Du bist mit deinem Kind bei Großtante Gertrud zu Besuch. Die ist schon älter und furchtbar nett, aber auch äußerst flott beleidigt. Sie übergibt deinem Kind feierlich ein Geschenk. Dein Kind freut sich, sagt sogar brav ‚Danke!‘, reißt das Genschenkpapier auf und.. erzählt der Tante dann, dass es selbstgestrickte Puppenkleidung total blöd findet und nur das schicke Glitzeroutfit, dass es bei youtube gesehen hat, haben will. Dann widmet es sich wieder seinem Kuchenstück. Du bist in Schockstarre. Großtante Gertrud hat vor lauter Empörung Schnappatmung und ihren Kaffee verschüttet. Wie peinlich!

Hier kannste dir auch ein Filmchen angucken zum Thema:

Soziales Lügen

Du triffst eine Person, mit der du nicht eng gebunden bist und die Person fragt dich, wie es dir geht. Du antwortest ‚Super!‘, obwohl du dich alles andere als super fühlst. Das ist soziales Lügen. Vermutlich ist sie einfach nicht die richtige Person, mit der du dich über dein Problem unterhalten magst, aber sagen willst du ihr das auch nicht. Oder du hast gerade nur Zeit für Smalltalk. Voll ok und eine wichtige Kompetenz im Zusammenleben.

Kindermund tut Wahrheit kund.

Kinder haben häufig kein Verständnis für soziales Lügen. Die sagen nicht ‚Danke, die Puppenkleidung ist aber hübsch.‘ und verscherbeln sie dann bei den Kleinanzeigen oder stellen sich ihre Bude damit voll und ärgern sich später, dass sie so viel Kram rumstehen haben, den sie gar nicht brauchen.

Ist dein Kind frech oder einfach nur ehrlich? Wer immer nur höflich ist, verleugnet sich.

Die meisten Menschen lernen das soziale Lügen irgendwann ganz von allein und du solltest es deinem Kind nicht extra antrainieren. Floskeln wie

  • Sei höflich! (Und schlucke deine Gefühle und deine Meinung herunter.)
  • Wie sagt man? Bitte. Danke. Entschuldigung.

sind Anstiftungen zum Lügen! Und außerdem nehmen sie deinem Kind die Möglichkeit, in Kontakt zu kommen mit sich selbst und anderen. Um eine echt Verbindung einzugehen mit unserem Gegenüber, muss dein Kind sagen dürfen, was es fühlt, denkt, was in ihm vorgeht.

Voraussetzungen zum höflichen Verhalten

Kann sich dein Kind überhaupt (schon) höflich verhalten?

Um das zu können, braucht es das Verständnis von ‚Was ist hier gerade sozial und moralisch angemessen?‘.

Es gibt Menschen, die sind enorm direkt. Ich bin als Erwachsene immer noch schlecht im Smalltalk: Ich erzähle manchmal Leuten Dinge und merke dann, dass das gerade überhaupt nicht angemessen ist. Es gibt einfach Neurotypen, denen das schwerer fällt als anderen.

Ist dein Kind alt genug bzw hat es die nötige Hirnreife, um zu verstehen, dass eine Person eine andere Person ist (theory of mind)? Das ist die Voraussetzung dafür, dass es sich überhaupt einfühlen kann in andere Menschen.

Wenn du vermutest, dass dein Kind gar nicht weiß, dass sein Verhalten unhöflich war, kannst du es freundlich darauf hinweisen. Du könntest zB sagen: ‚Oh schau mal, Tante Gertrud guckt traurig.‘

Was war zuvor?

Ganz vieles, was wir als freches, provokantes, schwieriges Verhalten empfinden, hat eine Vorgeschichte. Um es mit Jesper Juul zu sagen: Ihm geht eine Kränkung voraus.

Wenn du friedvoll mit deinem Kind umgehen willst, unterstellst du ihm, dass es gerade das beste tut, was es kann. Wenn es nun nicht mehr konstruktiv auf andere eingehen kann, ist es kein Arschlochkind, sondern hat ein Problem.

Was ist passiert, dass es dazu gekommen ist?

Hast du dein Kind (unbeabsichtigt) gekränkt? Hast du es unter Druck gesetzt? Seid ihr gerade in einer Situation, in der Höflichkeit super wichtig ist, du hast dein Kind heute schon mehrmals ermahnt und es kann schlicht nicht mehr? Will es seine Integrität schützen? Kommt es frisch aus Schule oder Kindergarten und braucht erstmal Ruhe? Hat es schon den ganzen Tag kooperiert? Ist es in einer schwierigen Gesamtsituation?

Es geht nicht darum, das Verhalten zu ent-schuldigen, es geht überhaupt nicht um Schuld. Beziehung und Schuld gehen nicht zusammen. Es geht darum, herauszufinden, was los ist, und zu verstehen, warum dein Kind tut, was es tut.

Unterstützung

Wenn du weißt, warum dein Kind ‚frech‘ ist, kannst du konstruktiver auf es eingehen.

Wenn eine Person in Not ist, braucht sie keine Belehrungen oder Grenzen, sondern Empathie.

Ich bau ja öfter Mist. Und ich bin mir sicher, dir passiert das auch hier und da. Bei mir kommt das normalerweise dann vor, wenn ich in Not bin, weil ich zu wenig geschlafen oder gegessen habe oder traurig und überfordert bin. Wenn dann jemand sagt: ‚Das ist aber scheiße, Ruth!‘, dann hilft das nullkommanull weiter. Ich weiss es ja und werde dann nur noch wütender und verzweifelter.

Und so ist das bei deinem Kind auch. Wenn es sich ‚provokant‘ verhält, braucht es einen Menschen, der sich zu ihm setzt und sagt: ‚Wow! Was war denn mit dir gerade los? Du hast aber schlecht Laune!‘

Du sollst natürlich nicht applaudierend daneben stehen, wenn dein Kind jemanden verletzt. Aber du brauchst echte Neugierde! Empathie ist nicht Gleichgültigkeit. Empathie ist die Gewissheit, dass dein Kind ein guter Mensch ist. Immer!

Empathie ist bedingungslose Elternschaft.

Du kannst davon überzeugt sein, dass dein Kind ein guter Mensch ist, und ihm trotzdem sagen, wenn du etwas doof findest. Wenn du verletzt bist. Wenn du etwas unangemessen findest. Das geht gleichzeitig! Was daraus entsteht, ist ein Konflikt. Dein Kind will sich auf eine gewisse Weise ausdrücken, du willst, dass es das anders macht. Das ist ok.

Konflikte sind Reibung, Reibung ist Wärme.

Innerhalb von Konflikten, hilft Belehrung nicht weiter. Was hilfreich ist, ist von dir selbst zu erzählen und neugierig zu sein auf die Perspektiven von anderen.

Übertragung

Dir ist es fürchterlich peinlich, dass dein Kind sich nicht brav über die Puppenkleidung freut?

Wir Eltern glauben, das Verhalten unserer Kinder sage etwas darüber aus, ob wir gute oder schlechte Eltern sind. Besonders in der Öffentlichkeit schämen wir uns, wenn unsere Kinder frech sind oder sich unangemessen verhalten und wollen sie schnell ‚abschalten‘, damit das schlechte Gefühl verschwindet.

Aber natürlich sagt das, was dein Kind ist oder tut oder fühlt nichts darüber aus, was du für ein Elternteil bist, sondern es geht um deine Reaktion auf sein Verhalten. Was wäre es für eine Bürde für dein Kind? Darf es nie wieder sauer sein, damit du dich nicht schlecht fühlst? Darf es nie wieder ‚blöde‘ Sachen machen, damit du dich nicht schämst?

Das ist eine äußerst ungesunde Dynamik!

Das Verhalten deines Kindes, sagt etwas über es selbst aus, über seinen momentanen Zustand. Es kann sein, dass es eine Reaktion auf deinen Umgang mit deinem Kind ist, es kann sein, dass du es unter Druck gesetzt hast, oder etwas gesagt hast, was nicht in Ordnung war.

Aber dass dein Kind gerade nicht sozial angemessen reagieren kann, sagt nichts über deinen Wert als Mensch aus. Und wenn du dazu neigst, diese Übertragung zu haben, mag ich dich einladen, das Verhalten deines Kindes einfach sein zu lassen und zu spüren:

  • Was denke ich, was andere jetzt über mich denken?
  • Was denke ich gerade über mich selbst?

Und wenn du mal eine ruhige Minute hast, befass dich doch mal mit folgender Frage:

Was ist mir passiert, wenn ich frech war?

Wir sind eine Generation, die unglaublich viel Gewalt erlebt hat. Psychische, körperliche, strukturelle Gewalt. Nicht selten wurden freche, widerspenstige, schwierige Kinder einfach als ungehorsam angesehen und dieser Ungehorsam mit Gewalt gebrochen.

Du hattest womöglich früher überhaupt keine Chance, auszudrücken, wenn etwas für dich nicht ok war, auszudrücken, wie du dich gerade fühltest, weil das als ungehorsam angesehen wurde. Und weil für dich keine Person liebevoll da war.

Dann gibt dir dein Kind gerade die Chance nachzureifen und nachzufühlen, was da mit dir passiert ist. Und zu heilen.

Strategien

1.Blick auf dich

Wir sind versessen darauf, schnell und perfekt auf das unangemessene Verhalten unserer Kinder zu reagieren. Dabei ist es doch viel wichtiger, herauszufinden, was in uns vorgeht. Denn das ist der Schlüssel.

Wie ich reagiere, ist maßgeblich davon abhängig, wie es mir geht.

Lass dein Kind kurz dein Kind sein und nimm dir Zeit, durchzuatmen. ‚Ich sag gleich was dazu, jetzt will ich erstmal durchatmen.‘

Du kannst nach dem Atmen von einem anderen Ort aus reagieren. Das ist es wert. Normalerweise besteht keine akute Lebensgefahr und du hast die Zeit. Wenn dein Kind gerade dabei ist, jemanden zu verletzen, dann ist es natürlich deine Verantwortung, dazwischen zu gehen und zu schützen. Aber das ist wirklich viel seltener der Fall, als in Erziehungsratgebern suggeriert wird.

Du hast die Zeit, durchzuatmen und zu fühlen: Wie geht es mir gerade? Was passiert mit mir?

Es ist normal, wenn das ungewohnt ist für dich. Du – wie wir alle – wurdest durch Erziehung systematisch daran gehindert, zu fühlen, was du fühlst. Du durftest wahrscheinlich nicht – oder nicht so wie du wolltest – ausdrücken, was du fühlst. Das bedeutet: Du machst doppelte Arbeit! Und das dauert!

Du musst erstmal für dich selbst da sein.

Was macht es mit mir? Welche Gedanken habe ich? Welche Widerstände habe ich? Nichts davon ist falsch. Das wichtigste ist, dich nicht zu erziehen, dich nicht klein zu machen. Wenn du gerade denkst ‚Dieses scheiß Blag, ich könnts an die Wand hauen!‘, dann ist das so. Dann denkst du das gerade und spürst, was in deinem Körper vor sich geht. Achtsamkeit. Nur wahrnehmen. Du wirst dich wundern, wie viel das schon verändert.

Du brauchst Zeit aus der Reaktion rauszukommen. Da hilft zählen. Und dann erst reagierst du.

2. Raus aus der Situation

Nicht schimpfen, nicht belehren, nicht erklären, nein, einfach raus aus der Situation.

Wenn du selbst angetriggert bist, kann vielleicht eine andere Person kurz auf dein Kind gucken, damit du Zeit zum Runterkommen und Fühlen hast. Vielleicht kann dein Kind auch eine Weile allein bleiben und du gehst ins Bad. Wenn nicht, atmen geht notfalls auch mit Kind am Bein.

Wenn eine andere Person vom Verhalten deines Kindes gestresst ist, kannst du mit deinem Kind weggehen. Geht ins Nachbarzimmer und spielt ein Brettspiel. Tobt im Familienbett. Rennt ums Haus oder malt ein Bild. Egal. Hauptsache raus aus der Situation!

Durch Schimpfen und Beschämen wird nichts besser.

Manchmal hilft es, im Nachhinein KURZ darauf hinzuweisen, dass etwas nicht ok war, denn einige Menschen bekommen das nicht so schnell mit.

Danach hast du Zeit für die verletzte Person. Du ignorierst sie nicht, du entzerrst nur die Situation. Du nimmst das Drama raus, um dann überlegen zu können, was du konstruktives tun kannst?

Du kannst empathisch sein mit der Person, die dein Kind verletzt hat. Du kannst bitte, danke, entschuldigung sagen für dein Kind, wenn dir das wichtig ist. Aber dein Kind kann deine Werte nicht für dich leben.

Dein Kind ist ein eigener Mensch!

Wenn dein Kind sich entscheidet, sich auf eine unangemessene auszudrücken, dann kannst du das blöd finden und das auch ausdrücken. Aber du hast nicht das Recht, dein Kind zu zwingen, sich zu entschuldigen, seine Gefühle zu unterdrücken oder netter zu sprechen.

Zurück zu Großtante Gertrud: Nachdem du kurz durchgeatmet hast, verwickelst du die Tante in ein Gespräch über ihr Lieblingsthema Häkeldeckchen, in dem sie wie immer ganz aufgeht. Die dicke Luft hat sich verzogen. Dann bedankst du dich für das Geschenk und sagst, dass es dir leid tut, dass es deinem Kind nicht gefällt. Du fragst sie, wo sie denn die Strickanleitung gefunden hat und wie lange es gedauert hat, die Kleidung zu stricken. Ihr sprecht über Gertruds eigene Puppe, deren Kleidung ihre Oma damals gestrickt hat. Ihr fühlt euch verbunden und dass dein Kind das Geschenk nicht mochte, ist nebensächlich geworden.

Du kannst Empathie geben, du kannst in Verbindung sein, aber nicht, weil dein Kind das mal lernen muss, sondern weil es dir wichtig ist, deine Werte zu leben.

Bild von M Brugman auf Pixabay