Hier kommt die Hörversion:

 

„Mein Kind ist irgendwie auffällig, hat Schwierigkeiten in der Schule. Vielleicht würde es helfen, es medikamentös zu unterstützen?! Aber dafür braucht es eine Diagnose.“

Ich habe schon öfter darüber gesprochen und geschrieben, warum ich Diagnosen im Rahmen von Neurodiversität schwierig finde, wann ich sie für angemessen halte und wann nicht. Ich habe keine generelle Antwort, natürlich nicht. Hier will ich trotzdem einen sehr subjektiven Blick darauf geben.

Ich glaube, wir brauchen Klarheit darüber, für wen die Diagnose ist. Gerade bei jüngeren Kindern habe ich nicht den Eindruck, dass eine Diagnose für das Kind geschehen kann, sie hilft eher dem Gesundheitssystem, den Eltern mit ihren Ängsten und den Institutionen, die das Kind besucht. Was nicht verkehrt ist! Wir müssen nur klar haben, warum wir das wollen.

Aber heute soll es um meinen persönlicher Zugang zu Neurodiversität gehen. Und meine Geschichte.

Meine Geschichte

Ich will euch meine Geschichte erzählen:

Ich habe viele Jahre mit keiner Person außerhalb meiner Familie gesprochen. Auch in der Schule sprach ich nur mit Kindern, die ich richtig gut kannte. So kann sich das ändern, denn heute rede ich ausgesprochen gern, wie ihr wahrscheinlich wisst 😉

Mit drei Jahren fing ich an, mir Lesen und Schreiben beizubringen, weil ich meine ausgedachten Geschichten aufschreiben und wissen wollte, was in den Büchern meiner großen Geschwister steht. Da war meine Liebe zum Lesen geboren. Meine Eltern haben mir sehr schnell eine Obergrenze von zehn Büchern pro Woche auferlegt, die ich mir ausleihen durfte aus der Bücherei, was ich umging, indem ich mir Bücher aus dem Bücherschrank meiner Eltern schnappte, wenn sie nicht aufpassten. So habe ich schon sehr jung die interessantesten Dinge gelesen (Freud war sehr verstörend…).

Ich wurde enorm unruhig, sobald ich Besuch hatte. Den wollte ich nach zehn Minuten wieder loswerden, weil es mir viel zu anstrengend war, mit anderen zu spielen. Es war so schwer für mich, Kinder zu verstehen. Deswegen hab ich mich eher an Ältere gehalten, aber auch bei denen war und ist es eine bewusste Anstrengung zu entziffern, was sie meinen, wenn sie ihre Emotionen ausdrücken. Für mich war das ganz normal – ich war der Meinung dass es ja allen so gehen muss. Ich hab mich als Kind nicht als ungewöhnlich empfunden. Ich hab schon gemerkt, dass ich ein bisschen anders war, aber es waren halt alle irgendwie anders und deswegen war das so ok. Auch die Rückmeldung, mit mir stimme doch etwas nicht, die ich teilweise von Menschen bekam, hat daran nichts geändert. Bis heute denke ich nicht, dass ich krank oder falsch bin. Warum auch.

Meine Eltern

Das habe ich zu einem großen Teil meinen Eltern zu verdanken, denn die hatten nicht den Eindruck, ich sei verkehrt, als ich klein war. In meiner frühen Kindheit, als ich die auffälligste Ausprägung hatte, haben sie mein Verhalten nie als problematisch empfunden, sondern dachten einfach, ich sei eben ein bisschen schüchtern und läse gern. Die Antwort meiner Mutter auf die Frage, warum ihr das nicht aufgefallen sei, war: „Manche lesen eben mit 3 und manche mit 8.“ Das stimmt natürlich. Und das war mein großes Glück!

Meine Mutter erklärt das mit ihrer Überzeugung als Christin: „Wie Gott einem die Kinder gibt, so sind sie halt. Man sollte nicht daran zweifeln, wie sie geschaffen sind.“ Deswegen sah sie es als ihren Job an, mich zu begleiten, nicht mich zu verändern. Das ist wirklich ein riesiges Geschenk, was mir meine Eltern da gemacht haben! Bis heute findet sie es eher komisch wenn ich sie danach frage wie ich als Kind war und sagt „na eben du!“. Was man nicht bestreiten kann.

Es wurde damit gearbeitet, wie ich eben war. Das hat sich ein bisschen verloren, als ich älter wurde, da hatten meine Eltern mehr Erwartungen an mich: Es war nicht mehr ok, dass ich einfachste Alltagssachen weniger gut konnte, als andere. Und gleichzeitig wurden die einzelnen Fähigkeiten, die bei mir ausgeprägter sind, als bei anderen, in denen ich als hochbegabt gelte, hochgelobt und meine Eltern erwarteten hohe Leistungen von mir. Das war für mich sehr schwierig zu navigieren.

Meine Schulzeit

Ich wurde in eine Waldorfschule eingeschult. Die Lehrkräfte der staatlichen Grundschule fanden mich weniger normal und wollten darüber eine Diagnose haben, weil ich in einigen Bereichen sehr begabt war, in anderen offensichtlich große Schwierigkeiten hatte. Meine Mama hatte Sorge, dass ich dort eine Klasse würde überspringen müssen und mir sehr viel Leistung abverlangt würde. Also kam ich in die Waldorfschule.

Meine Mutter hat dann dafür gesorgt, dass ich jahrelang nur zwei Stunden täglich zur Schule ging, die ich überwiegend mit Lesen verbrachte. Die Menschen um mich herum waren mir zu viel und beim Lesen konnte ich mich ausklinken. Leider waren die Lehrer*innen damit nicht einverstanden. Also habe ich so lange den Unterricht gestört, bis ich rausgeflogen bin, um dann dort in Ruhe zu lesen. Sehr nervig für andere, sehr effektiv für mich!

Ich kann in enorm kurzer Zeit enorm viel schaffen, kann mich aber nicht lange konzentrieren – das nennt sich Hyperfokus. Ich hab zB meine Abiturprüfungen, die auf 6 Stunden angelegt waren, in maximal 3,5 Stunden fertig geschrieben. Ich hab immer viel, viel kürzer gebraucht für alles, was enorm viel Konzentration gebraucht hat, und war dann dort auch extrem gut. Je krasser der Druck und der Stress von außen, desto besser war ich. Das war na klar in der Schule von Vorteil, irritierte mich und andere aber auch immer wieder. Hausaufgaben machte ich nie und wenn dann in 3 Minuten, Tests bestand ich in der halben Zeit mit fliegenden Fahnen. Toll? Nicht wirklich. Die eklatante Ungerechtigkeit im Bildungssystem wurde mir nur bewusster dadurch. Und das Ganze hat eine andere Seite: Ich hab nämlich mit anderen, ganz alltäglichen Dingen so meine Probleme.

Meine Schwierigkeiten mit sozialer Interaktion

Alle sozialen Interaktionen haben mir schon immer enorme Kraft abverlangt.

  • Das Enträtseln sozialer Situationen mit mehreren Ebenen bringt mich ins Schwitzen.
  • Ich weiß oft nicht, was in bestimmten Momenten angemessen ist.
  • Nonverbale Kommunikation erscheint mir rätselhaft.
  • Ich habe schon Menschen enorm verletzt, weil ich bestimmte Kommunikationscodes nicht lesen konnte (allen voran versteckte Erwartungen)
  • Ich fasse Menschen nicht gern an, auch Umarmungen mag ich nicht so.
  • Ich brauch manchmal schon nach zehn Minuten Menschenkontakt eine Pause.
  • Blickkontakt zu halten, fällt mir schwer. Weil ich gelernt habe, dass Menschen es nicht mögen, wenn ich ihnen ausweiche oder woanders hingucke, starre ich ihnen super creepy in die Augen. Auch nicht besser!
  • Ich kann kaum erkennen, wenn mich jemand manipuliert oder belügt, deswegen wirke ich recht naiv.
  • Beziehungen zu halten, finde ich schwierig. Kontakt aufbauen ist anstrengend für mich.
  • Ich kann mich manchmal nicht richtig zeigen, weil ich massiv beschämt wurde von meinem Umfeld für mein Sein, für meine Schwierigkeiten, Sachen zu verstehen, die alle anderen offensichtlich ganz selbstverständlich erkennen. Besonders in Gruppenkontexten kam das vor und hat mich nachhaltig beeindruckt.

Wenn ich mich bewusst auf Kommunikation einlasse, kann ich inzwischen Emotionen und Ironie entziffern. Ich hab da einen Mechanismus eingeübt und analysiere Gesichter. Es scheint relativ typisch für weiblichen Autismus zu sein, dass er kaum auffällt und die Betroffenen gar nicht autistisch wirken, wie eins sich das vorstellt. Sie – wie übrigens auch viele männliche Menschen im Spektrum – haben also keine Ähnlichkeit mit Raymund, der hochbegabten, emotionslosen Hauptfigur des Films Rain Man, der das gesellschaftliche Bild von autistischen Menschen stark geprägt hat.

Diagnose

Ich habe keine Diagnose, weil meine Eltern mich nicht schwierig oder anders fanden. Ich kann also nicht sagen, ich bin Autistin. Wenn Menschen sich über mein Verhalten wundern, bezeichne ich mich trotzdem manchmal als autistisch, denn ich erkenne mich in bestimmten Merkmalen, die auf dieser Ebene des Neurodiversitätssprektrums liegen, wieder.

Ich verorte mich auf dem autistischen Spektrum und ich finde nichts an meiner Art zu sein ist krank, nichts an mir ist falsch.

Ich mag den Begriff Neurodiversität, weil er alle Menschen als neurodivers betrachtet und zB Autismus als eine natürliche Form der menschlichen Diversität und nicht als pathologisch versteht.

Vielleicht hab ich mal Lust, an einem gleichwürdigen Diagnoseverfahren teilzunehmen, in dem es nicht darum geht, was falsch ist an mir. Es gibt ein paar Tipps von euch aus der Community, wo ich Menschen finden kann, die so etwas anbieten. Ich würde das machen, einfach weil ich neugierig auf mich bin, weil ich etwas über mich herausfinden will und weil es nicht so einfach ist, mich selbst zu sehen. Ich kann ja nur von innen auf mich gucken. Vielleicht hilft da eine Einschätzung von außen.

Ich sehe meine Schwierigkeiten in sozialen Interaktionen, aber ich sehe nicht, wie mir eine Diagnose darüber hinweg helfen könnte.

Bei einem konkreten Problem hilft es mehr, dieses anzugehen, als mit Diagnosen zu werfen.

Das ist mein persönlicher Umgang. Und das ist auch der Hintergrund, warum ich immer wieder sage, dass Diagnosen bei Kleinkindern besonders im Neurodiversitätssprektrum nicht für die Kinder selber sind, weil die an und für sich kein Problem haben. Manchmal stellen sie eins dar für die Erwartungen ihrer Eltern, für die Institutionen, die darauf angewiesen sind, dass die Kinder bis zu einem bestimmten Grad funktionieren, oder für das Gesundheitssystem, das über Diagnosen funktioniert. Wenn ein Kind Unterstützung braucht durch zB Medikamente oder ein*e Integrationshelfer*in in Kindergarten oder Schule, dann braucht es eine Diagnose. Aber diese Diagnose ist nicht direkt für das Kind.

Eine Diagnose kann Menschen enorm einschränken und gleichzeitig so hilfreich sein für Familien.

Wenn ich mir vorstelle, ich wäre mit der Idee aufgewachsen, autistisch zu sein, ich hätte so vieles nicht versucht, weil ich gedacht hätte, Autist*innen können das halt nicht. Ich hätte nicht gedacht, „Oh, Emotionen lesen ist schwierig für mich, mal gucken, wie ich es trotzdem schaffen kann.“ sondern ich hätte mir selbst den Stempel „Autistin“ gegeben und damit ein „Ich kann das nicht!“ verfestigt.

Ich glaube, eine Diagnose kann eine sehr enge Schublade sein. Vor allem dann, wenn wie bei Autismus oder ADHS bestimmte männliche Prototypen auf die Person projiziert werden. Das kann zu einer self fulfilling prophecy werden.

Und gleichzeitig kann es so hilfreich und beruhigend sein für Familien, endlich zu wissen, warum sich ihr Kind verhält wie es das eben tut. Gerade älteren Kindern kann es weiterhelfen, eine liebevolle, ressourcenorientierte Diagnose zu erhalten. So viel Erklärung für so viele merkwürdige Dinge. Ich erlebe selber, wie die Beschäftigung mit Autismus mich erleichtert. Also ja, Diagnose ist nicht immer falsch.

Jede*r von uns hat eine bestimmte Buntheit im Kopf und keine*r hat Bock, in beschränkenden Schubladen zu sitzen.

Wenn wir das im Hinterkopf haben und wenn wir an die Ressourcen und die Stärken der jeweiligen Diversitätsausprägung denken, dann können wir auch als Gesellschaft ganz wunderbar an diesen Ausprägungen wachsen.

„Warum sind denn jetzt plötzlich alle hochbegabt und hochsensibel, haben ADHS, Dyskalkulie oder sind Autist*innen oder was auch immer?“

Ich glaube, das war schon immer so, aber dieser wahnsinnige Normalisierungsdruck wird weniger. Im Deutschland des Faschismus galt die Vereinheitlichungen von Menschen, das können wir immer weiter hinter uns lassen und werden stattdessen neugieriger auf das, was Menschen mitbringen, was sie schon sind. Wir erlauben uns mehr, unsere Diversität auszudrücken.

Wir werden nicht diverser, sondern wir geben uns mehr Raum zu sein, wie wir sind.

Und das ist etwas ganz, ganz Wunderbares!