‚Wie viel darf dein Kind eigentlich selbst entscheiden? Was erlaubst du deinem Kind?‘
‚Alles!‘
Willst du lieber ein Video gucken, als zu lesen? Bitte schön:
Wenn es uns um Nichterziehung, um friedvolles und gewaltfreies Miteinander geht, dann haben junge und ältere Menschen die gleichen Rechte. Wenn wir auf Machtgebrauch verzichten, fällt die erhöhte Position des Erlaubens weg. Somit läuft die Argumentation andersherum:
- Wann habe ich das Recht, meinem Kind die Selbstbestimmung zu nehmen?
- Aus welchen moralischen Gründen verbiete ich etwas?
- Warum nutze ich meine Macht?
Was ist überhaupt Selbstbestimmung (und was hat sie mit Erziehung zu tun)?
Ein hilfreiches Bild, um Selbstbestimmung zu erklären, ist das Stillen eines Babys nach Bedarf. Das Baby bestimmt den Zeitpunkt, denn es weiß, wann es hungrig ist oder Nähe braucht.
Das bedeutet aber nicht, dass es das allein macht, ich häng ja nunmal direkt dran an der Brust. Außerdem braucht das Baby meine Hilfe beim Stillen und ich habe natürlich auch eine Meinung zu Zeitpunkt und Länge.
Je älter das Baby wird, desto eher kann es vorkommen, dass ich, wenn ich gerade nicht stillen will, das auch durchsetze. Vielleicht biete ich das Stillen auch mal aktiv an, weil ich denke, das gnatschige Hasenkind braucht Mimi, das hebt die Stimmung.
Ich versuche natürlich grundsätzlich im Interesse des Kindes zu handeln, aber ich bleibe ein eigener Mensch mit meinen persönlichen Vorstellungen.
Selbstbestimmung bedeutet also nicht, das Kind macht alles alleine, während ich auf keinen Fall etwas dazu sage und mich bloß nicht einmische.
Selbst heißt nicht alleine.
Wenn ich die Rechte einer Person wahrnehme, bin ich selbstverständlich trotzdem für diese Person da – mit allem, was mich ausmacht: mit meiner Meinung, meinen Gefühlen, vielleicht auch mit meiner Kritik an dem, was die Person tut.
Dilemmata und Kinder
Wenn ich Kinder wie Menschen behandle und sie ernst nehme, stolpere ich automatisch durch jede Menge Dilemmata.
Stell dir vor, dein Kind hat eine gefährliche Krankheit und du hast nach sorgfältiger Abwägung festgestellt: Die Spritze ist notwendig, du willst, dass dein Kind sie bekommt, auch wenn es das blöd findet. Du hast somit eine Entscheidung getroffen, die das Recht deines Kindes auf körperliche Selbstbestimmung bricht, dafür aber (hoffentlich) eine schwere Krankheit abwehrt.
Du siehst das Dilemma? Was ist gerade wichtiger? Gesundheit oder Selbstbestimmung?
Eine Person grundsätzlich bestimmen zu lassen, was sie mit ihrem Körper tut, ist eine moralische Entscheidung. Aber wie bei jeder moralischen Entscheidung gibt es Ausnahmen. Und genau dieses Abwägen, dieses Hin und Her, genau das macht uns als Menschen, als moralisch anspruchvolle Wesen aus.
Manchmal war die Entscheidung falsch. Kann passieren. Wir alle machen Fehler. Ich mache Fehler. Jeden Tag. Gar nix los. Du denkst dir hinterher, die Spritze wäre doch nicht nötig gewesen? Kann sein, ja. Aber in diesem Moment war deine Entscheidung die beste, die du treffen konntest. Sei gnädig mit dir!
Eine Regel, ein Rezept, das besagt, wie es immer richtig ist, hilft uns nicht weiter. In Beziehungen benötigen wir das Abwägen, das Spüren, was wir gerade brauchen, Raum geben und Raum nehmen.
Rezepte sind der Tod von Beziehung.
‚Gerade ist mir dein Selbstbestimmungsrecht wichtiger, auch wenn ich mich unwohl fühle damit.‘
‚Gerade kann ich das gar nicht aushalten und ich möchte mit dir eine andere Lösung finden.‘
Die spannende Frage ist, was dann passiert. Wie werden wir uns einig? Hat mein Kind Raum, mir zu widersprechen? Finden wir einen gemeinsamen Weg? Und weiß mein Kind, dass ich grundsätzlich davon ausgehe, dass es sein Recht ist, zu tun, was es möchte?
Mehr Selbstbestimmung für mein Kind – Wie mach ich das?
Starte an den Punkten, an denen es dir leicht fällt. In den Bereichen, von denen du weißt, sie sind nur so halbwichtig. Und da kannst du dich dann immer wieder fragen
- Warum will ich das unbedingt?
- Ist es vielleicht wichtiger, dass mein Kind sich selbst ausprobiert?
- Will ich das jetzt wirklich durchsetzen?
Und wenn deine Antwort auf die letzte Frage ja ist, dann setze es durch. Du brauchst kein schlechtes Gewissen haben, du brauchst nicht denken, du bist jetzt nicht richtig, nicht unerzogen genug. Blödsinn!
Du bist wundervoll und genau richtig, wie du bist.
Schau dir die Punkte an, an denen deine Kontrolle über dein Kind nicht mit deinen Werten zusammenpasst.
- Wo willst du loslassen?
- Wo willst du mehr ja sagen?
- Geht ein Eis mehr?
- Kannst du noch etwas anderes kochen?
- Kann die Dusche heute ausfallen?
- Geht noch ne halbe Stunde länger tablet?
Sag da ja, wo es von Herzen kommt!
Von dort kommst du weiter zu deinen Widerständen.
- Bei welchem Thema kriegst du Bauchgrummeln?
- Wo zieht sich dir die Brust zusammen?
- Warum ist das so?
- Was steckt dahinter?
Mein großes Thema war Essen. Mir wurde es durch Regulation abtrainiert, gesund und mit Freude zu essen. Das hat es mir wahnsinnig schwer gemacht, meine Kinder selbstbestimmt essen zu lassen. Ich habe feste Mahlzeiten vorgegeben, es gab einen Probierzwang und Süßigkeiten habe ich eingeteilt. Bis ich gemerkt habe, das passt überhaupt nicht zu meinen Werten. Ich fing langsam an, ja zu sagen und bekam einen heftigen inneren Widerstand. So schwer war mein Schmerz.
Ich hab es erstmal nicht geschafft, das Essen freizugeben. Diese alte Stimme in mir, hat mir immer wieder zugeschrien, dass Kinder doch Grenzen brauchen und Schutz und irgendwo doch auch Schluss sein muss. Kennst du? Das ist voll ok. Ich hab meinen Kindern gesagt, dass ich es gerade nicht besser hinkriege, weil es so schwierig für mich ist. Dass es mir leid tut.
In dem Moment, wo du die Selbstbestimmungsrechte von einer Person verletzst, übernimm die Verantwortung. Auch wenn die Person darüber sauer oder traurig ist, bist du in der Verantwortung, sie dabei zu begleiten.
Das ist wichtiger, als perfekt sein zu wollen, und Vertrauen zu heucheln, wo du kein Vertrauen hast.
Danke für diese Zeilen!!!! Du bestärkt mich in meinem Umbruch. Ich kenne auch diese innere, angespannte mit erhobenen Finger, zetternder Stimme, die versucht mich und meine Art und Weise, wie ich meine Beziehung zu meine Kinder leben, zu korrigieren. Doch bin ich ausgebrochen und werde nicht gehorchen und falls doch, stehe wieder auf und gestehe ich es mir ein, übernehme Verantwortung und entschuldige mich. Denn….ich DARF Fehler machen ?. Ich muss nicht perfekt sein.
Ja, das darfst du. Das tun wir alle. Das gehört dazu.
Alles Liebe auf deinem Weg!
– Ruth
Ganz toller Artikel! Ich habe meinen Sohn vor 2 Monaten aus einer Kita gerettet, in der es kaum Selbstbestimmung gab und er einfach nur noch angepasstes Verhalten gezeigt hat. Zusätzlich wurde dort viel gemeckert und die Kinder konnten eigentlich nur alles falsch machen. Jetzt ist er in einer Kita, wo es ganz anders läuft und er wieder ausgelassen und glücklich ist. Solche tollen Kitas gibt es wirklich!
Aber seitdem ich feststellen musste, wieviel falsch laufen kann (ohne dass wir Eltern es merken), hinterfrage ich mich jeden Tag in meiner Beziehung zu den Kindern. Und da bin ich so dankbar für die regelmäßigen Anregungen per Mail, die mich immer wieder aufrütteln und mir zeigen, dass ich erst am Anfang eines gewaltfreien Umgangs bin. Immerhin ein Anfang ist gemacht. 🙂 DANKE DANKE DANKE
Ich freu mich dass du den Mut hattest für euch einzustehen!
– Ruth
Danke Ruth,
die richtigen Worte zum gerade wieder aktuellen Thema hier. Du fasst sehr gut in Worte was ich fühle und meinem Umfeld so schwer vermitteln kann, wenn sie mit ihren Übergriffigkeiten in meinen oder den Raum meiner Kinder eindringen, sich über Gegenwehr wundern/ärgern und versuchen das mit Gehorsam und Übermannung zu unterbinden…erwachsene verletzte innere kinder wohin ich schaue derzeit…nicht ganz leicht mit ihnen auf Augenhöhe zu bleiben, wenn ich unseren eigenen Raum schützen möchte…aber es gibt lichtblicke und ich fühle mich deutlich gefestigter in meinem Selbstwert seid ich hier mitlese und auch im realen Leben wieder humane gefestigte Menschen anziehe…da leuchtet es sich im Dunkel gleich etwas besser..
Hallo Janett! Ich glaube, wenn man die Entwicklungen der letzten Jahre ansieht passiert da doch schon einiges, und ich bin sehr froh drum. Nichtsdestotrotz kann sich das alles einsam anfühlen, ja.
– Ruth
ich würde mich sehr über artikel freuen, die sich mit klassischen themen der pubertät beschäftigen.
Hallo Du! Danke für den Input – ich nehme ihn in die Vorschläge mit auf.
-Ruth
Liebe Ruth, ich lese Deinen Artikel mit Begeisterung. Selbstbestimmung ist so wichtig für uns Menschen und das schließt ja wohl die kleinen Menschen mit ein. Danke, dass Du dieses Thema so klar, strukturiert und mit herzlichem Nachdruck in die Öffentlichkeit trägst. Es ist Zeit, dass wir alle umdenken. Friedvolle Elternschaft hätte ich mir und uns allen auch in unserer Kindheit gewünscht. Ich werde Deine Beiträge weiter verfolgen. Alles Gute für Dich. Stefanie
Liebe Stefanie, danke dir!
– Ruth
Hey Ruth! Ein ganz tolles und wichtiges Thema! Ich bin Pädagogin in der Kita und wir versuchen dort „unerzogen“ mit den Kindern zu leben- Selbstbestimmung ist ein großes Thema bei uns. Was sehr schwer ist: Wie gehen wir mit Eltern um, denen es z.B. beim Thema Essen wie dir geht (und denen wir durch intensive, aufmerksame Aufklärungsarbeit trotzdem nicht aus ihren Ängsten/Zwängen heraus helfen können). Bei uns in der Kita dürfen die Kinder selbst entscheiden ob, wann, wo, mit wem und wie viel sie essen möchten. Einzig der Zeitrahmen ist aus organisatorischen Gründen vorgeben (allerdings so weit gefächert wie möglich). Nun gibt es Eltern, die darauf bestehen, dass ihr Kind essen MUSS (auch mit körperlichem Zwang durch uns, was wir entschieden ablehnen) und so kommt es regelmäßig zu teils heftigen Diskussionen mit den betroffenen Eltern. Ich fühle mich dann oft extrem „zwischen den Stühlen“- hin und her gerissen zwischen partizipativem Gesetzesauftrag, meiner eigenen unerzogenen Haltung und den Forderungen der Eltern. Mir ist klar, dass diese Herausforderungen zu meinem Beruf gehören, trotzdem strengt es mich der „Eiertanz“ zwischen Kita-Konzeption und Mitbestimmungsrechten der Eltern manchmal sehr an…
Oh, das kann ich mir lebhaft vorstellen! Ich glaube da ist auch klar dass ihr da euch mit euren Werten zeigt – und wo ihr eine ‚harte‘ Linie zieht und wo Verhandlungsspielraum ist. Nicht verhandelbare Werte zu vertreten ist mE etwas, was sich noch zu wenige Institutionen trauen.
Grüße, Ruth
Ich finde es besonders toll, dass bei dir Fehler nicht verteufeln werden. Du unterstützt uns alle genau dort wo wir bei unserem Weg stehen. Bei dir fühlt man sich verstanden u nicht verurteilt. Danke für die Inspiration neue Wege mit unseren Kindern zu gehen ?.
Hallo Dani!
Danke, das freut mich sehr – genau darum geht es mir.
– Ruth
Liebste Ruth, ich bin wie immer begeistert von deinen Gedanken. An einem Punkt, nämlich was das Essen angeht wollte ich einen Gedanken von mir dazu loswerden. Du sagst du hast eine Essstörung entwickelt weil Essen bei euch extrem reguliert wurde. Bei uns war sicher genau das Gegenteil der Fall, immer verfügbare Süßigkeiten, unregelmäßige Mahlzeiten. Ich denke, dass ich daraus eine Essstörung entwickelt habe, weil ich nie richtig lernen konnte gesund zu essen. Ich konnte das erst mit 20 Jahren lernen, als ich ein Jahr lang in einem Kontext gelebt habe mit gemeinsamen regelmäßigen Mahlzeiten, ohne immer zu futtern zwischendurch. Eine gewisse Struktur halte ich daher aus meiner Erfahrung für sehr wichtig. Ohne diese mit Zwang durchzusetzen natürlich 😉
Hallo Anna,
ja, natürlich ist der entscheidende Faktor bei Sucht nie das Suchtmittel sondern Beziehung. Sprich, die Frage ist nicht wie man lernt zu essen sondern wie Beziehung gelebt wird.
– Ruth
Hallo Ruth,
vielen Dank für deinen Artikel und überhaupt deinen Blog. Es ist alles sehr wertvoll für mich.
Beim „ja“ sagen finde ich es besonders schwer wenn es um Süßigkeiten/ Zucker geht. Weil ich mich hier immer frage, wie gut ein Kind sich hier wirklich selbst regulieren kann. Das ist ja fast eine Glaubensfrage, habe ich immer den Eindruck. Die einen sagen, die Kinder können sich regulieren, andere sind der Überzeugung, dass Zucker körperlich quasi wie eine „Droge“ wirkt und daher keine/kaum Selbstregulation möglich ist. Ich denke auch oft, dass es evtl. auch von Körper zu Körper unterschiedlich sein könnte. Ich kenne es z.B. von mir, dass ich aufgrund von Schwangerschaftshormonen auf einmal Null Lust auf Süßigkeiten hatte, was mir ansonten im Leben auch nie so untergekommen ist. Der Körper hat also schon einen wesentlichen Anteil daran, wie stark oder weniger stark man Lust auf Zucker hat… Jedenfalls würde mich interessieren wie hier deine Sichtweise ist?
Herzliche Grüße
Tintenteufelchen