Voilà, hier kannst du dir den Artikel anhören:

 

Warum ist es für Frauen schwerer, friedvolle Eltern zu sein? Das ganze Thema hat viele Ebenen und ich glaube, ich kann das gar nicht vollständig erfassen, weil es nicht nur um strukturelle Gewalt gegen junge Menschen (Adultismus) geht, sondern auch um strukturelle Gewalt gegen weiblich sozialisierte oder gelesenen Menschen (Sexismus). Ich will es dennoch versuchen, weil ich es so wahnsinnig wichtig finde.

95% der Menschen, die sich für den Kompass und friedvolle Elternschaft interessieren, die meine Webside besuchen, die sich meine Videos bei youtube angucken, die mir bei Instagram und Facebook folgen, sind Frauen. Frauen betrifft friedvolle Elternschaft aufgrund ihrer Sozialisation anders.

1. Ebene

Als weiblich sozialisierter Mensch ist es sehr schwer, mit sich selbst, den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen in den Kontakt zu kommen, denn genau das steht unserem seit Kindertagen Gelernten direkt entgegen. Wir haben gelernt, dass Gefühle nur dann ok sind, wenn sie nett und süß und lieb sind. Gerade Wut und Ärger, aber auch Angst, Trauer, Stärke und Empörung sind in der weiblichen Sozialisation nicht gerne gesehen. Männlich sozialisierte Menschen betrifft dieses Thema auch, da ist es so, dass Wut ok ist, während Angst, Trauer, Verunsicherung und Empfindsamkeit als unmännlich verstanden und ihnen normalerweise sehr früh ausgetrieben wird.

Wir weiblich sozialisierten Menschen haben also gelernt, dass aus dem ganzen Fass an Emotionen, die wir haben, nur dieser kleine Teil ok ist. Außerdem haben wir bereits sehr früh verinnerlicht, andere mit unseren Emotionen nicht zu belasten und zu belästigen, das gilt sogar für die positiven Emotionen. Fröhlich sein? Sehr gerne, aber bitte leise. Nicht zu laut lachen, nicht zu doll rumspringen, das ist unangenehm, lass das bleiben, was sollen denn die Nachbar*innen denken? Ich kenn das nur zu gut. Ich diskutiere über manchen Themen sehr gerne und leidenschaftlich, da werde ich auch mal lauter und habe schon als Kind gehört, ich solle mich zurücknehmen und nicht so laut sein.

Wenn du mit deinem Kind liebevoll in den Kontakt kommen willst, von dir als Person zu deinem Kind als Person, musst du oft erst einmal eine lange Reise zurück machen, um herauszufinden, wer du überhaupt bist.

Wer bist du als Person? Welche Person spricht da mit deinem Kind?

Das klingt so banal, aber ist oft 85% des Weges, das Entdecken dessen, wer du unter dem Gedämpften, dem Liebsein, dem Zahmsein, dem Angepassten eigentlich bist. Was sind deine authentischen Bedürfnisse, von denen du weit und systematsich entfernt wurdest?

2. Ebene

Weiblich sozialisierte Menschen sind normalerweise sehr viel angepasster als männlich sozialisierte. Wir haben nicht nur gelernt, unsere Emotionen anzupassen, sondern auch von klein auf für andere da zu sein. Wir übernehmen die Verantwortung für die Emotionen, für die Stimmung, für die Sauberkeit, für das Ambiente, dafür, dass es allen gut geht. Du bist vielleicht auch mit einem weiblichen Vorbild aufgewachsen, das genau das immer wieder vorgelebt hat.

„Wer Mutter wird, stirbt.“

Glennon Doyle

Das ist vielleicht ein bisschen extrem ausgedrückt, aber viele Mütter nehmen sich innerlich so weit zurück, dass sie als Person gar nicht mehr existieren. Gehörst du auch dazu?

Frau sein ist die eine Stufe, Frau und Mutter die nächste. Und genau deswegen müssen Frauen schlechtere Eltern sein, weil sie es nur falsch machen können. Wenn du als weiblich gelesene Person in der Gegend rumläufst und irgendwas mit deinem Kind machst, haben andere Menschen eine Meinung dazu. Und zwar nicht unbedingt eine gut, es gibt teilweise harsche gesellschaftliche Urteile darüber, bekannt als Mütterbashing.

Wenn eine Mutter gern viel arbeitet und ihre Kinder währenddessen betreuen lässt, ist es falsch und die Welt fragt sich, warum sie überhaupt Kinder bekommen hat. Wenn eine Mutter mit ihren Kindern zuhause bleibt, ist es falsch, weil unfeministisch. Wenn sie ein Kind haben will, ist sie faul und schadet ihrem Sprössling, weil sie ihn als Einzelkind aufwachsen lässt. Wenn sie fünf Kinder haben will, opfert sie sich zu sehr auf und hat ein Narzismusproblem. Ihr kennt das alle.

Frau kann es einfach nicht richtig machen.

Wir finden das so nicht gegenüber männlich gelesenen Eltern. Sobald mein Partner in der Öffentlichkeit mit drei Kindern rumläuft, ist er der Größte, egal, was er macht. Und wenn er mal was versemmelt, dann liegt das natürlich nur daran, dass er das ja nicht besser wissen kann. Ein Mann, der zwei Monate Elternzeit nimmt, wird als etwas ganz besonderes gefeiert, und seine Frau möge sich gefälligst glücklich schätzen.

Sexismus macht es uns allen unheimlich schwer, den eigenen, authentischen Stil in der Elternschaft zu finden und ihn zu leben.

Die Gesellschaft ist Vätern gegenüber viel mehr bereit, Fehler und Unsicherheiten im Umgang mit ihren Kindern anzuerkennen. Aber leider ist auch das nur eine Form von Diskriminierung: Männer sind halt ein bisschen unfähig als Eltern, da sie das Elternsein nicht in die Wiege gelegt bekommen haben im Gegensatz zu Frauen. Sie müssen das alles hart erlernen, was Frauen einfach so aus dem Ärmel schütteln, weil es in ihren Genen liegt. Sexismus vom Allerfeinsten.

Warum betrifft das unsere Elternschaft?

Wir werden als Mütter systematisch in unserem Sein unterhöhlt von dieser Gesellschaft. Wir werden nicht unterstützt, wir werden nicht gesehen, wir werden nicht gefeiert, außer vielleicht mal am Muttertag, einem von der Blumenindustrie und den Nazis gehypter Feiertag. Wir werden ständig in tausenden, kleinen Mikroaggression in unsere Rolle als Frau und unsere Rolle als Mutter zurückgedrängt, was eine doppelte Diskriminierungsebene ergibt. In dieser Welt selbstbewusst, authentisch und liebevoll rumzurennen, Fehler zu machen, aufzustehen, es nochmal zu versuchen – eben genau das zu tun, was Menschen so machen – ist ungleich schwerer als Mutter.

Ich sage das, weil ich finde, dass wir im Rahmen der friedvollen Elternschaft zu sehr auf der individuellen Ebene diskutieren. Wie kann ich mich besser zusammenreißen? Wie kann ich eine bessere Mama werden? Wie kann ich mich optimieren? Ich möchte nicht, dass wir den Sexismus internalisieren und uns auch noch selbst sagen, wir seien nicht gut genug und müssten besser, anders, toller werden.

Stattdessen sollten wir sehen, dass die Schwierigkeiten und die Verunsicherung, die wir fühlen, von außen verstärkt wird, dass diese Signale ständig da sind. Das heißt nicht, dass wir nicht mehr verantwortlich sind! Aber es heißt, dass wir uns auch mal ein bisschen in Ruhe lassen dürfen.

Mütter sind deswegen die schlechteren Eltern, weil sie gar keine Chance haben, gute Eltern zu sein.

Irgendjemand kommt immer daher und meint zu wissen, wie es richtiger gemacht wird.

Nehmen wir das nicht an! Scheißen wir drauf! Lasst uns schreckliche Eltern sein, aber wenigstens genau die, die wir nunmal sind. Aus ganzem Herzen. Mit allen Macken.

Wenn es schon die ganze Welt besser weiß, lassen wir uns doch wenigstens gegenseitig in Ruhe.

Erlebst du das ähnlich? Oder vielleicht ganz anders? Schreib mir gern in den Kommentaren.