Wir haben ein Problem. Und das ist die Liebe.
Ich verstehe, dass ich mich in Gefahr begebe, unromantisch und unpopulär zu werden. Unsere Kultur liebt die Liebe! Sie macht so tolle Gefühle! Ist so weich und warm!
Und wenn es um die Beziehung zwischen Eltern und Kindern geht – so wie hier beim Kompass –, wird es nochmal ne Spur schärfer. Da sehen wir Liebe als Fundament für alles an.
Für Fürsorge. Gute Entscheidungen. Warme Klamotten.
‚Egal wie wir es machen, Hauptsache wir lieben unsere Kinder‘ – ist einer der vermutlich am meisten gebrauchten Sätze in Elternforen.
Mit Verlaub: Was für ein Unsinn.
Was meinen wir, wenn wir Liebe sagen?
Häufig meinen wir Gefühle. Ganze Bündel davon – freundliche, warme, nette, angenehme. Das bleibt sehr unspezifisch, was es schon wieder schwierig macht. Denn dann wird es schwer, diese Gefühle für Verbindung und Liebe zu nutzen. Wie Brenè Brown schreibt, ist das, was sie ‚emotional literacy‘ nennt, eine Grundkompetenz für Verbindung und Miteinander.
Wir müssen ausdrücken, was wir meinen und was nicht, wenn wir uns authentisch zeigen wollen.
Und dafür ist Liebe ungeeignet. Was meinen wir denn da?
Vieles, was als Liebe gilt, ist bei näherem Hinsehen übergriffig, grausam und oft schlicht nackte Gewalt. ‚Ich tue das nur, weil ich dich liebe!‘ ist Zeugnis dieser grausamen Praktiken. Die nicht selten zu Erwachsenen führen, die glauben, dass das Maß an ‚Liebe‘, was sie fühlen, während sie grausam sind, diese Grausamkeit aufwiegen könnte. Oder – noch schlimmer -, dass Liebe mit Gewalt zusammenhängen müsse (das zeigen genug qualitative Forschungen an gewalttätigen Menschen).
Ein Gefühl kann aber nicht darüber entscheiden, ob etwas moralisch in Ordnung ist. Viele Dinge, die wichtig, mutig und richtig sind, fühlen sich erstmal schrecklich an. Aufstehen und etwas sagen, wenn jemand Unrecht tut. Streiten für das, was wahr ist. Nein sagen und persönliche Grenzen ziehen. Alles Dinge, die unangenehm aber moralisch richtig sein können.
Nein, das was gut und richtig ist, ist nicht immer angenehm. Und das was falsch ist, wird nicht richtig, weil es sich gut anfühlt.
Liebe ist ein Bedürfnis
Was wir eigentlich meinen, wenn wir sagen, dass Menschen Liebe brauchen, ist nicht ein Gefühl, sondern die Erfüllung eines Bedürfnisses. Und das ist tatsächlich wichtig. Bedürfnisse sind der Grund, auf dem unser Miteinander steht.
Allerdings: Bedürfnisse sind nicht unbedingt so leicht zu erkennen. Und ich kann nicht wissen, ob mein Gegenüber Liebe braucht, wenn ich ihm verbiete, ein Eis zu essen, weil ‚ich es ja nur gut meine‘. Vielleicht hat das arme Ding einfach Hunger.
Das Bedürfnis nach Liebe wird nicht erfüllt, weil ich etwas spüre, sondern weil ich etwas tue. Ich kann also getrost aufhören, mein Kind immer supertoll zu finden und warme, kuschelige Gefühle haben zu wollen. Zur Hölle mit dem schlechten Gewissen – weil, Überraschung, du musst an diesem Anspruch scheitern!
Wenn mir das mit der Liebe wichtig ist, kann ich sie fühlbar machen. Nicht für dich – für die Person, die sich geliebt fühlen soll. Wenn es dir darum nicht geht, geht es nicht um Liebe, sondern um Makeup für Gewalt.
Wie fühlt sich mein Kind geliebt?
Das ist die Frage, die dich weiterbringt. Wenn du Beziehung ernst nimmst, stellst du diese Frage zuerst: Welche meine Handlungen transportieren meine Werte?
Beobachte dein Kind. Was fordert es ein? Wann fühlt es sich wohl? Wonach fragt es?
Manche Menschen lieben zum Beispiel Hilfe. Dummerweise haben diese jungen Leute Pech, denn wir sind komplett versessen auf Selbständigkeit und verweigern meist die Hilfe, sobald das Kind es kann. Ich kann das nicht empfehlen.
Schau hin und erfülle das. Und wenn sich das nach Liebe anfühlt (übrigens kannst du dein Kind auch fragen, was sich nach Liebe anfühlt), dann ist das hundertmal hilfreicher, als unter dem Deckmantel von Liebe Dinge zu tun, die du später bereust. Ohne das Deckmäntelchen von Liebe kannst du dann übrigens gleich mal auf diese Handlungen sehen – worum ging es dir da wirklich?
Unsere Kinder zu lieben, ist eine Reise, die wir nicht versauen dürfen, indem wir uns bequem zurücklehnen und sagen ‚ja, aber ich habs ja nett gemeint!‘. Versteh mich nicht falsch, du kannst das gerne tun. Aber es ist das Gegenteil von dem, was Beziehungen nährt und Verbindung nachhaltig macht. Also, schau hin und tue das, was sich für dein Kind nach Liebe anfühlt. Nicht für dich.
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Liebe Ruth, vielen Dank für deine Worte.
Bei meiner Tochter ist es ein Glück fast nicht möglich in diese Situation zu kommen, da sie sehr klar ist in der Äußerung ihrer Gefühle. Wodurch ich noch stärker lernen konnte, was eigene Grenzen sind, bzw durch ihren Spiegel irgendwann kapiert habe, dass ich Mal meine persönlichen Grenzen ziehen muss. Das war und ist unglaublich lehrreich, dadurch, dass ich die Verantwortung für mich übernehme im Sinne von „du bist nicht verantwortlich für meine Gefühle“. Und auch die Fokussierung darauf, was sind meine Werte, was ist mir persönlich wirklich wichtig, hat sehr viel Akzeptanz und Verständnis gebracht darüber, was meinen Kind wirklich wichtig ist. Für mich ist es letztendlich immer ein Spiegelbild. Wie innen so außen. Wenn ich weiß, wer ich bin, kann ich den anderen auch erkennen.
Huhu! Na, da hast du ja wirklich Glück mit deiner Tochter! Diese ‚unerziehbaren‘ Kinder sind ein solches Geschenk…
– Ruth
Ich musste direkt an den, für mich nie logisch gewesenen, Zusammenhang von klaren Verhaltensregeln, Konsequenzen und das daraus angeblich resultierende Gefühl von Sicherheit (Vertrauen, Verlass, Zuverlässigkeit) denken.
Meine Kinder brauchen ganz unterschiedliche Dinge um sich geliebt zu fühlen, besonders bei meiner Tochter hat es lange gedauert, ehe ich verstanden hab, dass das was ich ihr gebe für sie nicht annehmbar ist. Das zu verstehen, dass es so leicht ist, ihr einfach anders zu zeigen, dass sie geliebt wird und unsere Beziehung nicht völlig kaputt ist, war so erleichternd. All der Frust, warum sie nicht sieht, dass sie wichtig ist und geschätzt wird, dass ich sie liebe… Einfach weggeblasen ❤️
Ach Änni, wie wundervoll! Ja, mit Sicherheit ist das ähnlich, das stimmt. Wie viel Zwang da unter dem Deckmantel ‚Kinder brauchen Sicherheit‘ gerechtfertigt wird…
– Ruth
Jaaa,Ruth.
Wie oft habe ich gehört, ich will doch nur dass es dir gut geht.
Dabei werde ich für alles beschuldigt und für ihre Gefühle verantwortlich gemacht.
Lernen wir empathisch unsere Gefühle und Bedürfnisse und der Anderen zu erkennen und zu benennen.
Leider ist es ein schwieriger langer Weg.
Ka
Das Seltsame ist ja auch, dass die ART dann eher dazu führt dass es der Person nicht gut geht. So widersprüchlich!
Es ist ein langer Weg, ja, aber solange wie ihn genießen ist das egal, glaube ich.
– Ruth
Dieser Satz, ‚es bringt nur was, wenn es sich wie Liebe anfühlt‘, hat mich wirklich weiter gebracht. Das war der Durchbruch. Ich habe blöde Sachen gemacht, nicht weil ich ihn Liebe, sondern bei mir war es eher, warum tue ich das, ich liebe ihn doch. Es ist immer noch nicht leicht und gut. Aber leichter und besser. Und es ist so logisch. Und: es darf sich nach liebe anfühlen und ich darf ihn lieben. (Aber auch mal blöd finden…)
Danke liebe Ruth, für deine immer wieder tollen Impulse
Hallo Claudia, schön dass dir das weitergeholfen hat! Das ging mir vor vielen Jahren auch so und ich bin froh dass wir inzwischen auf einer breiten Basis darüber reden. Leider findet so viel Diskriminierung total ‚gut gemeint‘ statt.
– Ruth
Wenn ich deinen Text lese versteh ich die Überschrift nicht. Denn es geht ja auch dir sehr wohl um Liebe, oder nicht? Nur dass wir achtsam sein sollten um wen es bei der Liebe geht, und dass „Lieben“ nicht „nett sein“ oder „gut gemeint“ bedeutet. Und da kannn ich voll bei dir sein.
Hallo Lea,
nein, ich glaube wirklich dass diese Versessenheit auf das Gefühl schadet und wir das sein lassen sollten. Es ist mE total ausreichend zu sehen dass wir da sind für die Kinder und unsere Werte leben. Alles andere macht Stress.
– Ruth
Puh, da triffst Du wieder einmal einen wunden Punkt, liebe Ruth!
Erst gestern habe ich morgens nach gefühlten 10x ruhigem bitten, sie möge sich doch anziehen, dann doch irgendwann gestresst meine 6jährige angemotzt weil sie nicht in die Pötte gekommen ist.
Danach im KiGa dieses ätzende Gefühl nicht in Verbindung zu sein, sie hat nur Tschüss Mama gesagt und ist zur Freundin marschiert. Abends bin ich spät nach Hause gekommen und hab am Bett dann zu ihr gesagt, dass ich sie immer lieb habe…auch wenn wir streiten…blablabla…wird sie sich gedacht haben…:-(((
Hallo Ines,
das weißt du nicht, was sie gedacht hat – frag sie doch mal! Anziehen obwohl das Kind es schon kann ist übrigens eine sehr häufige Liebesstrategie…
– Ruth
Ich denke auch, dass es entscheidend ist, wie mein Gegenüber sich fühlt, was bei ihm ankommt. Fühlen sich unsere Kinder durch unser Tun geliebt? Darauf kommt es an. Und nicht darauf, dass wir denken, dass wir sie lieben.
Ich definiere Liebe so, dass ich aufhöre, an ihnen „rumzuzupfen“. Dass ich in der Gewissheit lebe, dass sie genau so, wie sie sind, richtig sind. Liebe ist für mich ein umfängliches „JA“ zu meinem Kind.
Huhu Corinna,
Das ‚JA‘ finde ich ein schönes Bild – ich achte mal im Alltag darauf, wo ich das gut fühlen kann. Danke für den Input!
-Ruth
Ganz toll…das ist absolut richtig für mich, wie du das geschrieben hast. Es geht nicht darum wie ich die Dinge werte, die ich für meine Kinder tue, sondern wie es bei den Kleinen ankommt. Was verstehen sie unter Liebe und wonach sehnen sie sich. <3
Was für ein wundervoller und wichtiger Artikel – nicht was wir fühlen, sondern was wir tun, kommt beim Gegenüber als Liebe an und erfüllt ihr Bedürfnis…
Danke, liebe Ruth!
Ich möchte gleich loslaufen und meine Kinder fragen, was sie brauchen, um sich geliebt zu fühlen und bin so was von gespannt auf ihre Antworten!
Meine Frau frage ich auch mal gleich…
Moin Jesta! Ja, mach das mal, das kann echt überraschend sein (und zu interessantend Überlegungen führen)!
– Ruth
Liebe Ruth,
danke!
Deine Beiträge tun uns gut!
Ich liebe deine Art und Weise zu schreiben und die Themen aufzugreifen!
Danke!
Sandra
Hallo Sandra, das ist aber schön zu lesen. Danke.
– Ruth
Tausend Dank für diese Worte! Ich wünschte, daß möglichst viele Menschen ( nicht nur Eltern ) sie lesen, richtig verstehen, verinnerlichen und in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen umsetzen würden.
Danke, Anna!
Ganz toll auf den Punkt gebracht. Danke für Deine immer so schlauen, messerscharfen Analysen! Du setzt dort an, wo es schwierig und unangenehm wird. Und das sind doch immer die Stellen, die man sich ansehen muss. Tausend Dank!
Hallo Maike,
Ja, genau da findet das Wachstum statt. Und nach dem Unangenehmen kommt dann zum Glück wieder Schönes!
– Ruth
Sehr gut geschrieben, erinnert mich an das Buch die 5 Sprachen der Liebe,
Liebe Ruth,
danke fürs Erinnern.. Ich habe meine 4 jährige gefragt, was sich für sie nach Liebe anfühlt… Morgens beim Anziehen helfen, miteinander Lachen und die Mama kitzeln und mit ihr toben sei für sie Liebe…
Wie einfach es doch sein kann, wenn man nur hinsieht und hinhört…
Wenn ich mich erinnere, wie meine Eltern unter dem Deckmantel der Liebe erzogen haben, bin ich so dankbar für so wichtige Impulse…
Für mich ist Liebe, als liebeschenkende Person ein Wert. Ein wegweiser, wie ich mit meinem Kind umgehen möchte. Denn Gefühle sind ein guter Ratgeber, aber schlechter Herrscher, sagte je,ans mal so schön. Und das ist ein Satz der meine Haltung gut beschreibt. Demnach fasse ich unter dem Wert Liebe zum Beispiel bedingungslose Annahme, Verbindung, Achsam-/Aufmerksamkeit, Unversehrtheit und einige andere Aspekte zusammen, die mir in der Beziehung mit meiner Familie wichtig sind. Sie machen es denke ich auch mlglich, besonders darauf zu achten, was mein Kind sich wünscht und wie es sich geborgen fühlt. Denn ich würde sich geliebt fühlen, eher geborgen fühlen nennen. Danke für deinen Impuls. Es regt mich dazu an, noch genauer hinzuschauen wie sich dort mein Weltbild verhält und zusammenpasst.
Richtig guter Artikel. Ich wusste das schon mal. Ich meine mich auch zu erinnern, dass du schon mal etwas ähnliches geschrieben hast. Vor längerer Zeit. Egal. Danke 🙂
Hallo Ruth, ich musste diesen Artikel erst setzen lassen und ein paar Tage drüber nachdenken. Habe glaube nicht gleich verstanden, was du meinst oder wollte einfach drüber reflektieren und prüfen, was mich davon betrifft, wo ich bei diesem Thema stehe. Und ich muss feststellen, dass ich diese Muster in meinem Verhalten wiederfinde. Bittere Erkenntnis-Pille! Aber sie führt weiter. Danke dir Ruth für deine Denkanstöße.
Liebe Ruth, ein ehrlicher Artikel – vielen Dank dafür. Da fiel mir gleich ein Zitat ein „Was ist das Gegenteil von gut? Gut gemeint.“
Bei dem Beitrag muss ich an meine Schwiegermutter denken…sie meint es andauernd nur gut und hofft dadurch, „geliebt“ zu werden. Und wenn für uns das gut gemeinte nicht gut ist, sind wir undankbar… Anstatt uns zu fragen, was wir brauchen – aber das wäre für sie undenkbar, denn sie möchte es so machen, wie sie es für richtig hält.
Emotionale Erpressung wiegt so schwer und ist doch so schwer zu erfassen.
Ich sage mir immer, unser Sohn hat uns nicht gebeten, geboren zu werden. Das war alleine unsere Entscheidung. Und für alles, was diese Entscheidung mit sich gebracht hat oder noch bringen wird, werden wir ihn niemals verantwortlich machen. Liebe ohne Bedingungen.
„Es ist nicht das, was man empfindet
Nicht nur das, was man fühlt
Nicht, was man voller Sehnsucht sucht
Liebe ist das, was man tut“
(Kettcar-Rettung)