Ohren spitzen:

 

Heute geht es um vier große Fehler, die Eltern – mich eingeschlossen – machen, wenn sie raus aus der Erziehung und rein in die friedvolle Elternschaft wollen. Es sind die vier, die uns am häufigsten begegnen und die die meisten Missverständnisse und Stress auslösen. Und: Es sind vier, die du nun vermeiden kannst. Also, los gehts!

 

Fehler Nummer 1: Zu große Schritte

Den Fehler, den ich bei friedvoller Elternschaft mit Abstand am allermeisten sehe, ist zu schnelles Gehen, sind zu große Schritte. Das ist ein riesiges Problem in der ganzen Elternschaft und irgendwie trifft es besonders auf die Eltern zu, die friedvoll(er) handeln wollen.

Ich versteh das total. Du hast dich eingelesen, du hast beobachtet, du bist überzeugt, du hast verstanden, du hast (instinktiv/intuitiv) gemerkt, dass sich etwas ändern soll. Dass du etwas anders machen willst. Und du weißt auch schon genau, was.

Im schlimmsten Fall hast du ein sehr detailliertes Bild davon, wie es „richtig“ geht. Du willst, dass es bei dir so läuft wie bei Leuten, von denen du denkst, sie seien angekommen. Du hast eine Idee davon, wo du ankommen willst, wie das aussieht. Das an sich ist ja nicht schlimm – aber: Du glaubst, es gäbe eine „richtige“ Art Elternschaft zu leben und da müssest du hin.

Dann ist es im Grunde Perfektionismus, über den wir reden. Und Angst. Angst davor unperfekte Schritte zu gehen. Angst vor dem Stolpern.

Es ist ganz normal, dass auseinanderfällt, was du in deinem Kopf richtig findest und was du in der Praxis hinbekommst.

Das liegt nicht nur an dir, es ist nicht nur eine Frage deiner Anstrengung und danach, wie gut du dich zusammenreißen kannst. Nein, es ist auch eine Frage einer Umwelt, einer Politik, einer Gesellschaft, in der Familien nicht viel wert sind und unheimlich viel Druck auf Eltern ausgeübt wird von allen Seiten. Wir optimieren alles und jeden zu unfassbar hohen Standards hin, das ist ein Ding in dieser Gesellschaft. Und du bist ein Teil davon.

Du kannst nicht zu deinem Ziel springen, es gibt keinen Schalter, der einfach nur umgelegt werden muss. „Einfach nur verstehen“ oder nur genug lesen (Notiz an mich selbst!), reichen nicht aus. Sorry. Und ausserdem ist es gemein zu dir. Denn du bist viel mehr als das Erreichen eines scheinbaren Ideals.

 

Verstehen ist nicht tun

Du brauchst Zeit, um die alten neurologischen Bahnen in deinem Gehirn zu überschreiben. Es ist biologisch unmöglich, über Nacht etwas perfekt zu können. I know, wie kacke ist das denn?! Aber so ist es.

Was du feststellen wirst, ist, dass sich dein Können in Schüben bewegt. Denk mal zurück, wie es vor einem halben Jahr bei dir und euch aussah. Siehst du einen Unterschied? Achte auf die kleinen Dinge, die sich unspektakulär verschoben haben. Wie es plötzlich kein Drama mehr ist, wenn das Kind weint oder ihr eine Lösung finden könnt, wenn es nicht in den Kindergarten mag.

Vielleicht hängst du an irgendeinem Thema ewig dran und denkst, „Oh mein Gott, ich krieg das niemals hin, meine Kinder morgens friedlich in den Kindergarten zu bringen!“ und eines Morgens ist es anders. Da hast du ganz viel geübt, ganz viele kleine Schritte gemacht, ganz viele Sachen ausprobiert, die nicht funktioniert haben, bis du an diesen Punkt kamst, an dem es klappte. Und oft ist das wahnsinnig unspektakulär.

Je kleiner deine Erwartungen sind, desto weniger gefährlich ist es.

Die Gefahr ist, wenn du startest und alles perfekt machen willst, dass du dich enttäuschst. Dass du am Ende die Schuld irgendwo suchst. Dass du denkst, friedvoll sein funktioniere ja gar nicht. Vielleicht wirst du auch wütend auf Leute, die darüber erzählen. Oder du wirst neidisch und fliegst völlig raus aus dem, worum es eigentlich geht, nämlich darum, dass dein Leben mehr deinen Werten entspricht. Damit haben andere Leute nämlich herzlich wenig zu tun.

Am Ende musst du damit leben können, mit dem, was du da tust oder lässt.

Nur darum geht es bei friedvoller Elternschaft.

 

Fehler Nummer 2: Orientierung an anderen

Der zweite große Fehler, den ich sehe, ist die Orientierung an anderen und die Idee, dass es einen bestimmten Standard an Handlungen und an Dingen gäbe, die eins tun und lassen muss, um richtig zu sein, um nicht zu erziehen, um am Ende eine Goldmedaille zu bekommen. Spoiler: Es gibt keine Unerzogen – Medaille, es gibt noch nichtmal ein Ende. Also vom Weg und vom Loslassen von Erziehung. Und das ist auch gut so – es ist eine lebenslange Praxis darin, mich und alle anderen ohne erzieherische Erwartungen anzunehmen. Was by the way sehr glücklich macht.

Natürlich brauchst du erstmal Handlungsalternativen, wenn du Erziehung hinter dir lassen willst. Da kann es helfen, Leute zu sehen oder zu sprechen, die auch friedvoll mit ihren Kindern leben. Nichts dagegen einzuwenden! Wenn du dich mit deiner Freundin unterhälst und sie erzählt, dass sie, wenn ihr Kind sie beschimpft, ein lustiges Schimpflied singt, kannst du diese liebevolle Strategie auch mal ausprobieren. Aber wenn du dann merkst, dass du dabei wütend wirst, dann ist das wohl nicht die richtige Strategie für dich. Das heißt aber noch lange nicht, dass es nicht 3000 andere Strategien und Arten und Weisen gibt, mit dieser Situation umzugehen, die genauso richtig sind.

Die Gefahr ist nun, dass du denkst, falsch zu sein, weil bei dir diese Strategie nicht klappt. Oder dass du das machen musst, um „richtig“ zu sein. Es gibt aber kein Richtig. Es gibt nur deinen Weg, der sich an deinen Werten orientiert. Und in Bezug auf diese Werte gibt es gute und weniger gute Strategien.

 

Es gibt Tausende Wege, etwas friedvoll zu lösen!

Ich benutze die Begriffe unerzogen und bedürfnisorientiert in Anführungsstrichen, weil ich die Assoziation zu bestimmten Vorurteilen vermeiden will. ZB: „Wenn eine Familie unerzogen lebt, müssen die Eltern immer alle Süßigkeiten erlauben!“ Das ist einfach nicht der Fall.

Es kann sein, dass das in eurer Situation aus irgendwelchen Gründen (deine eigene Essensgeschichte zB) nicht geht. Was wir machen müssen, ist ehrlich hinzugucken, warum das deine beste Strategie ist und ob es den machtvollen Übergriff auf dein Kind rechtfertigt. Das ist der Weg, das ist die Haltung. Nicht das Ergebnis. Nicht, dass es am Ende funktioniert. Vergiss das nicht wenn du auf deinem Weg unterwegs bist: Niemand anderes hat einen Standard oder die wahnsinnig tolle Idee oder irgendwas. Und es gibt keine Messlatte, nur deine Werte und das Wohlbefinden deines Kindes.

 

Fehler Nummer 3: Nein ist verboten!

Wer friedvoller leben möchte mit seinen Kindern, darf nicht mehr nein sagen, darf ihre*seine persönlichen Grenzen nicht mehr achten. So ein Quatsch! Aber holla, ist das weit verbreitet.

Mir begegnet das manchmal, wenn ich mich klar positioniere, dass Leute ganz, ganz böse auf mich werden und meinen, das sei nicht unerzogen, das sei nicht bedürfnisorientiert. Es gibt diese Idee, persönliche Grenzen und Klarheit darüber, was für mich ok ist, dürfe es nicht geben, wenn ich nicht erziehe. Ich muss, weil ich ja nicht erziehe, mir jeden Mist gefallen lassen ohne mal zu sagen „Ääääh, nee. Is nicht!“.

Das ist Unsinn. Es ist so verbreitet wie Unsinn. Ich kann nicht erziehen und klar meine persönlichen Grenzen markieren. Ich kann nicht erziehen und Dinge falsch finden und das benennen.

Das ist mit Abstand der gefährlichste Mythos, weil er zu unfassbarer Wut führt und eure Beziehung massiv belastet.

Du musst dich verstellen, wenn du versuchst, immer nur nett und lieb zu sein und nie zeigst, wenn du genervt bist oder auf irgendwas keinen Bock hast oder deine persönliche Grenze erreicht ist. Das ist unauthentisch und damit kriegst du ein Beziehungsproblem, denn dann begegnest du deinem Kind nicht. Dann begegnet diese Version von dir, von der du denkst, so müssest du sein, deinem Kind, aber nicht du.

So viele Probleme, mit denen zum Beispiel Weggefährt*innen kämpfen, kommen schlicht daher, dass sie sich nicht trauen, Position zu beziehen. Dass Kinder und andere ihre Grenzen überschreiten und selbst unsicher werden, was nun okay ist und was nicht. Oder gar ganz die Verantwortung übernehmen sollen.

Hinzu kommt Wut. Denn deine Bedürfnisse verschwinden ja nicht, sie lösen sich nicht auf. Du sagst dir nur ständig, „Nein, ich darf das nicht ausdrücken!“. Und das geht nicht besonders lange gut.

Was ist die Lösung? Das Lernen, über Bedürfnisse zu kommunizieren, ohne andere anzugreifen und ohne dass dein Kind sie erfüllen muss. Das ist nochmal eine ganz eigene Konversation, die du ua in unseren Bedürfnis-Workbook nachvollziehen kannst.

Was hier die Gefahr ist, ist die Idee, es gebe ein Entweder-Oder. Entweder ich achte auf mich oder ich achte aufs Kind, entweder ich sorge gut für mich oder ich sorge gut fürs Kind. Das ist unheimlich gefährlich und wahnsinnig weit verbreitet. Und: Es ist Unsinn. Denn ich kann und muss, gerade wenn ich friedvoll handeln will, auf meine eigenen Bedürfnisse achten. So gut es halt geht.

 

Fehler Nummer 4: Das ist aber falsch!

Eine weitere große Gefahr, die ich sehe, ist – und da darf ich mir definitiv an die eigene Nase packen – die Vorstellung, dass es in der friedvollen Elternschaft nicht nur richtig, sondern auch falsch gibt. Die Idee, Leute, die es anders machen als ich, sind falsch und blind und müssen missioniert und aufgeweckt werden. Uff.

Das ist psychologisch erstmal ein Stück weit normal. Wenn ich mich auf einen Weg begebe, dann sehe ich natürlich, dass andere Menschen andere Werte haben und andere Sachen machen und es ist normal, dass ich mich abgrenze. Diese Abgrenzung kann sehr wichtig sein, besonders wenn ich selbst noch unsicher bin. Aber ich glaube, es ist ein sehr großer Fehler über diese Abgrenzung hinaus in die Abwertung zu rutschen. Das ist mir persönlich immer wieder passiert, vor allem als ich noch sehr, sehr unsicher mit meinen eigenen Kindern war. Da habe ich andere Eltern bewertet und kategorisiert.

Und das ist nicht okay.

Es geht mir nicht darum zu schweigen.

Ich finde es richtig und wichtig, aufzustehen und zu sagen, wenn etwas Mist ist, vor allem wenn es um Gewalt an Kindern geht.

Aber auch während wir uns klar positionieren, können wir davon ausgehen, dass alle ihr bestes tun. Immer. Auch wenn ihr bestes gerade Mist ist. Das ist eine Balance, die wir alle miteinander lernen dürfen. Klarheit in den eigenen Werten und gleichzeitig Klarheit darin, dass andere Menschen immer ihr Bestes tun.

Lasst uns ein positives Menschenbild behalten. Auch wenn das manchmal schwer ist.

Das waren die vier große Fehler, die mir immer wieder auffallen, die ich auch alle selbst gemacht habe. Fällt dir noch einer ein? Ich freu mich total, wenn du mir sie in die Kommentare schreibst.