Wie werden Kinder, die nicht erzogen werden?
Kommen die überhaupt klar in der Gesellschaft?
Und was mach ich bloß, damit mein Kind später glücklich ist?
Ich bin immer etwas besorgt, wenn ich solche Fragen höre, lese oder gestellt bekomme von Leuten, die friedvolle Elternschaft befürworten, denn da schwingt so viel Angst mit. So viel Unsicherheit.
Video? Voilà:
Oft steckt hinter dieser Frage der Wunsch nach Sicherheit. Wenn du schon auf Formen der Kontrolle verzichtest, dann willst du dir jedenfalls sicher sein, dass das Ergebnis stimmt und funktioniert. Irgendwie verständlich. Aber total widersprüchlich.
Das Problem von Erziehung ist ua, dass die*der Erziehende ein festes Bild davon hat, wie das Kind sein oder werden soll. Unabhängig, stark, glücklich, erfolgreich, gebildet, beliebt, gesund, was auch immer.
Einem Menschen ein Ziel aufzudrücken und ihn zu diesem Ziel hinzuführen, ist übergriffig.
Du versuchst bereits, das Verhalten deines Kindes nicht mehr zu kontrollieren, sondern stattdessen auf dich und deine Beziehung zu deinem Kind zu schauen und daraus Lösungen zu entwickeln? Löblich! Aber wenn du weiterhin ein Ziel für dein Kind im Kopf hast, es so werden soll, wie du dir das vorgestellst, ist der Slogan Beziehung-statt-Erziehung einfach nur Geschaller. Du hast dann die Methoden geändert, aber erziehst dein Kind immer noch.
Erziehung aufzugeben, bedeutet den Traum, den du für dein Kind hast, loszulassen.
Für manche Eltern ist das total schwer, die spüren heftigen Widerstand. Gehörst du dazu? Willst du auch unbedingt, dass dein Kind glücklich wird? Dass es ihm mal besser geht, als dir? Dass es später nicht allein ist?
Wenn es dir darum geht, dass Glück deines Kindes zu kontrollieren, dann schau, wie es ihm jetzt geht.
Was macht dein Kind jetzt glücklich?
Ich glaube, das Beharren auf einem Ziel in der Zukunft, richtet sehr viel Schaden an und es nutzt dir viel mehr, zu überlegen, wie du in diesem Moment etwas positives für eure Beziehung tun kannst.
Jetzt und Hier ist das einzige, was du kontrollieren kannst.
Ich empfehle dir, die Frage über die ungewisse Zukunft zur Seite zu legen und dir stattdessen hilfreiche Fragen zu stellen. Zum Beispiel:
- Wie kann ich jetzt beitragen zu unserer Kommunikation?
- Zum Vertrauen?
- Zur Resilienz?
- Wie kann ich jetzt ein besseres Vorbild sein?
- Mehr Verbindung herstellen?
- Meine Liebe fühlbar machen?
Imperfekte Schritte im Jetzt sind so viel besser als imaginäre Ziele.
Es treten viele, viele Faktoren im Leben deines Kindes auf, die du nicht beeinflussen und kontrollieren kannst. Diese Kontroll haben zu wollen, muss dich unglücklich machen. Und das widerum ist ein Garant dafür, dass du jetzt gerade nicht in Verbindung sein kannst, dass du jetzt gerade Bedürfnisse nicht erfüllen kannst.
Aber wie werden denn nun nicht erzogene Kinder?
Unterschiedlich! Wie das halt so ist bei Menschen.
Ich kenne ein paar nicht erzogene Kinder, mit denen hab ich aber natürlich keine Studien oä durchgeführt. Meine Beobachtungen sind also nicht wissenschaftlich.
Was ich bei ihnen beobachtet habe, ist ein starkes Selbstbewusstsein. Und ich finde auffällig, wie sehr sie erwarten, als Mensch ernst genommen zu werden und wie klar sie ihre Bedürfnisse äußern.
Das heißt natürlich nicht, dass das bei allen nicht erzogenen Kindern so ist, dass es eine Garantie ist, dass es bei erzogenen Kindern nicht auch so sein kann (Korrelation und Kausalität). Das ist einfach nur das einzige, worüber ich sagen kann, da habe ich eine Tendenz festgestellt.
Macht ja auch Sinn.
Wer nicht erzogen wird und stattdessen im Moment und über Beziehung und Verbindung miteinander Lösungen findet, lernt die eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen und für sich einzustehen.
So einfach ist das alles aber natürlich nicht: Auch in nicht erziehenden, friedvollen Familien passieren Tragödien und beschissene Sachen, über die sie keine Kontrolle haben, sind Voraussetzungen Mist, gehen Dinge schief, haben Eltern Traumata, müssen Kinder in irgendwelche Institutionen gehen, weil die Eltern einem Job nachgehen oder Ruhe brauchen.
Umstände lassen sich nicht immer auflösen.
Du kennst es bestimmt, dass du das Verhalten eines Kindes beobachtest und dann denkst: „Das ist bestimmt so, weil die Eltern immer dieses und jenes machen.“
Wir sind es gewohnt, allein die Eltern – gern auch nur die Mutter – für das Glück des Kindes verantwortlich zu machen. Ich möchte das hinterfragen. Der Erziehungsstil ist nicht alles, so monokausal lässt sich nicht gut argumentieren. Das heißt nicht, dass du nicht alles daran setzen sollst, dass es deinem Kind jetzt gerade gut geht, dass es zufrieden ist. Aber mal ehrlich:
Du hast nicht versagt, wenn dein Kind unglücklich ist.
Du hast nicht versagt, wenn dein Kind eine schwierige Phase durchlebt. Dein Kind ist ein Mensch und Menschen haben es auch mal schwer. Das gehört zu menschlichen Erfahrungen dazu.
Lasst uns hilfreiche Fragen stellen! Fragen, die dich JETZT ins Handeln bringen.
Danke, ein schöner Artikel. Auch ich kann bestätigen, dass meine Kinder (5, 7) sehr selbstbewusst sind und auffällig vehement für Ihre Bedürfnisse sorgen. Der Große schon mehr mit Worten, der Kleine eher im Verhalten.
Und gleichzeitig habe ich mich auch ertappt gefühlt mit dem völligen Loslassen von Zielen für das Kind. Es ist eine Reise… manche Dinge klappen, manche nicht. Jeden Tag ein Stück besser. Aber es wird wohl immer eine Reise bleiben. Ein laufendes Gestalten und Anpassen. Und ich bin froh drum.
Und: Danke für deinen Blog. Einer der wenigen, der mich über Jahre inspiriert und begleitet. Oft benutze ich dich sogar als „virtuellen Ratgeber“, wenn ich mal keine Antwort auf eine Frage habe. Ich denke mir: Was würde Ruth mir jetzt raten, wenn ich ihr das jetzt erzählen würde. Und meistens erscheint gleich eine Antwort in meinem Kopf. Das Coaching mit dir schwingt sogar nach Jahren noch nach! Danke.
Danke, danke! Das ist so schön zu lesen. Und ja, es ist eine Reise – ich ertappe mich auch ständig bei Kram. Da gilt es, lieb und sanft mit uns zu sein und zu lernen.
Liebe Grüße, Ruth
Danke, danke für diese Gedanken! Die habe ich gerade gebraucht. Mein Kind springt derzeit von einem Gefühlsausbruch in den nächsten und ich denke es liegt an mir. Ich mache etwas falsch, obwohl ich mich so stark reflektiere. Ich muss mehr auf mein Kind eingehen, obwohl wir so viel Zeit zusammen haben. Es fällt mir tatsächlich schwer den Gedanken loszulassen, dass ich gerade nicht versage. Da muss ich noch einen Weg für mich finden.
Das hier wurde mir vor 2 Jahren an den Kopf geknallt, von einer Person, die offenbar großen Schmerz empfand dabei, wie ich mit meinen Kindern umgehe:
„Deine Kinder tun mir super leid. Das werden im schlimmsten Fall mal kleine asoziale Monster die andere Kinder mobben weil du meinst, dass das so o.k. ist weil sie nur ihren Bedürfnissen nachgehen.“
Das kam neulich von der Grundschullehrerin:
„Ein ganz großes Lob an Ihre Kinder: Es klappt hervorragend! Ihre Kinder machen das wirklich super! Ich bin begeistert!
Sicherlich hat auch Ihre Vorleistung in der Erziehung in den ersten Lebensjahren damit zu tun, dass sich die Kinder so gut organisieren können. Und deshalb geht ein gaaaanz großes Lob auch an Sie als Eltern! Und ein Dankeschön, denn das erleichter natürlich den Unterrichtsalltag.“
Wie schön das zu hören, wir begleiten schon lange ohne Erziehung, und dennoch finden sich die Kinder sehr, sehr gut in unserer Gesellschaft zurecht! Sie setzen sich für andere ein und sind beliebt bei Ihren Kameraden. Einfach weil sie sind, wer sie sind, und offen so sein dürfen. Und nicht falsch verstehen, mein Kind hat wirklich Spaß an der Schule und wird da nicht unterdrückt oder so. Die Lehrerin ist super, und freut sich einfach, dass die Klasse so toll motiviert ist, und das Schuljahr trotz Corona ein gutes Jahr für alle war.