‚Ich komm nicht mit!‘

‚Wie?! Wir sind mit deiner Freundin verabredet. Wieso kommst du nicht mit?‘

‚Ich komm nicht mihiiit!!‘

So läuft es JEDES Mal, wenn Marie mit ihrer kleinen Tochter irgendwo hin will. Völlig egal, ob es ihr dort letztes Mal gefallen hat, ob der Termin vielleicht sogar extra für sie ausgemacht wurde oder ob es sich um eine schnöde Hunderunde handelt. Schwimmbad, Oma und Opa besuchen, Spielplatz – egal. Kaum rückt das Losgehen näher, will sie zuhause bleiben. Nicht selten folgt ein Wutanfall und ein Kindelein, das brüllend die Treppe hoch in seine Spielecke stapft. Inzwischen ist sie fünf Jahre alt und es wird gerade etwas besser.

Übergänge sind eine echte Herausforderung mit kleinen Leuten. Und heute gucken wir uns an, warum das so ist und was hilft.

Schau, hier kannst du auch ein Video zum Thema gucken:

Warum sind Übergänge so schwierig?

Wenn wir zurückschauen, wie Menschen den Großteil der Zeit seit ihrer Entstehung verbracht haben, sehen wir hochsoziale Wesen, die in Gemeinschaften zusammenleben und arbeiten. Diese Gemeinschaften waren normalerweise relativ stationär oder zumindest an Rituale gebunden, wie die immer gleichen Häuser und Abläufe und das immer gleiche Essen. Niemand brauchte (und konnte) die Gemeinschaft verlassen, weil alles Benötigte dort war.

Heute ist das anders: Wir leben in Kleinfamilien und die Ökonomisierung des Alltags sorgt dafür, dass wir mehrmals täglich sowohl die Umgebung als auch die Bezugspersonen wechseln müssen. Dass das kein ursprüngliches Verhalten ist, merkt man besonders den ganz Kleinen massiv an. Sie hassen es, eine Umgebung für eine andere zu verlassen. Manche Kinder können das besser, manchen Leuten fällt es sogar noch als erwachsene Person schwer.

Kleine Kinder sind einfach nicht dafür gemacht, von A nach B verschickt zu werden.

Der ständige Wechsel ist grundsätzlich ein stressiges Setting. Hinzu kommt, dass die Kinder das nicht tun, weil sie es wollen oder weil es gut für sie ist, sondern damit die Eltern ihrer Arbeit nachgehen können. Kinder gehen in den Kindergarten, damit sie betreut sind, weil sonst niemand da ist, die*der sie begleiten kann. Ich denke, wir reden uns etwas ein, wenn wir glauben, dass zB Kindergarten für Kinder ist.

Mir geht es übrigens kein bisschen darum, dir ein schlechtes Gewissen zu machen  – das ist gar nicht meine Idee! Ich finde aber, wir müssen Situationen ehrlich anschauen und sehen, dass das, was wir uns und unseren Kindern abverlangen, evolutionär schwierig ist und Stress mit sich bringt.

Du machst überhaupt nichts falsch, du bist einfach nur zu wenig Leute für die Aufzucht von einem oder mehreren kleinen Kindern. Merken.

Du bist die*derjenige, auf der*dem eine Menge Druck lastet: Du musst gleichzeitig deine Kinder begleiten, deine eigenen Themen bearbeiten, Geld einbringen, Kontakte zu anderen halten usw.

Du machst einen super guten Job, aber es ist unmöglich, dass du das allein schaffst. Deswegen bin ich auch ein großer Fan von Schulen und Kindergärten, wenn sie denn zu einer Entlastung führen, was ja leider nicht unbedingt immer der Fall ist.

Übergänge gestalten

Die Evolution hat sich das anders vorgestellt, gut und schön, das ändert aber nichts an deinem Alltag. Da hast du immer wieder das Problem, Übergänge zu gestalten und zwar zu vorgegebenen Zeiten. Es gibt so viele Dinge, die erledigt werden wollen neben Kindergarten und Lohnarbeit: Einkaufen, Termine bei Ärzt*innen, der Geburtstagsbrunch vom Onkel, das kaputte Auto, das in die Werkstatt muss, Altglas, das in den Container soll usw. All diese Aufgaben sind mit Szenenwechseln verbunden, die die Kinder ertragen müssen, weil oft nur eine Bezugsperson zugegen ist. Das heißt die Kinder haben keine Wahl.

Was kannst du also tun, wenn du irgendwo hinwillst, dein Kind aber nicht?

1. Ist es wirklich nötig?

Grundsätzlich gilt: Wenn du es vermeiden kannst, die Szenerie mit deinem Kind zu wechseln, dann tu es! Es ist eine riesige Kooperationsleistung vom Kind. Es sieht keinen Sinn darin, einkaufen zu gehen. Dass ihr dann morgen kein Frühstück mehr haben werdet, versteht ein kleines Kind noch nicht. Aber auch größere Menschen haben vielleicht gerade etwas anderes zu tun, wollen sich ausruhen nach einem Tag in der Schule, haben keine Lust auf einen Szenenwechsel.

Je seltener du von deinem Kind derartige Kooperationsleistungen abverlangst, desto größer ist die Chance, dass es für dein Kind, wenn es wirklich nicht anders geht, in Ordnung ist.

Dein Lebensstil fordert dir und deinem Kind ständige Kooperation ab. Du kannst dich also fragen: Ist es wirklich nötig? Und: Kann ich grundsätzlich etwas verändern? Kann ich zB die Einkäufe liefern lassen? Kann ich eine Person dafür bezahlen, dass sie für mich einkaufen geht? Kann ich auf den Termin verzichten? Kann ich den Termin auf einen Zeitpunkt verschieben, zu dem eine weitere Bezugsperson da ist, sodass mein Kind entscheiden kann, ob es mit mir kommen oder bei der anderen Person bleiben will? Kann ich eine Person engagieren, die eine Hunderunde täglich übernimmt? Think outside the box! Und vergiss nicht, es ist eine Phase, die vorbeigeht, kein ‚für immer‘.

2. Was springt für dein Kind raus?

Wenn es sich nicht ändern lässt und du dein Kind mitnehmen willst, finde Dinge, die deinem Kind bei dem Termin vermutlich gefallen werden. Was kannst du einbauen, das es deinem Kind leichter macht, mitzukommen?

  • Welches Spielzeug könnte dein Kind mitnehmen? Will der Kuschelhase vielleicht dringend mal einen Ausflug machen? Oder die kleine Holzeisenbahn endlich mal echte Züge sehen?
  • Habt ihr ein extra tolles Fahrzeug, mit dem ihr zu dem anderen Ort fahren könnt?
  • Gibt es einen Spielplatz um die Ecke, den ihr noch besuchen könnt?
  • Könnt ihr auf dem Rückweg ein Eis kaufen?
  • Kann das Tablet mit, damit dein Kind damit spielen kann während des Termins?
  • Könnt ihr noch eine*n Freund*in treffen?

Ich finde es eine bedenkliche Idee, dass die Kooperationsleistung von Kindern häufig als völlig selbstverständlich angesehen wird. Das ist sie nicht. Und sie ist erst Recht nicht nötig nur, ‚damit das Kind das mal lernt‘. Macht es euch schön!

3. Willst du unbedingt pünktlich sein?

Pünktlichkeit ist relativ. Auch das, was die einzelnen Menschen unter Pünktlichkeit verstehen. Frag doch mal rum. Für manche ist das akademische Viertel völlig ok, andere verabreden sich lieber locker und machen die genaue Zeit erst fest, wenn sie schon auf dem Weg zum Treffpunkt sind. Das ist echt verschieden.

Manchmal braucht meine Tochter einfach noch fünf Minuten in ihrer Spielecke, um sich in Ruhe den richtigen Affen auszusuchen, der mitkommen soll. Oder sie will dringend noch diese eine Folge Paw Patrol zuende gucken. Oder den Hund ausgiebig kuscheln. Oder alle drei Dinge nacheinander. Wenn das erledigt ist, hüpft sie fröhlich los. Aber pünktlich sind wir dann eben manchmal nicht mehr.

Pünktlichkeit ist eine Frage der Priorität.

Es ist nicht gottgegeben, dass du zu dem Termin um 12 Uhr auch wirklich um 12 da sein musst. Du priorisierst, um 12 Uhr da zu sein, und das ist auch völlig ok. Wenn es dir wichtig ist, pünktlich zu sein, dann mach das. Aber es ist deine Entscheidung! Dein Kleinkind kann nicht für dich priorisieren. Es hat kein Verständnis für Zeit und keines für Pünktlichkeit.

Wenn du mit deinem Kind unterwegs zu einem Termin bist, dein Kind stolpert und sich das Knie aufschlägt, wirst du zu spät kommen, weil du dich erst einmal um das blutende Knie kümmerst. Und jede*r wird bzw sollte dafür Verständnis haben. Genauso sollte das für psychische Zusammenbrüche gelten. Wenn dein Kind einen Wutanfall hat, ist das wie ein blutendes Knie und braucht Beachtung, liebevolle Zuwendung und hat Vorrang.

Es ist deine Entscheidung.

Das Gute ist, du kannst dich jedes Mal neu entscheiden, was gerade deine Priorität ist. Was dir wichtig ist, weißt nur du. Niemand kann das für dich sagen. Will ich das jetzt wirklich durchsetzen? Ist das wirklich so wichtig? Wenn du dich dafür entscheidest und somit auch dafür, dass du deine Macht über diesen jungen Menschen anwenden willst, kannst du das tun. Aber du musst dafür gerade stehen!

‚Es tut mir so leid, du willst eigentlich hier bleiben. Mir ist der Termin so wichtig, deswegen nehm ich dich jetzt mit.‘

Die Verantwortung liegt ganz klar bei dir! Nur bei dir!

Es ist deine Aufgabe, dein Kind vom pünktlich Sein zu entlasten. Es ist nicht seine Entscheidung und auch nicht innerhalb seiner Verantwortung. Es ist deine Aufgabe, es deinem Kind so angenehm wie nur möglich zu machen.

Mach es deinem Kind und dir leicht.

Wenn du denkst: ‚Das muss mein Kind aber auch mal lernen.‘ oder: ‚Da muss es jetzt halt durch.‘, fliegst du aus der Beziehung. Sobald du aber denkst: ‚Es ist mir wichtig und deswegen entscheide ich. Wie kann ich meinem Kind helfen?‘, entstehen wunderbare Dinge für eure Beziehung.

Foto von Victoria_Borodinova auf Pixapay.