dürfen, ist, mehr wir selbst zu sein. Ganz wir selber. Diejenigen, die gern Schokolade essen oder kein Bock auf basteln haben. Diejenigen, die im Lockdown sitzen und nicht wissen, wie es weitergeht, oder die mit der Panikstörung, die seit Jahren in Therapie sind. Wenn wir da ganz ehrlich werden und sagen: „Ja, das bin ich! Klar wäre es nett, wenn ich perfekt wäre, aber ich bin eben so, wie ich bin!“, dann können wir unseren Kindern was ganz, ganz tolles vorleben und ihnen zeigen, wie wir uns selber annehmen und uns selbst kleine Brücken bauen, um mehr so zu werden, wie wir gerne noch sein wollen.

Ich stelle es mir schön vor, Eltern um mich zu haben, die echt sind. Was natürlich nicht heißt, dass dein Kind das automatisch übernehmen wird und was auch nicht heißt, dass du das immer machen musst, um bloß stets das richtige vorzuleben.

Ich glaube, echtes Elternsein und friedvolles Elternsein sind ein sehr gutes Vorbild, aber eben keine Garantie.

Für gar nichts. In dem Moment, in dem wir eine scheinbare Garantie wollen, müssen wir zu Erziehungsmethoden greifen. Und auch die halten nur ein paar Jahre an. Solange wir das Kind ordentlich unter Druck setzen können, haben wir das Gefühl, ihm etwas beigebracht zu haben, langfristig haben wir ihm aber die Freude an gesundem Essen oder Sport oder echter Selbstfürsorge verdorben.

Also ja, wir sind Vorbilder, natürlich, unsere Ideen über die Welt werden sich tief in unsere Kinder einpflanzen und ja, wir haben unendlich viel Macht. Und nein, das ist kein Grund besonders perfekt zu sein, das ist ein Grund, mehr von dem zu zeigen, wer wir wirklich sind und Kindern zu zeigen, dass Menschen unperfekt sind, dass Menschen Fehler machen und das Menschen sich Hilfe holen. Dass Menschen die ausgestreckte Hand annehmen und sagen:

„Ok, ich versuchs nochmal anders, ich geb mein Bestes.“

Ich glaube, das ist das allerbeste Vorbild, das wir sein können.