Dein Kind will sich die Zähne nicht putzen lassen? Kenn ich. Kennen vermutlich fast alle Menschen, die kleine Kinder begleiten oder begleitet haben. Ganz großes Thema. Immer und immer wieder werden wir darauf angesprochen. Heute wollen wir ein paar grundsätzliche Aspekte beleuchten, die wir neben all den Tipps und Tricks zum freundlichen Zähneputzen manchmal total vergessen.

Zum Anhören bitte hier entlang:

 

Was deine Werte mit geputzten Zähnen zu tun haben

Manchmal sind die Leute regelrecht empört und wütend, wenn sie uns schreiben oder uns ansprechen. „Beim Zähneputzen hört es dann aber mal auf, da kann eins nicht immer gewaltfrei sein!“, finden sie. Kennst du das? Denkst du auch manchmal, dass irgendwo aber auch eine Grenze sein muss und dass dieses komische Unerzogen oder Bedürfnisorientiert nicht überall funktioniert?

Ich möchte dir einen Gedanken anbieten:

Werte und Haltungen werden immer dann spannend, wenn sie herausgefordert werden.

Ich kann dir erzählen, dass ich super tolerant bin und dass Toleranz total wichtig ist in meinem Leben. Dieser Wert – entschuldige, wenn ich so deutlich werde – ist aber einen Scheißdreck wert, wenn ich mich nicht um Toleranz bemühe, wenn ich wirklich herausgefordert werde von der Andersartigkeit anderer Menschen. Und das ist es, worüber wir hier reden.

Friedvolle Elternschaft, wenn alle zufrieden sind, ist keine Kunst!

Da bräuchte es unsere Arbeit nicht. Spannend wird es, wenn deine friedvolle Elternschaft herausgefordert wird, wenn dein Kind nicht funktioniert, wenn es schwierig ist, wenn du in Dilemmata gerätst. Und genau darüber reden wir beim Thema Zähneputzen. Wir reden über ein Dilemma zwischen deiner Verantwortung, deiner Macht und deiner Beziehung zu deinem Kind. Genauer gesagt ist das Dilemma meistens ungefähr so:

„Ich möchte, dass es meinem Kind physisch gut geht, dass für mein Kind physisch gesorgt ist. Das ist mein Job, das ist meine Verantwortung. Deswegen möchte ich, dass mein Kind regelmäßig die Zähne putzt. Und gleichzeitig möchte ich, dass es meinem Kind psychisch gut geht und ich habe ein Bewusstsein dafür, dass es unserer Beziehung und vielleicht auch dem Kind langfristig schadet, wenn ich es zum Zähneputzen zwinge.“

Ein Konflikt beim Zähneputzen ist nicht das Ende deiner friedvollen Elternschaft. Es ist der Anfang!

Du möchtest das eine, aber gleichzeitig das andere. Beides zusammen scheint (erstmal) unmöglich. Du steckst in einem moralischen Dilemma. Friedvolle Elternschaft ohne moralische Dilemmata ist vollkommen redundant, dann bräuchten wir nicht darüber reden. Alle Konzepte, alle Werte werden erst dann sichtbar und mit Leben gefüllt, wenn sie herausgefordert werden.

Grundsätzliches zum kindlichen Zähneputzen

Junge Menschen putzen sich nicht natürlicherweise ihre Zähne. Sie erkennen den langfristigen Benefit darin nicht. Sie verstehen nicht, wie Bakterien, Zahnbelag und Karies funktionieren, und auch nicht, dass sie durch wiederholtes Zähneputzen eventuell das Risiko einer späteren Erkrankung reduzieren. Das ist zu viel in die Zukunft projezierte Idee, nicht linear und übersteigt den Wissensstand und die Denkmöglichkeiten eines kleines Kindes. Es ist für viele Erwachsene schwierig zu verstehen!

„Wenn du ohne Schutz in den Regen gehst, wirst du nass.“ ist logisch, das verstehen wir alle, auch kleine Kinder. Aber schon beim Sport wird es schwieriger. Wenn ich heute einmal Yoga mache, reicht das nicht, um mich fit und wohl zu fühlen. Dieser Effekt tritt erst ein, wenn ich mich auch noch morgen, übermorgen und nächste Woche auf die Matte schmeiße. Und wir alle wissen, wie schwer es ist, Gewohnheiten zu etablieren, bei denen das Gehirn nicht sofort ein instant relieve empfindet.

Beim Zähneputzen kommt noch hinzu, dass es sich für viele nicht besonders toll anfühlt, sondern nur der Vermeidung von etwas Unangenehmen dient. Unser Gehirn aber liebt direkte angenehme Gefühle. Jetzt etwas zu machen, damit in der Zukunft eventuell etwas Unangenehmes nicht eintritt, ist einfach eine schwierige Übung. Schon für ein erwachsenes Gehirn. Das ist aber das, was wir jungen Menschen abverlangen.

Dein Kind putzt sich die Zähne nur, weil es dir vertraut.

Und weil es dir glaubt. Und weil es mit dir kooperieren will. Es ist so viel Vertrauen, es ist so intim. Das müssen wir uns einfach klar machen. Es ist ein ganz, ganz sensible Geschichte.

Zähneputzen ist eine gigantische Kooperationsleistung.

Hinzu kommt, dass diese Leistung jeden Tag mehrfach eingefordert wird. Das Kind kooperiert auch nicht einfach so ein bisschen, indem es etwas unterlässt oder etwas sagt, sondern indem es uns einen Gegenstand in seinen Körper einführen lässt. Kein Wunder, dass Zähneputzen unsere Themen hochbringen kann. Kein Wunder, dass wir beim Zähneputzen manchmal merken, dass wir unserem Kind zu viel abverlangt haben oder dass das gegenseitige Vertrauen schief hängt.

Wie kann das Zähneputzen friedvoller werden?

Worum geht es dem Kind? Warum weigert es sich? Wie sieht dieses Weigern aus? Tut ihm vielleicht etwas weh? Wachsende Zähne können mit ordentlich Schmerzen einhergehen. Oder geht es dem Kind darum, mitzubestimmen? Würden eine Mitspracherecht bzgl Zeit und Ort vielleicht schon helfen? Oder ist es etwas ganz anderes?

Und dann können wir anfangen, darauf einzugehen:

Kooperation allgemein

Wie viel Kooperation verlange ich insgesamt von meinem Kind? Wenn wir an einer Stelle dauerhaft und immer wieder Kooperation verlangen, macht es Sinn, zu überlegen, ob wir an anderen Stellen nachgeben können.

  • Ist mein Nein wirklich nötig?
  • Muss ich das jetzt bestimmen?
  • Wie kann ich mehr Selbstbestimmung ermöglichen?
  • Wo bin ich bereit, meinem Kind mehr Freiheit zu geben?

Manchmal – oder für einen gewissen Zeitraum – kann das der Schlüssel sein.

Zeit und Ort des Zähneputzens

Eins muss nicht morgens und abends die Zähne putzen drei Minuten lang. Jup, ich habs gesagt, ich weiß, jetzt kommen die Hassmails, aber gerade wenn der Konflikt massiv fortgeschritten ist, gerade wenn wir es mit Umständen zu tun haben, die es dem Kind schwer machen, zu kooperieren, ist es das schlicht nicht wert. Ich bin voll der Meinung, dass du nichts mit Gewalt durchsetzen musst – und jetzt kommen wir zu dem Kontext -, es sei denn, es gibt einen guten Grund. Vielleicht hat dein Kind eine akute Erkrankung oder du hast panische Angst oder es gibt eine genetische Prädisposition… Aber auch dann würde ich das Zähneputzen nicht in Stein meißeln, sondern friedvolle Lösungen suchen. Vielleicht kann das Kind acht Mal am Tag die Zähne putzen, aber dafür putzt es selbst. Oder ihr putzt mittags oder nachts im Halbschlaf.

Zähneputzen kann überall und jederzeit stattfinden.

Wir haben bei den Weggefährt*innen so viele wunderbare Beispiele von Leuten, die ihren Kindern in der Badewanne, im Fahrradanhänger, kopfüber an den Füßen aufgehängt, auf der Sofalehne, in der Trage, auf den Schultern, im Autositz und unter der laufenden Dunstabzugshaube die Zähne geputzt haben. Zähneputzen muss nicht im Badezimmer am Waschbecken passieren und es muss nicht zu dem Zeitpunkt stattfinden, den wir vorgeben.

Erschaffen wir unseren Kindern die Umstände, unter denen sie kooperieren können!

Ja, natürlich kann das mal nervig oder albern sein. Aber das Kind putzt sich nur die Zähne, weil es uns liebt, nicht, weil es den Sinn versteht. Deswegen ist es so wichtig, dem Kind die Umstände zu erleichtern, mit uns zu kooperieren.

Eigene Klarheit

Ich finde es wichtig, klar zu kommunizieren, wie verhandelbar das Zähneputzen gerade für mich ist. Was sind meine Möglichkeiten? Wie sind die Umstände? Wie viel Zeit haben wir zur Verfügung, die wir morgens vertrödeln können? Ist der Zahn vielleicht schon krank? Kann ich an anderen Stellen ansetzen? Was geht für mich und was geht nicht? Und in diesem Rahmen kann ich meinem Kind dann möglichst viel Raum geben für die Ausgestaltung seiner Kooperation.

Was kann noch helfen beim Zähneputzen?

Flexibel sein mit Zeit und Ort sind die ganz großen Ansätze, die sich als sinnvoll erwiesen haben. Möglichst viel Selbstbestimmung reinbringen und auch mal ein Auge zukneifen. Es geht eben nicht nur darum, dass der Zahn jetzt sauber ist, sondern dass das Kind uns dauerhaft vertraut und sich dauerhaft für unseren Rat und unser Wissen interessiertt. Deswegen sollten wir die Beziehung nicht immer wieder belasten für etwas, wovon die Welt nicht untergeht, wenn eins es mal nicht oder anders oder kürzer macht.

Zusätzlich ist es eine Möglichkeit, über die Ernährung zu gehen. Können wir selber Eis machen mit Xylit? Kannst du Bonbons, Marmelade, Kaugummies, Ketchup, Lollies und Gummitiere mit Xylith anbieten? (Vorsicht, wenn Hund oder Katz mit euch wohnen!)

Und dann gibt es ja auch noch schicke Zahnputzlieder, Zahnputz-Apps und spezial-Zahnbürsten in vielfältiger Auswahl. Nicht zu vergessen die 27 verschiedenen Zahnpasten! Dann ist zwar der Badezimmerspiegel nicht mehr sichtbar und den Pony musste dir blind schneiden, aber jedenfalls kaut das Kindelein so lange auf der Zahnbürste herum, bis es alle Geschmäcker ausgetestet hat.

Auch schwieriges Zähneputzen ist nur eine Phase.

Wirklich! Ich weiß, das hilft dir nicht, wenn dein Kind sich gerade schokoverschmiert und brüllend weigert, die Zahnbürste auch nur anzugucken. Aber es kann helfen, wenn in deinem Gehirn der Gedanke aufkommt : „Ohoh, jetzt wird das für immer so stressig bleiben. Entweder werden meinem Kind alle Zähne verschimmeln oder ich muss das jetzt durchsetzen.“

Diese Phase tritt bei fast allen Kindern auf, wenn Autonomie und Selbstbestimmung gerade Thema sind. Aber Kinder werden ja älter. Irgendwann verstehen sie es, wenn wir erklären, warum Zähneputzen sinnvoll ist. Mein jüngstes Kind wird jetzt sechs und ich merke ganz klar, nur weil einmal etwas ein großer Konflikt ist, nur, weil einmal etwas ein großes Thema ist, bedeutet das nicht, dass es für immer so ist.

Es hilft, im Jetzt zu bleiben.

Du musst nicht entscheiden zwischen physischem und psychischem Wohl, je mehr du das zusammen denken kannst, desto besser. Es ist kein entweder-oder-Dilemma, sondern du kannst dich jedes Mal fragen

  • Was ist es mir heute wert?
  • Wie geht es uns gerade miteinander?
  • Was bedeutet es jetzt?
  • Was sind aktuell die Dinge, die ich anbieten kann?

Und von da aus guckst du weiter. Was ist der nächste, sinnvolle Schritt? Was tut uns allen gerade gut? Das kann jedes Mal eine andere Lösung sein. Das kann phasenweise eine Lösung sein, die ganz plötzlich nicht mehr funktioniert. Das kann phasenweise die totale Verweigerung sein, der totale Kampf und dann ist es wieder ganz entspannt. Und nichts davon ist weniger wertvoll als das andere.

Bedürfnisorientiertes Familienleben beginnt nicht in der Konfliktfreiheit.

Die Art und Weise wie wir Konflikte gestalten, wie wir unsere persönlichen Grenzen und unser Wissen platzieren, unsere Verantwortung wahrnehmen ist viel, viel entscheidener, als ob etwas funktioniert und am Ende alle ach so happy sind. Wenn Funktionieren das Maß aller Dinge wäre, wären wir doch alle furchtbare Eltern. Kein schöner Gedanke.

Also: Konflikt für Konflikt. Moment für Moment.