Tadaaaaaa! Hier könnt ihr euch den Artikel anhören.
Mein großes Kind wird bald elf und kommt so langsam in die Vorpubertät. Alles neu für uns. Und ich lerne ein paar neue Dinge, die ich mit dir teilen werde. Ich wachse da gerade rein und stehe noch ziemlich am Anfang des Weges. Meine Beobachtungen und Gedanken, die ich dir heute hier aufschreibe, sind also noch nicht zuende gedacht und brauchen vielleicht irgendwann ein Update.
Also, wie geht friedvolle Elternschaft jenseits der 10 Jahre? Los geht’s!
1. Flexibilität
Die meisten kleinen Kinder kleben an ihren Bezugspersonen, sie haben ständig Bedarf nach Kontakt, Begleitung, emotionaler Co-Regulation, wollen kuscheln, auf den Arm, gemeinsam spielen, erzählen… Irgendwann sind die Eltern erschöpft und können nicht mehr geben, das heißt, das Kontingent wird von ihnen festgelegt.
Das ist anders mit älteren Kindern. Die Beziehungsmomente zwischen einem größeren Kind und seinen Bezugspersonen sind nicht mehr durchgehend.
Der ständige Rückbezug auf die Beziehung zu den Eltern wird weniger.
Du kannst dann nicht mehr immer dann an dein Kind andocken, wenn du das willst, weil es sowieso dauerhaft um dich herumwuselt, sondern musst flexibler werden und schauen, wann dein Kind offen für dich ist. Das kann in den unpassendsten Momenten sein, aber genau dann, wenn dein Kind bereit ist, solltest du es auch sein.
Sei präsent, wenn du gebraucht wirst.
Deine Beziehungsangebote müssen nicht nur zeitlich flexibler werden, sondern auch inhaltlich. Und außerdem wird die Kunst, zwischen den Zeilen zu erkennen, was dein Kind gerade bewegt:
- Hat mein Kind Lust auf ein Gespräch?
- Braucht es Körperkontakt?
- Will es mir etwas zeigen?
Also quasi genauso wie bei einem kleinen Kind, aber du hast weniger Zeit. Denn jetzt redet dein souveräner und unabhängiger werdendes Kind nicht mehr nur ein Wörtchen, sondern gleich einen ganzen Haufen mit. Nicht mehr nur du bestimmst, sondern auch und vor allem dein Kind, wie ihr in den Kontakt kommt.
Womit wir beim nächsten Punkt wären.
2. Souveränität
„Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen:
Wurzeln und Flügel.“
— J. W. von Goethe
Im Gespräch mit den Weggefährt*innen hat sich gezeigt, manchen Eltern fällt es leichter, ihrem Kind die Wurzeln zu geben, anderen, die Flügel zu schenken. Die Wurzeln brauchen Körperkontakt, Nähe, ständiges Eingehen auf einen jungen Menschen, die Flügel zeigen sich besonders im Loslassen.
Diese Herausforderung wird ab einem Alter von etwa zehn Jahren wirklich groß. Loslassen und fühlen, was kann dein Kind gerade alles allein machen? Und zwar auf einer ganz anderen Ebene, als bei einem Dreijährigen, der sich allein die Jacke anziehen will. Es kann eine Herausforderung sein, zu merken, dass dieser Mensch dich gar nicht mehr so dringend braucht.
Das ist ein sehr schöner Zeitpunkt, um deine eigenen Glaubenssätze schon mal anzugucken:
Wer bin ich jenseits meiner Elternrolle?
Denn irgendwann sind die Kinder aus dem Haus und du bleibst da. Dann ist es doch schön, wenn von dir noch etwas übrig ist und du deine Ideen, Wünsche und Vorstellungen neben deiner Elternrolle noch erkennst.
Es ist an der Zeit, dein Kind als weiter entwickelten Menschen anzusehen mit der wachsenden Fähigkeit, sich abzugrenzen und eigenes, kritisches Denken zu entwickeln. Es ist an der Zeit, anzuerkennen, dass dein Kind anfängt, seine Entscheidungen ohne dich zu treffen.
Die Fähigkeit des Loslassens darfst du genau jetzt anfangen, zu üben, denn du wirst sie noch öfter brauchen.
Das kann sehr herausfordernd sein, besonders für die (meist weiblich sozialisierten) Menschen, die gelernt haben, dass es sie wertvoll macht, wenn sie gebraucht werden. Sieh es als Chance, deine eigenen Geschichten, die du hinter dem Verhalten deines Kindes entdeckst, anzuschauen.
3. Zeit und Raum
Während der Beziehungstank eines sehr kleines Kindes beständig und intensiv von den Bezugspersonen befüllt werden muss, führt die zunehmende Fähigkeit des älteren Kindes sich Bedürfnisse anders und eigenständig erfüllen zu können dazu, dass sich die Zeit und der Raum, wenn Eltern und ältere Kinder sie miteinander verbringen, anders verhalten.
Die geringere Zeit bekommt eine größere Tiefe.
Plötzlich macht das Kind sein eigenes Ding: Freund*innen besuchen (wenn eins nicht gerade in einer Pandemie steckt), sich Projekte überlegen und allein durchziehen, in Ruhe lesen etc, ohne Störung am PC daddeln, mit Freund*innen chatten, die Zimmertür schließen und allein sein wollen.
Wenn dein Kind mal offen für dich ist, wird von dir Präsenz auf Knopfdruck erwartet. Das kann anstrengend sein, aber du wirst merken, dass der Raum, der dann da ist, eine andere Tiefe bekommt, weil du einem Menschen begegnest mit einem souveränen Denkapparat. Mit einer eigenen Haltung zur Welt, mit eigenen Fragen, mit eigenen Eigenschaften, mit einer eigenen Geschichte. Spannend!
4. Verzeihen
Wenn du die Entfernung bemerkst zwischen dir und deinem Kind – zwei souveränen Menschen – ist es wichtig, dass du dir verzeihst, was du alles nicht gut gemacht hast.
Du kannst jetzt spüren, ob das, was du gemacht hast, trägt. Und manchmal ist die Antwort nein.
Das ist schmerzhaft, denn du kannst die Zeit nicht zurückdrehen. Ich würde dir so gerne sagen, du habest alle Zeit der Welt, du könnest alles noch rumreißen, aber so ist es nicht. Wenn du erst angefangen hast, dich mit dir selbst und mit friedvoller Elternschaft auseinander zu setzen, als dein Kind schon ein paar Jahre alt war, dann fehlen diese Jahre jetzt. Ich merke das bei meinen eigenen Kindern, ich kann das, was ich kaputt gemacht habe, nicht wieder aufholen.
Das ist aber natürlich kein Grund, aufzuhören mit dem friedvollen Begleiten deines Kindes.
Deine Werte sind trotzdem deine Werte und es ist trotzdem wichtig, was du JETZT machst!
Du hast bestimmt schon immer versucht, das beste zu tun, was du kannst. Durch neue Informationen hat sich das, was du als richtig empfindest, geändert. Also musst du jetzt nach deinem neuen Gewissen handeln.
Diese Verschiebung deiner Werte kann dazu führen, dass du Raum brauchst, um zu trauern, dass du Raum brauchst, um dir zu verzeihen, dass du Raum brauchst, um die Folgen zu sehen, ohne sie noch direkt verändern zu können.
Was du aber doch noch verändern kannst, ist heute die Verantwortung zu übernehmen. Mit einem älteren Kind kannst du über deine früheren Werte sprechen: Du kannst erzählen, was passiert ist und warum, du kannst fragen, wie dein Kind das erlebt hat. Wichtig! Die Wahrnehmung deines Kindes ist richtig! Bitte bemüh dich, sie nicht klein zu machen, nicht schön zu reden. Aber sei gut zu dir, Scham hilft nicht weiter!
Um dir zu verzeihen, lass die Trauer zu und mache dann den nächsten Schritt.
Was sind deine Erfahrungen? Was sind deine Tipps? Schreib gerne dazu etwas in die Kommentare.
Lasst uns miteinander wachsen!
Bei meinem fast 14jährigen, Zeit seines Lebens autonomen (nach Juul) Sohn ist die Pubertät ein Geschenk für die Beziehung. Nähe, Berührung, Trost, Zuwendung haben sich bei ihm ganz anders dargestellt als bei den kleineren Geschwistern. Er war gern für sich, hat die Dinge mit sich ausgemacht, brauchte meinen schützenden Rahmen – aber bitte nur von Außen, mit Abstand. Jetzt verändert sich das. Er braucht Nähe, Austausch, er schenkt mir sein Herz und ich darf plötzlich mit ihm sein, nicht mehr nur im Hintergrund schützen. Das ist so anders, so großartig und nach vielen schweren Lehrjahren so so befreiend und heilend. Für uns beide.
Liebe Ruth, vielen lieben Dank für deine wertvolle Arbeit! Meine „geoße“ Tochter ist erst 3,5. doch auch hier beginnt die Abnabelung langsam schon. Natürlich immer wieder mit der Rückkehr in den sicheren Mamahafen. Ich würde behaupten, vieles „richtig“ entsprechend meiner Werte gemacht zu haben. Doch durch die Geburt des zweiten Kindes ist einiges ins Ruckeln gekommen und ich habe manchmal das Gefühl die Bindung etwas zu sehr strapaziert zu haben. Verzeihen. Und nach vorne blicken. Danke!! 🙏
Liebe Grüße aus Berlin
Katharina
Ja hallo liebe Ruth und Mitleser*innen!
Ja, friedvoll ist nicht immer einfach, vorallem wenn es darum geht seinen eigenen Bockmist anzuerkennen, zu Heilen und zu revidieren!Dennoch ist es schön, wenn man merkt das auch einiges gut gelaufen ist!
Meine Tochter, die ich leider allein begleite, wird bald zehn und da finde ich genau diese Flexibilität herausfordernd… auf beiden Seiten gibt es Grenzen die wir natürlich zwischendrin ausmachen, vorallem aber 1mal die Woche in unserem Familienrat.Dort planen wir die Woche, reden aber auch über empfundenes gutes, wie nicht gut gelungenes und was wir uns sonst so wünschen…
(Immer wieder mit der Möglichkeit Ziele auch umzuformulieren)
So habe ich das Gefühl dass sie sich mehr als Teil unserer Gemeinschaft fühlt und Bindungs und Vertrauensthemen auf beiden Seiten gesünder heilen Können…irgendwie war sie viel (wie ich damals) Alleinkämpferin, mehr und mehr wachsen aber -wie bei Franzi- tiefe Gespräche, Spiegelungen und Begleitwünsche…
Vielen Dank an dieser Stelle für deine wundervolle Arbeit, welche ich zwar still dennoch aber schon seit einigen Jahren gut als Impulse nutzen konnte !
Ganz lieben Gruß aus Bonn
Andrea
Liebe Andrea, das klingt so schoen! Ich geniesse das Alter so sehr.
– Ruth
Liebe Ruth,
mein Kind ist noch klein, aber ich frage mich wie genau ich später merke, was ich richtig bzw. falsch gemacht habe. Wenn mein Kind sich stark zurückzieht oder noch sehr stark an mir „hängt“? Wenn es Probleme hat Vertrauen zu anderen Menschen zu fassen oder kaum Freunde hat? Woran kann ich mich da orientieren?
Danke für den tollen Artikel!
Moin Janet!
Das ist u.a. das Problem – du kannst das nicht messen am Kind. Nur an deinem Gewissen. Meine Frage waere, warum du das wissen willst.
– Ruth
Ich glaube ich würde dazu neigen „typisches“ Verhalten in der Pubertät als Fehler meinerseits zu interpretieren. Auch wenn das vielleicht gar nicht der Fall ist. Aber der Schlüssel da ist wohl seinem Kind zu vertrauen….
…ich liebe diesen Blogbeitrag! Der letzte Teil …mit der Trauer und sich-selbst-verzeihen hat mich besonders berührt! Habe einen Kloß im Hals. Danke! Für all die richtigen Worte, für die friedvollen- so guten Gedanken!
Liebe Namensvetterin, das freut mich sehr. Ja, ich glaube dass wir die Trauer oft uebersehen. Dazu werde ich nun auch mehr arbeiten.
Gruesse, Ruth
Liebe Ruth,
vielen Dank für diese Sicht auf diese spannende Zeit!
Meine Tochter wird 8 Jahre und es ist deutlich spürbar, wie sie sich immer mehr ihren eigenen Raum mit Zeit für sich alleine füllt. „Ich geh dann mal was spielen…“ Okay?
Das war zu Beginn völlig neu für mich. Da ich eher die Herausforderung beim Loslassen sehe und ziemlich im engen Kontakt mit meinen kids aufgehe, bin ich gespannt, was mich da noch erwartet. Dein Artikel nimmt mir hier den Schrecken vor der Veränderung und zeigt die kleinen Schätze dieser Zeit auf. Diese Balance zwischen präsenz sein und Raum geben – so wichtig! Ich bin froh, dass ich so mit meinen Themen automatisch in Kontakt komme, habe aber auch Respekt davor. Auf jeden Fall super spannend!
Liebe Grüße
Michaela