Du willst Ruth hören? Hier entlang:

 

„Maaaaaama! Ich wünsch mir eine Barbie!“

„Näh!! So ein Frauenbild will ich dir nicht vermitteln, auf keinen Fall kriegst du eine Barbie!“

Hm, war das okay gerade?

Wann kannst, sollst oder darfst du Macht anwenden und woran erkennst du das?

Was ist Macht?

Es schwirrt immer wieder die Idee umher, Macht sei etwas Schlechtes: Wer an der Macht ist, ist böse. Mächtige Menschen haben ihre Macht unrechtmäßig genommen. Es heißt auch, jemensch habe Macht oder solle sie abgeben. Das stimmt so aber nicht.

In der Soziologie wird das anders erklärt:

Macht ist ein Instrument, um Kommunikation zwischen Menschen effektiver zu machen.

Zum Beispiel hast du beschlossen, zu lesen, was hier steht. Ich habe dich nicht dazu gezwungen du möchtest meinen Artikel lesen. Und damit verleihst du mir Macht. Du hast diese Entscheidung aus unterschiedlichen Gründen getroffen, die alle mit Macht zu tun haben. Vielleicht schreibst du mir Expertise zu oder bist neugierig und willst dich von mir unterhalten lassen. Oder du sammelst gerade Fakten und brauchst Infos. Oder du liest das erste Mal etwas von mir und in dir ist ein Mix aus Emotionen.

Da zeigt sich auch schon, wie sich Macht aufbaut.

Dass du mir zuhörst, mir glaubst und von da aus weitergehst, muss ich mir verdienen.

Das ist dann die sogenannte Autorität.

Die erlange ich durch Wiederholungen, dadurch, dass du meine Quellen checkst und auch, weil andere Personen mir bereits Macht zugesprochen haben und sagen „Guck mal DerKompass, die Ruth, die macht ganz coole Sachen.“. Irgendwann hast du dann das Gefühl, du könnest mir vertrauen.

Macht und Vertrauen

Vertrauen und Macht sind extrem eng miteinander verknüpft und bewirken, dass wir unsere Kommunikation massiv vereinfachen können. Denn sonst müsste ich am Anfang jeden Artikels erstmal aufzählen, warum du mir vertrauen kannst und warum es wichtig ist, mir zuzuhören. Unsere interpersonale Beziehung ist also durch Macht effizienter strukturiert.

Wenn du in eine Schule gehst, zu einem Workshop oder Seminar und etwas lernen möchtest, machst du das, weil du einer Person Macht zusprichst. Dieser Zusprechungsprozess ist es, der Macht ausmacht: Ich habe Macht nicht, weil ich sie mir genommen habe, sondern weil sie in einer interpersonalen Beziehung entsteht. Sie entsteht zwischen uns, nicht durch die eine oder den anderen.

Wenn du mich und das, was ich schreibe, blöd findest, liest du einfach nicht mehr weiter und ich kann dich nicht mehr erreichen. Und wenn ich aufhöre, zu schreiben, kannst du mir noch so viel Macht zusprechen, unsere Beziehung ist trotzdem vorbei. Selbst wir beide müssen uns auf ein Verhältnis zueinander einigen, um miteinander kommunizieren zu können.

Arten von Macht

Es gibt viele Arten und Weisen, Machtverhältnisse zu etablieren:

  • Autorität: Expertise und Wissen (siehe oben), eine Form von Macht, die Kinder komplett anerkennen, was sich darin zeigt, dass sie uns ständig Dinge fragen. Ihnen ist klar, dass dieses offensichtliche Machtgefälle besteht.
  • Physische Macht ist das, was wir klassisch unter Macht verstehen, eine Person ist der anderen körperlich überlegen.
  • Psychische Macht spielt besonders in Eltern-Kind-Beziehungen eine riesige Rolle.
  • Ökonomische Macht und
  • verschiedene Formen der strukturellen Macht, die Diskriminierungen einschließen, zB Rassismus oder Sexismus.

Mir geht es besonders um Machtakkumulationen, also verschiedene Arten von Macht, die sich in einer Person finden und so sehr viel Macht ergeben. Wenn ich ein weißer Mann bin wird mir zB mehr Macht zugesprochen in dieser Gesellschaft, dh ich habe ein gewisses Kapital ohne irgendwas dafür getan zu haben.

Macht in Eltern-Kind-Beziehungen

In Eltern-Kind-Beziehungen herrschen enorme Machtverhältnisse, da sich in uns Eltern mehrere Formen von Macht vereinen und unsere Kinder sich nicht abgrenzen können, sie sind vollständig von uns abhängig. Derart krasse Machtstrukturen finden sich sonst nirgens, noch nicht einmal in Gefängnissen, Klöstern oder Sekten.

Wenn du dein junges Kind allein lässt, ist es tot (physische Macht). Wenn du deinem Kind regelmäßig sagst, es sei faul, kann es das sein Leben lang verfolgen (psychische Macht) – kennst du sicher auch, dass du dich erst als Erwachsene aus den Urteilen, die deine Eltern oder wichtige Bezugspersonen über dich hatten, rausarbeitest. Wenn du deinem Kind keine Weintrauben kaufst, weil die gerade aus Ägypten kommen und somit eine üble Ökobilanz mitbringen, hat es Pecht, es wird dann keine Trauben bekommen (ökonomische Macht). Hinzu kommt, dass Kinder in einer adultistischen Gesellschaft als weniger wertvoll gelten und das, was Eltern machen, grundsätzlich erstmal als gerechtfertigt.

Außerdem haben junge Menschen in diesem Kontext noch nicht einmal die geistige Macht, ihre Gedanken sind nicht frei. Sie müssen alles für richtig halten, was ihre engsten Bezugspersonen mit ihnen tun. Das ist psychologisch total sinnvoll ist, weil dieser Mechanismus sie davor schützt, völlig wahnsinnig zu werden, denn sie sind ja ausgeliefert, sie können nicht weggehen, sie können sich nicht abgrenzen.

Diese extremen Machtverhältnisse zwischen Eltern und Kindern zu reflektieren und anzuerkennen ist gar nicht so einfach und vielleicht geht es dir auch so, dass du denkst:

„Ist es nicht auch mal sinnvoll, meine Macht anzuwenden? Mein Kind kann ja noch nicht alles verstehen.“

Mit deiner Macht umzugehen, ist dein Job, wenn du dein Kind friedvoll begleiten willst.

Reflektiere deine Macht:

  • Wie gehe ich mit meiner Macht gerade um?
  • Möchte ich das so?
  • Ist das konstruktiv?
  • Kann ich mir später noch in die Augen gucken?

Die Frage ist also nicht, wie du auf deine Macht verzichten kannst, das ist das größte Missverständnis, was ich in der bedürfnisorientierten, unerzogenen Elternschaft sehe. Du wirst deine Macht nie los! Vergiss es!

Dein Job ist es, deine Macht anzuerkennen und sie nicht zu missbrauchen.

Wann ist es Machtmissbrauch?

Die Antwort ist individuell.

Genau wie bei der Frage nach Gewalt. Wir alle wissen, Gewalt ist irgendwie blöd, sollte eins nicht ausüben. Und doch haben wir moralisch und rechtlich klar definierte Bereiche, in denen Gewalt ok ist. Zum Beispiel wenn eine Person völlig außer sich ist und sich und/oder andere verletzen könnte, dann geht Gewalt klar. Für Soldat*innen ist es Teil ihrer Berufsethik, dass Gewalt ok ist. Da lässt sich natürlich drüber streiten – aber es ist unser moralischer Code.

Unter Erwachsenen besteht ein recht gutes Gefühl dafür, wann Gewalt angebracht ist und es werden gesamtgesellschaftliche Debatten darüber geführt. Wenn ich mich zB gegen strukturelle Gewalt wehre, ist es dann ok, wenn ich im Rahmen von Protesten Sachen kaputt mache, was Gewalt gegenüber Individuen ist?

Nur weil das Ideal ist, Gewalt nicht anzuwenden, gibt es trotzdem eine Menge Situationen, in denen Gewalt nicht nur in Kauf genommen wird, sondern erwünscht ist und gebraucht wird. Dieses Verständnis sollten wir auch von Machtsituationen in Eltern-Kind-Beziehungen haben.

Wann ist es angemessen, Gewalt anzuwenden?

Der eine Fall ist sicherlich die sogenannte „schützende Gewalt“, also der Machtgebrauch, um das Kind zu schützen. Das ist aber gleichzeitig der am meisten missbrauchte Fall meines Erachtens. Die Idee, Kinder könnten geschützt werden, indem wir ihnen beibringen, jetzt etwas zu tun, um später nicht gemobbt zu werden, nicht überfahren zu werden oder ein glückliches Leben zu führen. Trainingssituationen sind keine ausreichende Grundlage für Machtgebrauch, weil sie noch nicht einmal eine Rechtfertigung im Ergebnis finden.

Die Straße ist da ein schönes Beispiel. Es ist deine Verantwortung, dein Kind sicher durch den Straßenverkehr zu begleiten, es selbst kann die noch gar nicht tragen. Dh wenn du jetzt dein kleines Kind erniedrigst oder anschreist, weil es auf die Straße gerannt ist, in der Hoffnung, dass es das später nicht mehr macht, ist das noch nicht einmal sinnvoller Machtgebrauch. Das Anschreien wird deinem Kind höchstens beibringen, dass es Angst vor dir haben sollte. Der Schaden eurer Beziehung wird also vermutlich sehr viel höher sein, als der von dir erwünschte Lerneffekt. Und: Das Kind ist nicht verantwortlich dafür, nicht auf die Strasse zu gehen – du bist es.

Die Fragen zur schützenden Gewalt sind also: Ist das wirklich schützend? Und: Wen schützt es?

Sei ganz ehrlich! Ist es vielleicht für dich schützend, weil dir das Verhalten deines Kindes peinlich ist und du willst, dass es aufhört? Ist es vielleicht schützend für die Gefühle des Großonkels, der gerne das Bussi haben möchte vom Kind? Wen schützt du hier? Und wovor?

Die Fragen sind nicht immer einfach zu beantworten und natürlich entscheidest du dich auch mal falsch! Aber sie bringen dir mehr Klarheit, wie du deiner Verantwortung gerecht werden kannst. Und von da aus kannst du vor allem sinnvolle Lösungen finden.

Mediennutzung wurde neulich wieder groß diskutiert. Auch ein schönes Beispiel: Wie ist das mit dem freien Medienzugang bei Kindern, die das nicht gut regulieren können? Und da haben wir all diese Fragen zu stellen, und zwar uns selbst:

Wen schützt du? Braucht dein Kind Schutz? Oder willst du dich schützen? Hast du vielleicht ein Bild vor Augen? Was sollen die Nachbar*innen denken? Glaubst du, dein Kind würde drogenabhängig? Hast du zweifelhafte Studien im Kopf? Oder hast du die Idee, mit deinem Kind funktioniere freier Medienkonsum einfach nicht?

Und vielleicht entscheidest du: Ja, ich will hier auf jeden Fall regulieren. Ich habe gute Gründe. Für mein Kind und mich ist das sinnvoll. Alles klar. Nun wird es interessant.

Wenn du dich entschieden hast, deine Macht zu nutzen, stellt sich die nächste Frage:

Wie wendest du deine Macht an?

Wendest du deine psychologische Macht beschämend an? Abwertend? Oder wendest du sie inspirierend und klar an? Sagst du deinem Kind: „Komm ma jetzt da wech, davon wirst du fett und blöd!“ Oder sagst du: „Hast du Bock, dass wir was anderes machen? Ich mach mir da gerade etwas Sorgen um dich.“ Es geht, wie immer um deine Haltung. Bist du an der Seite deines Kindes – oder hast du es zum Feind erklärt?

Und wie weit bist du bereit zu gehen mit Hilfe deiner Macht? Was ist, wenn dein Kind nein sagt?

Die nächste Frage ist, was passiert, wenn dein Kind nicht okay damit ist, wenn du den Fernseher ausmachen und Bastelübungen starten willst. Deine Bereitschaft, Macht anzuwenden, wird also auf die Probe gestellt.

Vielleicht gibt es Kinder, denen es nicht gut tut, längere Zeit am Bildschirm zu sein und die Unterstützung brauchen beim Übergang zu anderen Tätigkeiten, sogenannte Co-Regulation. Wenn du dann in Regeln und Grenzen und „mit diesem Kind geht es nicht“ denkst, dann bist du in starren Verhaltensmustern. Du stellst dir dann in der Situation nicht mehr die Frage:

Ist es das wert, meine Macht jetzt zu nutzen?

Denn das macht die Frage zwischen Machtge– und Machtmissbrauch aus:

Wie setze ich meine Macht ein und habe ich sorgfältig abgewägt?

Nichterziehendes Miteinander bedeutet meines Erachtens, dass ich grundsätzlich kein Recht darauf habe, in die Selbstbestimmung einer anderen Person einzugreifen, ganz genauso wie es zwischen Erwachsenen ist, außer ich sehe, dass Hilfe gebraucht wird. Auch ich kann Hilfe brauchen. Und auch wenn Hilfe benötigt wird, ist das Handeln der helfenden Person nicht völlig klar und immer gleich. Es ist vielmehr eine Frage der Eskalationsstufe.

  • Wie wichtig ist es gerade?
  • Kann ich etwas anderes anbieten?
  • Finden wir eine Lösung dazwischen?

Passe deinen Machtgebrauch an die Situation an, statt ihn als generelle Regel zu definieren.

Das ist meine Defintion von Machtmissbrauch sowohl zwischen Eltern und Kindern, als auch zwischen Erwachsenen. Wenn ich festlegen würde, mein Mann müsse mir jeden Abend Tee vorbeibringen, das sei die Regel und er müsse das eben mal lernen, wäre das objektivierend und abwertend ihm gegenüber. Wenn ich aber mit ihm eine entsprechende Verhandlung führen und erklären würde, wie wichtig mir dieser Tee ist, wäre es situativ und könnte zu einem angemessenem Ergebnis führen. Der Unterschied in dieser Situation ist, dass mein Mann und ich in einem ganz anderen Machtverhältnis zueinander leben, als meine Kinder und ich.

Unsere Macht ist etwas, das wir dosiert und mit Gefühl einsetzen sollten, immer mit folgenden Fragen im Hinterkopf:

Für wen tue ich das? Wen schütze ich? Wie schütze ich? Ist es das wert?

Das war jetzt ein sehr theoretischer Ausflug, aber manchmal hilft es ja, sich Dinge aus der Vogelperspektive anzuschauen.

Schreib gerne in die Kommentare, wie es dir mit dem Input geht!