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Disclaimer: Falls du neu auf dem Blog bist oder unsere Arbeit noch nicht kennst, wir lassen hier an der Idee von Erziehung kein gutes Haar. Falls du jetzt sagst, ich find Erziehung aber sexy und ich möchte gern, dass mein Kind am Ende macht, was ich will, dann bist du hier nicht richtig. Mach’s gut!
Stell dir vor, das Zimmer deines Kindes ist ständig unordentlich. Dich nervt das und du machst dir Sorgen, dass dein Kind später niemals Ordnung halten können wird. Also versuchst du es mit verschiedensten Methoden dazu zu bringen, sein Zimmer regelmäßig aufzuräumen. Aber irgendwie klappt das nicht so richtig..
Erziehung funktioniert nicht langfristig.
Ich halte die Idee, Erziehung könne funktionieren, für eine absolute Illusion!
Es kann sein, dass du dein Kind durch Manipulation, offene Gewalt, Bestechung oder ähnliches in diesem Moment dazu bringst, zu tun, was du willst. Es gibt sogar Kinder, die den ganzen Tag gut darauf reagieren und eifrig machen, was wir wollen. Aber das bedeutet nicht, dass du dein langfristiges Ziel erreichst, dein Fleißbienchen heute den Effekt mitbringt, den du dir für die Zukunft wünschst.
Wir haben keinerlei Kontrolle über die Zukunft unserer Kinder.
Da spielen Anlagen, Erfahrungen – auch die, die sie außerhalb ihres Elternhauses machen – eine riesige Rolle.
Einen Menschen ordentlich zu machen, ist quasi ein Ding der Unmöglichkeit.
Wie viele Erwachsene kennst du, die zu Ordnung erzogen wurden? Und wie viele von ihnen sind heute ordentlich?
Ganz grundsätzlich möchte ich dir einmal den Teppich unter den Füßen wegziehen und dir die Illusion nehmen, dass Erziehung funktionieren könnte. Wir haben die vereinfachte Idee davon, dass wir etwas in unsere Kinder reinstecken und am Ende die von uns gewünschten Sachen (in diesem Fall: ein ordnungsliebender Mensch) rauskommen. So funktioniert menschliche Entwicklung nicht, wir sind keine Computer. Aber auf dieser Illusion ruhen wir uns aus, mit dieser Illusion im Kopf reden wir uns die Gewalt schön, die wir nutzen, um unsere Kinder dazu zu bringen, zu tun, was wir wollen. Und weil ein junger Mensch super abhängig ist von uns, macht er oder sie vielleicht erstmal, was wir wollen, sodass wir denken: „YES, jetzt hab ich das meinem Kind beigebracht!“
Aber das funktioniert so nicht.
Wenn dein Kind am Ende ordentlich wird, dann hat das weniger mit deiner Erziehung zu tun als mit seinem Charakter und all den Einflüssen, denen es in seinem Leben ausgesetzt war und ist.
Erziehung funktioniert oft auch nicht kurzfristig.
Manche Kinder spielen schon bei kurzfristiger Erziehung nicht mit. Vielleicht begleitest du ja ein Kind, das sich grundsätzlich weigert, jede Form von Manipulation und Erziehungsmethoden anzunehmen, das Erziehung sofort riecht und daraufhin genau das Gegenteilige macht. Kluges Kind.
So weißt du schnell, dass Erziehung nicht funktioniert. Das ist sehr hilfreich! Andere Eltern merken erst, wenn ihr Kind 30 ist, dass alles, was sie damals gemacht haben, um kurzfristig das Gefühl zu haben, ihr Kind würde etwas lernen, für die Katz war. Ist doch super, wenn dein Kind dir das jetzt schon rückmeldet, indem es sich schlicht weigert.
Es stellt dich dadurch vor eine Wahl:
Entweder wendest du zunehmend Gewalt an oder du behandelst dein Kind als echten Menschen.
Vielleicht hast du innere Leitplanken, dir ist zB klar, dass du dein Kind nicht verprügelst, damit es macht, was du willst. Oder du bist nicht bereit, dein Kind alleine zu lassen oder zu erpressen. Aber mit deinen netten Methoden, mit denen, die für dich passen, kommst du nicht weiter. Und da wird es dann richtig, richtig interessant. Denn dein Kind entlarvt die Tatsache, dass du erzieherisch handelst, dass du deine Macht gebrauchst, egal wie nett du das machst, egal wie sehr du glaubst, dass eine Pseudowahl oder eine „Absprache“ total fair sind.
Wäre es ein echtes Verhandeln zwischen Menschen und eine echte Absprache, dann könnte dein Kind ja sagen „Nein, ich bin damit grundsätzlich nicht einverstanden!“
Deine Erziehungsmethoden können noch so nett sein, wenn es dir nicht um die Beziehung geht, sondern darum, dass dein Kind auf eine bestimmte Art und Weise agiert, ist es Gewalt!
Erziehen für den kurzfristigen Nutzen: Ist es das wert?
Ist mir das kurzfristige Ziel den potentiellen, langfristigen Schaden wert?
Ist es den Machtkampf und den Einsatz von Gewalt wert, den ich jetzt aufbringen müsste, um mein Kind dazu zu bringen, sein Zimmer aufzuräumen?
Ich habe die Erfahrung gemacht, wenn wir wirklich ehrlich sind, ist Gewalt wahnsinnig selten zu rechtfertigen.
Aber ja, es gibt Situationen, in denen ist das kurzfristige Ziel wichtiger, da bist du bereit, deine elterliche Macht anzuwenden. Das kann ein medizinischer Notfall sein oder ein Moment, in dem du absolut null Kraft mehr hast, in dem nichts mehr geht.
Was wir uns in solchen Situationen klarmachen müssen, ist, dass wir als Elternteil die volle Verantwortung haben. Das bedeutet auch, auszuhalten, dass das Kind sich wehren wird. Auszuhalten, dass das Kind nicht fröhlich zustimmen wird, wenn es gegen seinen Willen Zähne putzen muss.
Du hast dich entschieden, deine Macht über dein Kind anzuwenden, das kann angemessen und gerechtfertigt sein und trotzdem bleibt es Gewalt. Dein Kind wird es unangenehm und scheiße finden, es wird sich wehren, es wird meckern und brüllen. Das ist schwer auszuhalten. Es ist so viel einfacher, zu argumentieren, dass es ja besser sei für das Kind und dass es mal Verständnis haben und jedenfalls ein einziges Mal kooperieren könnte. Und überhaupt, warum macht das Kind uns das Leben eigentlich so schwer?
Nee, nee, nicht dein Kind macht dir das Leben schwer! Die Tatsache, dass du dich nicht damit auseinandersetzen möchtest, wie viel Macht du hast und dass du hier gerade damit beschäftigt bist, dein Kind zu manipulieren, das macht es dir schwer. Dein Kind weist dich nur darauf hin.
Verhandeln statt bestimmen
Und dann haben wir eine ganze Welt dazwischen, in der wir auf Augenhöhe verhandeln können. Da können wir sagen: „Ej, das nervt mich gerade! In deinem Zimmer gruseln sich sogar die Maden!“
Es geht dabei nicht um ein zukünftiges Ziel, es geht nicht um Funktionieren, sondern es geht darum, dass mich das Zimmer gerade stört. Von dort aus können wir anfangen zu gucken, wie wir eine Lösung jenseits vom Funktionieren finden.
Wenn wir weg wollen vom Funktionieren, was ich immer von Herzen empfehlen kann, bedeutet das nicht, dass wir weniger Konflikte haben und dass wir immer nur machen, was das Kind will. Es bedeutet, dass Hingehen zu einem „Was brauch ich eigentlich gerade?“ Oder wie die Nora Imlau immer so schön sagt:
„Was brauch ich und was brauchst du?“
Also einmal zu gucken, was genau stört mich hier? Weg zu gehen von dem „Mein Kind muss jetzt aber mal lernen, ordentlich zu sein!“ und hingehen zu dem „Was ist hier gerade mein Problem?“
Es kann sein, dass dir das verdreckte Zimmer peinlich ist, weil du gleich Besuch bekommst und du ein inneres Bild davon hast, dass du ein guter Elterteil bist, wenn es bei euch aufgeräumt ist. Dann ist das dein Problem. Da darfst du hingucken. Du darfst natürlich auch für dich aufräumen und dir Hilfe erbitten, wenn dir das gerade besser tut. Sei nett zu dir.
Es kann sein, dass du gerade auf ein Legoteil getreten bist und jede*r, die*der das schon erlebt hat, weiß, wie furchtbar das ist, und dass in dem Moment keine Empathie vorhanden ist. Da macht es wahrscheinlich Sinn, dass du erstmal runterkommst, dir einen Tee kochst und die Diskussion auf später vertagst.
Es kann auch sein, dass dein Kind ein Problem hat, weil es seine Sachen nicht mehr findet und alles verwurschtelt ist. Vielleicht braucht es deine Unterstützung, um Ordnung zu schaffen.
Wenn wir aufs Funktionieren gucken, gucken wir auf ein Ergebnis, dann wollen wir am Ende, dass das Zimmer aufgeräumt ist. Was wir dabei vergessen, ist, dass Zimmer aus sehr unterschiedlichen Gründen aufgeräumt werden können, dass die Definition von Ordnung extrem unterschiedlich sein kann und dass die Beziehung immer über dem Ergebnis stehen muss, wenn wir wirklich friedvoll miteinander umgehen wollen.
In dem Moment, in dem das Ergebnis vor der Beziehung steht, handelt es sich um Gewalt.
Ich mag dich einladen, dich zu fragen: Ist das gerade angemessen? Und wie finden wir einen Weg raus aus dem Funktionieren?
Ohne Ziel funktioniert es plötzlich.
Wenn du gerade am Anfang des Weges bist, die Beziehung vor das Ziel zu setzen, dann kann es sein, dass dein Kind sich erstmal weiter weigert, weil es noch kein Vertrauen darin hat, dass du wirklich eine Lösung finden willst. Aber wenn es sich erstmal sicher ist, dass du es ernst meinst, wenn du sagst:
- Beziehung ist mir wichtiger,
- es kommt nicht in Frage, dass ich das mit Gewalt durchsetze,
- ich will mit meinem Kind verhandeln,
- ich will, dass wir eine Lösung für alle finden,
- ich bin nicht bereit, übergriffig zu werden,
wirst du feststellen, dass das Ergebnis, das du dir wünschst, erstaunlich oft eintritt.
Aber interessanter- und paradoxerweise tatsächlich erst dann, wenn es nicht mehr um das Ergebnis geht, wenn du vollständig loslassen kannst. Wenn es nicht mehr darum geht, dass das Zimmer auf Teufel komm raus und auf der Stelle ordentlich ist. Wenn es eben nicht mehr darum geht, die Funktion vor die Beziehung zu stellen.
Eure Beziehung ist wertvoller als das Ergebnis.
Lustigerweise hören Eltern aus unserer Community immer wieder – und mir wurde das auch schon gesagt: „Mensch, Ihre Kinder sind aber toll erzogen.“ Was übrigens nicht bedeutet, dass das immer so ist. Und in dem Moment, in dem ich das mache, damit es am Ende funktioniert, verarsche ich wieder mich und mein Kind.
Das ist das Paradox antipädagogischem Miteinanders.
Niemand mag manipuliert werden. Niemand mag, wenn das Gegenüber mit einem Ziel im Kopf mit uns interagiert. Wir alle möchten als Menschen gesehen werden. Das gilt auch für dein Kind.
Du brauchst den Weg nicht allein gehen! Es gibt wunderbare Orte, an denen du Unterstützung auf dem Weg findest. Im September kannst du zB wieder in unseren Mitgliedsbereich, den Weggefährt*innen, kommen.
„In dem Moment, in dem das Ergebnis vor der Beziehung steht, handelt es sich um Gewalt.“
Was´n geiler Satz. Den schreib ich mir jetzt auf und rahme ihn mir in Gold ein und häng ihn mir mitten in’s Wohnzimmer und dann kauf‘ ich mir ne Sprühdose und geh nachts los und male alle Kindergärten und Schulen und Spielplätze dieser Welt damit an!
Hihi, wenn da mal nicht das Ergebnis vor Beziehung steht, bei dem Plan… 😉
– Ruth
Ich würde mir den Satz „Wir alle möchten als Menschen gesehen werden. Das gilt auch für dein Kind.“ einrahmen.
So simpel und vermeintlich selbstverständlich und doch hat es dieser Satz in sich und hat für mich eine wahnsinnige Sprengkraft.
Es steckt in jeder Interaktion, in jedem Satz den man mit anderen austauscht, auch in dem wie man sich an sein Kind wendet. Die Subjekt/Objekt Thematik steckt da für mich auch voll drin.
Ich habe tatsächlich so einen Sohn der mir von Anfang an gezeigt hat, nö, das mit dem Erziehen läuft nicht. Nach einigen Jahren Trials and Errors bin ich endlich zum Kompass und den Weggefährten gestoßen. Es hat eine wesentliche Veränderung seit dem stattgefunden. Danke dafür!
Liebe Viktorija, yes, das ist es. Und es ist wie mit vielen Dingen – es klingt einfach und es kann verdamm schwer sein. Schön dass du auf dem Weg bist!
– Ruth