Spätestens, wenn dein Kind zehn Jahre alt ist, wird es Thema: das Loslassen.

Da hat dein Kind genug von den Wurzeln und will Flügel. Die Wurzelthemen Tragen, Beieinander sein, Sicherheit geben und Co-regulieren werden unwichtig. Plötzlich geht es ums Loslassen, ums Aushalten. Darum, im Hintergrund da zu sein.

Meine beiden älteren Kinder sind jetzt gerade in dem Alter. Ich lerne selbst noch ganz viel dazu und ich kann dir ein paar Ideen an die Hand geben, die uns bisher geholfen haben.

 

 

Das Schöne ist ja, dass die Unerzogen-Community gewachsen ist. Als ich angefangen habe, mich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen, waren unerzogen und bedürfnisorientierter Umgang ein ganz kleines Nischenthema, über das quasi kein Mensch geredet hat. Inzwischen ist es völlig mainstreamig, über Bedürfnisorientierung zu sprechen und in den Spiegel-Bestsellerlisten tummeln sich bedürfnisorientierte Erziehungsbücher. Außerdem geht es heute nicht mehr nur Kleinkinder und ihre Bedürfnisse. Auch Themen, die Jugendliche betreffen, finden Platz.

Wann wie viel loslassen? – Kein Platz für Schablonen

Klar ist: Gesunde Kinder entwickeln sich immer weiter weg von ihren Eltern und werden irgendwann ihr eigenes Ding machen. Aber wann sie das machen, in welchem Tempo und in welcher Reihenfolge, ist individuell und es gibt da kein Richtig oder Falsch.

Wenn du dich also fragst, wie viel Freiheit, wie viel Loslassen dein Kind braucht, dann richte dich nicht nach allgemeinen Empfehlungen und Standards. Jede*r entwickelt sich im eigenen Tempo. Das rate ich auch bei kleinen Kindern, aber je älter die Kinder werden, desto wichtiger finde ich es. Entwicklungsphasen sind nicht in Stein gemeißelt, und was wann dran ist im Rahmen der Pubertät, kann um viele Jahre variieren.

Wenn du die Idee hast, „Mit 12 kann eins aber noch nicht …!“ oder „Mit 12 muss eins aber doch schon …!“, dann bist du weg von deinem Kind und dessen individuellen Bedürfnissen und hast stattdessen Schablonen im Blick, für die Menschen passend gemacht werden sollen. Richte deine Gedanken lieber auf eure Bedürfnisse und eure Beziehung.

Bleib offen dafür, was für euch persönlich passt, wenn du dein Kind loslassen willst.

Ich selber begleite drei Kinder. Eines davon ist unfassbar selbstständig, schon immer gewesen. Sie hat schon immer Lust gehabt, Dinge selbst zu unternehmen, Sachen auszuprobieren, mit anderen Leuten mitzugehen. Sie hat nie so viel Nähe und Kuscheln und Rückversicherung gebraucht wie die anderen Kinder. Und eines dieser Kinder braucht ganz besonders viel Nähe und Rückversicherung. Unabhängig vom Alter. Es gibt dann bei uns Situationen, in denen das jüngere Kind Dinge allein ausprobiert, die das ältere Kind (noch) nicht machen möchte oder bei denen es Hilfe braucht.

Wie schaffe ich es, mein Kind loszulassen?

Ich fasse den Begriff der Freiheit sehr weit und meine vor allem Bewegungsfreiheit, Neues ausprobieren, Sachen mit sich alleine ausmachen, Dinge nicht mit Eltern besprechen. Eigentlich ist das richtigere Wort Individualisierung. Es kann schwer sein, mein Kind so weit loszulassen, dass es die Möglichkeit hat, sich diesen eigenen Raum aufzubauen, in den wir als Eltern nicht mehr reinkommen. Ein Raum, in dem Freiheit von uns Eltern, unserer Einmischung, unseren Gedanken, unserem Einfluss besteht.

1. Beobachten, was schwer ist beim Loslassen meines Kindes

Diejenigen unter euch, die unserer Arbeit schon folgen und die Weggefährt*innen sind, kennen das: Der erste Schritt ist immer das Beobachten.

  • Wie viel Freiheit kann ich aushalten?
  • Was ist für mich herausfordernd?
  • Was stresst mich an dieser Freiheit?

Je älter unsere Kinder werden, desto wichtiger wird es, nicht darauf zu gucken, was sie machen, sondern was ihr Verhalten mit uns macht.

Wie wäre es für dich, wenn dein zwölfjähriges Kind ein Wochenende allein ans andere Ende von Deutschland reisen will? In der deutschen Kartoffelkultur werden Freiheit und Selbstständigkeit ja sehr gehypt, Selbstständigkeit wird fast wie ein Fetisch behandelt. Das ist z.B. hier in Portugal überhaupt nicht so. Ich glaube, Kinder und Jugendliche können sich hier generell weniger frei bewegen als in Deutschland. Wie sieht dein kulturelles Erbe diesbezüglich aus? Welche Freiheiten sind für dich total in Ordnung?

Es geht beim Beobachten nicht darum, in gut und schlecht zu unterscheiden. Es geht nur darum, herauszufinden, wie es dir geht.

Was sind die Dinge, die mich total anpieksen, die für mich total schwierig sind? Und welche Dinge sind für mich total ok? Das ist wichtig zu wissen, damit ich zwischen den Regeln, die von überall an Jugendliche herangetragen werden („Das macht man so!“), und meinem persönlichen Befinden unterscheiden kann.

2. Was brauche ich, um mein Kind loszulassen?

Sobald du beobachten kannst, was dir schwer fällt, kannst du auch rausfinden, was dir hilft. Was brauchst du, um deinem Kind die gewünschte Freiheit mit gutem Gefühl geben zu könnnen? Denn irgendwann geht es nicht mehr darum, ob du die Freiheit geben willst oder nicht, dein Kind wird sie sich nehmen! Die Freiheit kommt für dieses Kind, diese*n Jugendliche*n, auch, wenn du im Dreieck springst. Die Frage ist dann nur noch, wie du einen Umgang damit finden kannst und wie du und dein Kind in der Kommunikation bleiben, damit auch du bekommst, was du brauchst.

Also nochmal:

  • Was brauchst du an dieser Stelle?
  • Was gibt dir Sicherheit?
  • Was hilft dir?

Wenn ich z.B. Angst habe, wenn mein*e Jugendliche*r nachts auf Partys geht: Was könnten Absprachen sein, die mich unterstützen?

Habe ich Angst, dass si*er sich in sexuelle Abenteuer verstrickt? Was kann ich tun? Wie kann ich unterstützen? Kann ich Kondome besorgen und sie offen, aber doch diskret, irgendwo lagern, wo sie ohne Kommentar genommen werden können? Oder lieber einen QR-Code zu einer Anleitung zum korrekten Penisvermessen und ein bisschen Kohle auf den Schreibtisch legen? Soll ich ein Safeword einführen, bei dessen Nennung ich sofort vorbeikomme und niemals eine einzige Frage stellen werde zu dem Vorfall, sodass si*er immer von mir in Sicherheit gebracht werden kann?

Habe ich vielleicht Angst davor, dass si*er verunglückt? Oder habe ich Sorge, dass si*er sich zurückzieht und mir Dinge nicht mehr erzählt?

Es geht hier nicht um Kontrolle, es geht ausschließlich um Kooperation.

Was kann für mich unterstützend sein? Wie können wir zusammen arbeiten? Und auch da wieder dürfen wir nicht unterschätzen, dass Kinder und Jugendliche soziale Tierchen sind, die genau wie alle Menschen kooperieren wollen. Wenn wir Erwachsenen also klar bekommen, was wir brauchen, können wir auch konkrete Vorschläge machen, was für uns hilfreich wäre und um Kooperation bitten. Das heißt nicht, dass unsere Kinder und Jugendlichen machen, was wir wollen, es geht hier nicht um Kontrolle. Es geht um reine Kooperation.

Die Beziehung zählt beim Loslassen deines Kindes

Bei kleinen Kindern kommt immer mal die Frage auf: Wie viel dürfen Kinder selbst bestimmen? Das ist meiner Meinung nach von der falschen Seite aufgezogen. Die Frage ist eher:

Wie viel Recht habe ich, in das persönliche Selbstbestimmungsrecht eines anderen Menschen einzugreifen?

An welcher Stelle habe ich das Recht dazu? Und mit welcher Begründung? Dann wird das nämlich eine moralische Frage.

Ich möchte dich bitten, den Blick weg vom Gewähren und Bekommen von Freiheiten zu lenken. Das ist komplett hierachisch und sehr, sehr abwertend gegenüber den Rechten eines jungen Menschen, ihr*sein Leben nach den eigenen Vorstellungen zu leben.

Viel sinnvoller ist es, den Blick auf die Beziehung zu richten:

  • Wie kann ich unsere Beziehung stärken?
  • Wie kann ich sicherstellen, dass mein Kind weiß, es muss nicht mit mir reden, es kann die Dinge mit sich selbst ausmachen, aber ich bin da und ich höre zu, wenn ich gebraucht werde?
  • Wie kann ich unsere Kommunikation verbessern? Kann ich per WhatsApp zwischendurch mal ein paar lustige Sachen schicken oder mal kurz einchecken? Sollen wir uns Briefchen schreiben?
  • Was sind Möglichkeiten, um uns in Verbindung zu halten? Was hilft mir, die Verbindung von meiner Seite offen zu halten? Und wie zeige ich das meinem Kind?
  • Was hilft mir klar zu haben, dass unsere Beziehung wichtiger ist als Kontrolle? Und wie zeige ich das meinem Kind?

Die Beziehung zwischen dir und deinem Kind ist das Fundament.

Diese Logik bleibt, egal wie alt die Kinder sind.

Das sind meine Vorschläge für dich. Schreib doch mal in die Kommentare, wie du das mit deinen größeren Kindern und Jugendlichen händelst, was deine Herausforderungen sind, was du beobachtest und was euch hilft. Ich bin super gespannt auf den Austausch.