Adultismus.
Das Phänomen hat einen Namen. Einer dieser -ismen, die so nerven. Wie Feminismus. Alle wissen er hat Recht, nerven tut er trotzdem. Oder gerade deswegen.
Adultismus ist die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihres Alters.
Machst du nicht?
Ich wette doch.
Wenn du neue Menschen kennen lernst, begrüßt du dann auch die Kleinen? Wenn ein junger Mensch öffentlich weint, fragst du ihn dann, ob du helfen kannst? Wenn ein junger Mensch dich um etwas bittet, antwortest du dann höflich?
Also, mir passiert das immer wieder, dass ich es nicht tue. Dass ich junge Menschen nicht sehe. Dass ich denke, sie müssten warten. Oder seien eben nicht dran. Oder es sei ja nicht mein Problem.
Krass.
Als ich aufhörte zu erziehen, wurde eine meiner Fragen: ‚Würde ich das auch mit einem älteren Menschen tun?‘
Und meine Antwort war schockierend oft: Never ever. Einem Erwachsenen gegenüber würde ich nicht sagen „Noch einmal und….“ oder „Jetzt hör auf zu nerven!“. Einem Erwachsenen gegenüber würde ich nicht ständig abwesend nicken, wenn mir etwas erzählt wird und fröhlich ignorieren, worum es geht. Einem Erwachsenen gegenüber würde ich nicht Hilfe verweigern, wenn ich um etwas gebeten würde.
Und vor allem würde ich nicht so oft nein sagen. Und wenn ich es sage, dann sehr viel freundicher.
Adultismus ist ein strukturelles Problem.
Deswegen ist unerzogen, ähnlich dem Feminismus, eine Befreiungsbewegung.
Es geht um die vielen kleinen Gesten. Das Zumschweigenbringen. Die Idee, dass ‚irgendwo aber auch mal eine Grenze‘ sei. Das Mindset. Das Herabblicken. Die Idee von Schutz, die aus irgendeinem Grund nur umsetzbar scheint, wenn wir die Rechte kleiner Menschen verletzen.
Es geht um Schutz. Um Schutz einer diskriminierten Gruppe, die das Problem hat, dass jeder Erwachsene ihr einmal angehörte.
Dass jeder Erwachsene, der heute mit Kindern umgeht, gleichzeitig mit der eigenen Verletzung umgeht.
Das ist schlimm. Und schwer. Und traurig. Aber es darf kein Grund sein, der kommenden Generation wieder systematisch ihre Menschenrechte abzusprechen.
Moment, Moment, sagst du vielleicht. Es geht doch nur um Kleinigkeiten.
Darum, ob ich ständig unterbreche, wenn mein Kind mich fragt. Zum Beispiel.
Wie geht es dir damit? Ich rede viel zu oft weiter. Ich herrsche manchmal meine Kinder an, dass sie warten sollen.
Und wenn ich ehrlich bin – wenn ich meine eigene Verletzung weglasse, die mir (dank der ‚Identifikation mit dem Aggressor‘) einflüstern will, dass es ja auch nötig sei, dass meine Eltern ja auch ein bisschen Recht hatten – dann tue ich das aus einem einfachen Grund: Weil ich es kann. Weil mein Gegenüber ein Kind ist.
Und ich weiß, es muss am Ende tun, was ich sage. Weil es abhängig ist von mir. Ich sage nicht, dass es schweigen soll und reagiere dann auf seinen Widerstand. Ich bedenke nicht, dass es als Kind die kognitiven Fähigkeiten nicht hat und mache mir nicht klar, dass ich Unmögliches verlange, wenn ich sage ‚Warte doch mal EINEN Moment‘. Und verdammt, ich sage das noch viel zu oft.
Ich gehe weiter – denn ich weiß, dass es irgendwann folgen muss. Weil es mich braucht. Als Kompass, als Selbsteinschätzung. Als physische Größe: Als Versorgungshilfe. Als Verständnishilfe.
Nein, das ist nicht die Art wie wir Beziehungen gestalten sollten. Wir sollten Menschen nicht ihre Rechte nehmen, nur weil wir nicht wissen wie man friedlich Konflikte mit jungen Menschen löst oder weil wir wütend werden.
Das ist falsch.
Es ist falsch, weil es die Rechte auf Unversehrtheit bricht. Auch Manipulation tut das. Jedes Lachen über das ach so süße Kind tut das.
Was nicht heißt, dass du nicht unbedingt Fehler machen solltest. Denn nur so kannst du Stück für Stück das eigene erlittene Unrecht aufdecken und endlich aufhören, Rollenspiele mit deinen Kindern zu spielen und anfangen das zu tun, was unsere Kinder von Anfang an tun: Leben und in Beziehung sein. Mit dir und mit deinen Kindern.
Einer der besten Artikel, die ich je gelesen habe. Danke!
Grundsätzlich finde ich den Artikel sehr gut, er weckt die Aufmerksamkeit. Nur: Ich denke,der gedankenlose Umgang betrifft nicht nur die Kinder, sondern leider oft gerade unsere „Liebsten“, neben den Kindern auch Partner, Eltern… Ja, Erwachsene sollten eigentlich unabhängiger sein als die Kinder, und sie können sich entscheiden, zu gehen bzw. sich zu wehren. Die Realität sieht aber häufig ganz anders aus. Und auch an dieser Realität lernen unsere Kinder für ihr zukünftiges Leben. Letztendlich geht es wohl um den Umgang mit sich selber, mit den eigenen Verletzungen und Defiziten. So einfach es klingt, aber wahrscheinlich ist genau das das Schwerste.
Es ist erschreckend, wie sehr mich dein Artikel trifft! Denn leider passiert mir das immer wieder und dabei weiß ich nur zu gut, wie verletzend es ist zu hören „du nervst.“ „geh weg, jetzt nicht…“
Danke für deinen Artikel. Ich werde mir jeden Tag mehr meine Worte überlegen und mir immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass er ein kleiner Mensch ist, der es Wert ist wertschätzend behandelt zu werden.
Hallo,
Es ist nicht so, dass es auf mich nicht auch zuträfe, aber oft entdecke ich bei mir den gegenteiligen Effekt.
Ist mein Sohn wütend, spiegel ich seine Gefühle, höre aktiv zu, ist mein Partner wütend, wehre ich aggressiv ab.
Erzählt mein Sohn etwas, halte ich inne und höre interessiert zu. Erzählt mir mein Partner etwas, sage ich „Hmmm“ und kann hinterher kaum wiedergeben, worum es ging.
Will mein Sohn kuscheln, bin ich für ihn da. Im Bett sowieso. Will mein Partner kuscheln, sage ich „Schatz, jetzt geht es nicht.“ Im Bett sowieso, da bin ich von Kindern belagert.
Ich kenne alle Namen der Kinder aus der Kindergartengruppe und der Nachbarschaft. Die meisten Eltern heißen nur Mama/Papa von Xyz‘ und werden entsprechend nicht mit Namen begrüßt.
Ist das auch Diskriminierung? Was wäre der entsprechende -ismus?
Alles Liebe,
Julia
@Julia:
Zitat: „Ist das auch Diskriminierung? Was wäre der entsprechende -ismus?“
Das müsste doch auch Adultismus sein. Wenn ich das richtig verstehe, meint man damit die Diskriminierung aufgrund jeden Alters.
Also ich kann diese Erfahrung nicht teilen. Was ist das denn für eine Gegend, in der Ruth lebt, wo Kinder derartig missachtet werden? Vielleicht liegt es aber auch daran, mit was für Menschen ich mich umgebe?
Oh, sehr alternativ, sehr gemischt. Viele sehr achtsame Familien. Die Gewalt ist nicht leicht zu sehen, wenn man sie täglich erlebt.
“jetzt hör auf zu nerven!“ “Mach kein Theater!“ „Stell dich nicht an!“ Und wir wundern uns dann, wenn die Kinder und Teenies/Jugendlichen zu Alkohol und /oder Drogen greifen….
Wenn Familien „mein“ Geschäft betreten, habe ich mir nach einer allgemeinen Begrüßung („Hallo“ oder „Guten Tag“) angewöhnt, meine Aufmerksamkeit sodann auf die Kinder zu richten. Meistens mit einem gesonderten „Hallo“. Je nach Reaktion der Kinder ziehe ich mich anschließend zurück und wende mich den Erwachsenen zu oder gehe in den Dialog mit den Sprösslingen. Ich mache das ganz bewusst. Die (V)Erwachsenen – wie meine sechsjährige Nichte früher so treffend zu sagen pflegte – spielen in diesen Situationen zunächst die zweite Geige.
Wenn die Töchter und Söhne offen sind, binde ich sie mit in den Verkaufsprozess ein. Klein(st)kinder kommen selbstverständlich auf den großen Zuschneidetisch und dürfen Taschenrechner und andere Untensilien besabbern und auf den Stoffen herumkriechen. Mir tut es in der Seele weg, wenn sie angeschnallt im Kinderwagen durch den Laden gekarrt werden und warten müssen, bis sie dran sind.
Weil mir das Phänomen des Adultismus bewusst ist (Danke für den Begriff und seine Erklärung. Ich kannte ihn noch nicht.), wende ich ihn insofern gegenüber den Volljährigen an, als das die Minderjährigen bei mir zuerst drankommen. Erst wenn ich ihr Desinteresse mir gegenüber spüre, ziehe ich mich zurück. Alter vor Schönheit gilt in diesem Fall für mich nicht.
Gruß Matti
Die Frage, ob man einem Erwachsenen gegenüber vergleichbar reagieren würde, ist gut und wichtig! Werde ich mir künftig auch öfter stellen.
Aber ein Erwachsener würde mich wahrscheinlich nicht alle paar Minuten bei einer konzentrierten Arbeit unterbrechen, darum finde ich es auch legitim, meinen Kindern ab und zu zu sagen, dass sie mich in Ruhe lassen sollen, wenn ich z.B. über Papierkram brüte. Oder dass ich ein Telefonat erst beenden will, bevor ich ein Lego-Bauwerk betrachten kann. Klar sage ich zu den Kindern Sätze, die ich zu meinen Freunden nie sagen würde, einfach weil die schon gelernt haben, die Grenzen anderer zu respektieren, während meine Kinder erst lernen müssen, dass ich auch mal was anderes machen muss oder will als Lego bauen. Wichtig ist nur, bei der Bitte um Ruhe freundlich zu bleiben – gelingt leider nicht immer, aber ich arbeite dran.
Gute Einstellung. Es geht um Respekt. Werde ich dran arbeiten.
Liebe Ruth,
was für ein wichtiger Artikel, danke dafür! Und für all den Input, den du gibst.
Zu diesem Artikel wollte ich dir schon lange mal schreiben – zu einem kleinen Detail ganz zu Beginn. Da sprichst du über -ismen, die nerven, und schreibst: „Wie Feminismus“. Huch? Denn der nervige -ismus, über den du hier schreibst – analog zum Adultismus – ist doch der Sexismus und nicht seine befreiende Gegenbewegung, der Feminismus (das beschreibst du dann ja weiter unten).
Ich finde wichtig, da sprachlich ganz klar zu sein und nicht populistisch-antifeministischer ‚Argumentation‘ à la ‚Feminist*innen nerven!‘ aufzusitzen.
Was denkst du?
Herzensgrüße im Namen einer intersektionalen Befreiung aller*,
Anna
Hallo! Ja, die ismen nerven und sind extrem wichtig. Ich folge da dieser Argumentation:https://www.youtube.com/watch?v=9Lz7PLG2xOA
Grüße, Ruth