Mit den Jahren, in denen ich mich mit Antipädagogik befasse, stolpere ich immer wieder über ein Problem. Es tritt in beinahe jeder Diskussion rund um die Abschaffung von Erziehung auf und ist ungefähr folgendermaßen beschrieben:

Wenn ich nicht erziehe, was denn dann?!

Meist tritt es nicht direkt als Frage auf, sondern als Vorwurf. Ach, du erlaubst dann einfach alles! Ach, deine Kinder dürfen also rücksichtlos und scheiße sein! Ach, du lässt sie bei rot über die Straße laufen!

Die traurige und für mich immer wieder erschütternde Annahme dahinter: Wenn wir Kinder nicht erziehen, dann sind sie uns egal.

Es wundert mich allerdings nicht, dass viele Menschen so denken. Schließlich ist das ein Teil unserer sozialen Realität und, noch viel wichtiger, ein Teil der eigenen Identität (deswegen höre ich auch auf mit Menschen zu diskutieren, die darauf gar keine Lust haben, der Schmerz dahinter ist zu groß). Die eigene Identität hat sich rund um die vermeintliche Wahrheit ‚meine Eltern mussten tun, was sie taten, weil es keine Alternative gibt‘ gebildet. Das ist ein wichtiger Mechanismus der Rechtfertigung von Schmerz von Menschen, die abhängig sind.

Das kleine Kind kann nicht abhauen. Es kann nicht beschließen, dass die Eltern scheiße sind (zumindest die ersten Jahre nicht), weil es gar keine Vorstellung davon hat, was oder wer es selbst ist. Das macht es so leicht, Gewalt an Kindern auszuüben: Sie verinnerlichen das als richtig und verurteilen – sich selbst.

Kein Wunder also, dass das Beharren darauf, dass ohne Erziehung etwas Schreckliches passieren müsse, da ist.

Und deswegen habe ich diesen Artikel geschrieben. Aber bevor wir uns konkret angucken können, was du verändern kannst, noch ein weiterer Grund:

Viele Menschen hören auf zu erziehen und tun gar nichts mehr.

Und auch das ist gefährlich. Es ist die gleiche Logik, genau so unbewusst, nur dass diese Menschen bewusst beschlossen haben, dass sie erziehen gemein finden. Die Alternative liegt ihnen trotzdem noch sehr fern – also tun sie nichts mehr, sagen ja, haben Angst.

Auch keine gute Idee.

Was also kannst du konkret tun?

1. Sag mehr ja

Ich bin ja auch ein bisschen unglücklich mit ‚Beziehung statt Erziehung‘. Das ist nicht präzise genug. Beziehung ist ja alles mögliche. Es geht um Beziehungsqualität. Also die Art wie wir gestalten.

Mehr ja sagen kann ein Anfang sein, die besondere Beziehung, die wir mit Kindern haben, zu verstehen. Denn Ja sagen ist bewusster Verzicht auf den Gebrauch von Macht zugunsten der Selbstbestimmung vom Kind.

Dieser Rat kommt mit Warnung: ‚Jaja‘ murmeln reicht nicht. Es geht um Ja meinen. Mich interessieren. Zulassen. Beobachten. Auch und vor allem mich.

2. Sag seltener Nein

Stell dir vor du hast 300 Neins im ganzen Leben deines Kindes. 300 Neins, auf die es hören und für die es sich interessieren soll. 300 Neins, die uns wirklich, wirklich wichtig sind.

Und denk dran – irgendwann geht es nicht mehr darum, ob das Kind den Stein anlutscht, sondern ob es die Drogen probiert. Irgendwann kannst du dein Nein nicht mehr durchsetzen, sondern musst darauf vertrauen, dass dein Kind weiß, dass du es nur sagst, wenn es wirklich wichtig ist. Irgendwann geht es nur noch um Beziehung, weil die bleibt, ehe die Machtungleichheit geht (die Idee ist von hier, übrigens).

3. Begründe dein Tun

Bei der ganzen Ja- und Nein-Sagerei, die ich für den Einstieg vorschlage, dürfen wir nicht vergessen: Es geht nicht darum, was du sagst oder wer am Ende gewinnt oder wie viel Eis gegessen wird.

Es geht um die Qualität des Prozesses dahin.

Begründe also, was du tust. Warum willst du etwas verbieten? Warum stört dich das? Wie geht es dir?

Dein Kind lernt die Prinzipien der Welt von dir. Es kann nicht wissen, dass es Prinzipien wie Eigentum, Unversehrtheit, Empathie und vieles mehr gibt, wenn du sie nicht erklärst (also, es wird das schon mitbekommen, auch wenn du das nicht erklärst, wird aber der Meinung sein, mensch könne das nur unter Zwang erlernen). Erzähl von dir!

4. Beobachte dich

Wenn du erst einmal weggehst von der Idee, du dürftest an deinem Kind herumwursteln, damit es dies und jenes lernt, dann öffnen sich vielleicht erstmal eine Menge Unsicherheiten. Ängste. Glaubenssätzen. Verletzungen.

Das macht nichts. Du brauchst es nicht richtig zu machen, es reicht, dass du es beobachtest und die Verantwortung (!nicht die Schuld!) übernimmst. Beobachte, was dich unruhig macht. Was dir Angst macht. Was genau passiert dann? Was denkst du dann? Woher kennst du das?

Das ist eine der Nebenwirkungen, die ich feiere am Verzicht auf Erziehung: Dass es heilt. Ja, es kann sein, dass es erstmal unangenehmer wird, das liegt daran, dass du deine Muster verlässt. Das ist okay. Halte durch, beobachte und gehe weiter. Es wird großartig.

5. Sorge für dich

Und das ist dann der nächste Punkt. Sorge für dich. Dein Blick auf dein Kind ist entscheidend, und du kannst nicht freundlich und zugewandt sein, wenn du das nicht zu dir bist.

Finde heraus, was dir gut tut, schreibe es auf. Und tue es. Immer wieder.

Das muss nix Großes sein. Es reicht, dir regelmäßig Pausen einzurichten oder deine Lieblingsfreundin anzurufen oder Kunst zu machen.

Selbstfürsorge ist der Kern. Sonst verlagerst du die Erziehung nur vom Kind auf dich selbst.

6. Drücke deine Gefühle aus

Eines der herausfordernsten Dinge im Erziehungsverzicht ist das Herstellen echter Verbindung. Dazu gehört in ganz großem Maße Authentizität.

Gefühle auszudrücken ohne anderen wehtun, ist eine echte Kunst. Ich persönlich habe lange dafür gebraucht – und natürlich gelingt es mir nicht immer.

Du kannst dich auf den Weg machen, indem du immer, wenn dich etwas ärgert oder beunruhigt, übst, deine Gefühle auszudrücken. Ich ermuntere dich auf keinen Fall, dein Kind zuzutexten. Es geht darum, mit dir selber klar zu kommen und deine Gefühle zu kennen.

Ich-Botschaften reichen da nicht. Was es braucht, ist ein Wissen, dass deine Gefühle okay sind – aber nicht bedeuten, dass das, was wir da denken, stimmen muss.

7. Feiere dein Leben

Einer der effektivsten Wege, aus Erziehung herauszufinden, ist, das eigene Leben zu genießen. Die große Perspektive hilft. Die, in der du niemals bereuen wirst, zu viel Zeit mit deinen Kindern verbracht zu haben. Die, in der das Leben endet. Und oft genug nicht dann, wann du das willst.

Feiere dich. Deine Familie. Mit allen Meisen und Problemen, die ihr habt. Ein anderes Leben gibt’s nicht. Dreh dir Musik auf und geh tanzen, solange du noch einen Finger bewegen kannst. Feier dein Leben. Ich meins ernst.

8. Genieße deine Kinder

Auch da gilt. Sie sind, wer sie sind.

Wenn ich anderen Eltern (und mir!) irgendeinen Gedanken per fancy technology ins Gehirn blasen könnte, wäre es der: Unterscheide zwischen dem, was du ändern kannst und dem, was du nicht ändern kannst.

Viele, viele Eigenschaften deines Kindes gehören dazu. Es wird nicht weniger willensstark, wenn du ihm verbietest, lautstark seine Wünsche einzufordern.

Ja, vielleicht wird es stiller. Vielleicht hört es auf.

Aber nicht, weil es weniger ist, wie es ist. Sondern weil es denkt, dass es nicht okay ist.

Ganz ehrlich? Das ist es nicht wert. Lass das. Feiere dein Kind wie dein Leben: Unperfekt. Der erste Schritt? Jetzt hingehen und das Lieblingsspiel anfangen. Jetzt. Feiere dein Kind und seine Liebe zu Rollenspielen. Oder zu Spaßkämpfen. Wenn du das schon nicht ändern kannst, kannst du genau so gut aufhören, dagegen zu kämfpen.

9. Frage nach der Perspektive deines Kindes

Eine der zentralen Haltungsänderungen ist Neugierde. Wenn Erziehung wegfällt, dann zugunsten der Annahme, dass Menschen sie nicht brauchen, weil sie von Grund auf gut sind.

Die Grundfrage wird also: Was an dem, was du tust, erfüllt dir welches Bedürfnis?

Das ist erstmal ungewohnt. Wir sind die Prinzipien von Strafe und die Vermischung von Mensch und Tat so gewohnt, dass dieser Perspektivwechsel sich anfühlen kann wie ein Verrat: Wenn ich nicht mehr mein Kind schimpfe, dann kann es ja gar nicht wissen, was es falsch macht? Dann sage ich ja, dass es okay ist?

Nein. Wenn du aufhörst zu erziehen, dann aus dem tiefen Vertrauen, dass Menschen beitragen WOLLEN. Sie sind sozial. Sie sind fähig. Sie sind von Grund auf gut.

Schreib es dir auf den Spiegel. Und frag dein Kind nach seinen Gründen. Was übrigens kein Ersatz dafür ist, auszudrücken, wie es dir geht. Nur hat das mit Erziehung nix mehr zu tun – ‚Alter, was ist da denn los? Oh Mist, das tat mir weh! Bist du wütend?‘ ist etwas anderes als eine Strafe.

10. Unterstelle Gutes

Das bringt Punkt 9 auf ein neues Level. Ich glaube, um die ganze revolutionäre Kraft des Erziehungsverzichts voll zu entfalten, hilft der radikale Konstruktivismus: Meine Welt entsteht in meinem Kopf.

Deswegen kann ich jedes Erlebnis mit meinen Kindern verändern, indem ich meine Gedanken verändern kann.

Dein Kind haut? Wie gut, dass es für sich sorgen kann. Dein Kind rastet nach dem Kindergarten aus? Das musste bestimmt ne Menge kooperieren und fühlt sich nun sicher bei dir. Wie schön!

Verändere deine Perspektive und ich verspreche, dass deine Welt sich verändern wird.