Dein Kind hört nicht auf dich und du flippst aus? Du willst, dass dein Kind dich anguckt und wirst wütend, wenn es das nicht tut? Was ist da los?

Im Austausch mit euch fällt mir immer wieder auf, dass unser aller Bedürfnis nach gesehen und gehört werden oft so unerfüllt ist, dass wir fies und gemein zu unseren Kindern werden.

 

Ich will heute überhaupt nicht darauf eingehen, dass dein Kind vielleicht gute Gründe hat, dir nicht zuzuhören, woran das liegen könnte und dass es meistens nicht ums Zuhören geht, sondern du allermeistens Gehorsam erwartest, wenn du davon sprichst, dein Kind würde nicht hören. Darüber haben wir schon viel geschrieben.

Was mir aber immer wieder auffällt in unserer Arbeit, wenn ich im Austausch mit euch bin, wenn ich in den Weggefährt*innen mit euch arbeite: Immer und immer wieder merke ich, dass wir gesehen und gehört werden müssen, um zufrieden zu sein. Und ich sehe auch, dass dieses Bedürfnis oft so unerfüllt ist, dass wir so heftig reagieren. Dass wir anfangen, gemein zu werden. Dass wir Sachen machen, die nicht in Ordnung sind.

Ungesehene Bedürfnisse machen wütend!

Ich hab das selbst erlebt. Ich kann mich daran erinnern, wie es mich vor vielen Jahren aufgeregt hat, als mein ältestes Kind, das jetzt zwölf ist, noch ganz, ganz klein war, weil ich wollte, dass er mich anguckt, wenn ich etwas zu ihm sage.

„Guck mich gefälligst an, wenn ich mit dir spreche!“

In meiner Kindheit hab ich diesen Satz oft gehört. Obwohl ich weiß, dass es gerade für neurodiverse Menschen wie mich extrem schwierig ist, andere Menschen anzugucken, obwohl ich weiß, dass es eine Erniedrigung ist, andere Menschen angucken zu müssen und obwohl ich weiß, dass es nichts damit zu tun hat, ob die Person mir wirklich zuhört und sich für mich interessiert, halte ich Angucken als Zeichen dafür, dass ich gesehen und gehört werde, irgendwo in meinem Hinterkopf. Und es ist immer und immer wieder aufgeploppt.

Willst du auch, dass dein Kind dich anguckt? Wirst du wütend, wenn es nicht antwortet? Wirst du sauer, wenn du deinem Kind sagst, es solle etwas nicht tun, es das aber trotzdem macht? Und denkst du dann so etwas wie „Ich werde nie gesehen! Ich bin der Arsch für alles! Ich bin das Opfer! Ich habe es so schwer!“?

Wenn solche negativen Sätze voller Selbstmitleid aufkommen, wird es richtig, richtig spannend.

Dein Bedürfnis gesehen zu werden und dich geliebt zu fühlen ist valide! Es ist wichtig zu verstehen, dass in den meisten Erwachsenen unfassbar hungrige innere Kinder stecken, die nicht gesehen und geliebt und anerkannt wurden für ihr bloßes Sein und denen früher nicht unterstellt wurde, dass sie ihr bestes tun, wenn sie sich gerade unmöglich benahmen. An deren Seite keine liebevolle Person stand, wenn ihr Verhalten unverständlich war oder nicht in Ordnung.

Die meisten von uns haben mehr oder weniger eingeschränkte Liebe und eingeschränkte Bedürfniserfüllung erlebt.

Und viele von uns mussten lernen, wie sie sich ihre Bedürfnisse mit Ersatzhandlungen erfüllen lassen. Da wird es ganz, ganz spannend in Richtung Suchtverhalten, Essstörungen etc. Natürlich kann dich eine solche Situation auf diese Wunde aufmerksam machen. Und zu sagen, die Wunde soll nicht da sein, die soll jetzt weg, ich bin doch jetzt erwachsen und sollte mich nicht so anstellen, schlägt die Wunde noch tiefer, weil du dich ja wieder nicht siehst und dir wieder den Raum nimmst und wieder dein Bedürfnis übergehst.

Interpretation von Verhalten

„Ich werde nicht gesehen und gehört.“ ist in circa 95% der Fälle eine Interpretation.

Manchmal ist es bestimmt so, dass dein Kind abgelenkt ist in irgendeiner Form und dich deswegen tatsächlich nicht hören kann oder dich streng genommen zwar hört, aber das Gehörte nicht bis ins Bewusstsein vordringt. Das lässt sich relativ einfach beheben und das sind nicht die Momente, die dich wütend machen.

Das wichtigste Instrument friedvoller Elternschaft ist die Differenzierung zwischen dem Verhalten anderer und der eigenen Interpretation davon.

Wütend wirst du, wenn du in das Verhalten deines Kindes hinein interpretierst, nicht wertvoll zu sein, nicht respektiert und geliebt zu werden. Diese Interpretation ist es, die dich gewalttätig macht, die dazu führt, dass du ausflippst, dein Kind beschimpfst, es erniedrigst, dass du erzieherische Maßnahmen anwendest, um kurzfristig diesen schrecklichen und belastenden Gedanken loszuwerden. Dein Kind muss Dinge tun, damit es dir besser geht.

Das ist auf ganz vielen unterschiedlichen Ebenen schädlich: Für dich, weil du dich abhängig davon machst, dass dein Kind sich so verhält, wie du das brauchst, um dich wieder wohl zu fühlen. Es ist für das Kind total schädlich, die Verantwortung für das Wohlergehen eines erwachsenen Menschen zu bekommen. Es ist für eure Beziehung unfassbar schädlich und zusätzlich ist es ineffektiv. Es ist nicht hilfreich, niemand hat langfristig etwas gelernt.

Bedürfnisse lassen sich vielfältig erfüllen

Bedürfnisse als Grundlage von menschlichen Handlungen und menschlicher Kommunikation sind relativ allgemein. Wenn du also merkst, das Bedürfnis nach gesehen und gehört werden ploppt auf, dann muss dir das nicht dein Dreijähriges erfüllen, indem es dir gehorcht. Und dann muss dir das nicht dein Dreizehnjähriges erfüllen, indem es freundlich zu dir ist. Und dann muss das auch nicht dein Sechsjähriges erfüllen, indem es dir in die Augen guckt.

Zwing dein Kind nicht, dir deine Bedürfnisse zu erfüllen.

Du kannst selbst aktiv werden und dir Strategien suchen, die dein Bedürfnis erfüllen. Und zwar unabhängig davon, wie sich dein Kind verhält. Das ist der Punkt, wo die meisten von uns – und ich selber kenn das von mir auch – erstmal Widerstand haben und sagen: „Neeneenee, das Problem ist, dass mein Kind respektlos ist und sich falsch verhält!“ Dieser Gedanke wird allerdings das Problem nicht lösen, wird nicht dafür sorgen, dass es dir, dass es euch gut geht.

Wenn also Gedanken wie: „Ich werde nicht respektiert, niemand hört mir zu, ich muss hier den ganzen Scheiß alleine machen!“ in dir aufkommen, kannst du langfristig etwas lernen und verändern, indem du dich fragst:

  • Was würde mich jetzt unterstützen?
  • Was kann ich in diesem Moment für mich tun?
  • Wie kann ich mir mein Bedürfnis erfüllen, damit mein Kind das nicht tun muss?

Und bemerke bitte hier den Unterschied zwischen „Was kann ich für mich tun?“ und „Wie kann ich mich zusammenreißen?“

Durch Scham steigt die Gefahr für gewaltvolles Verhalten.

Wir sprechen nicht darüber, wie du diesen Gedanken, diese Sorge, dieses Bedürfnis los wirst, weil das nicht hilfreich ist – vor allem dann nicht, wenn du schon getriggert bist und wenn du schon im Reagieren bist. Dadurch beschämst du dich nur zusätzlich, was dazu führt, dass du dich noch schlechter fühlst.

Strategien – Raus aus der Wut, rein in die Bedürfniserfüllung

Lass mich dir ein paar Beispiele nennen. Natürlich ist nicht immer alles umsetzbar und – wie immer bei Strategien – sie sind nicht perfekt. Es geht darum, dass du einen neuen Raum in deinem Kopf öffnest, in dem du dich nicht abwertest oder dein Kind zum Gehorsam zwingst, sondern dich fragst, in welche Richtung du noch denken kannst.

Welche Momente sind es, in denen du dich so richtig gesehen und glücklich fühlst?

  • Ist das, wenn dir eine Person einen leckeren Kaffee macht, dir ein Bad einlässt oder dir deinen Lieblingskuschelpullover bringt? Diese klassischen acts of service.
  • Ist das bei körperliche Berührung? Du fühlst dich wahrgenommen, kommst wieder runter, zu dir zurück.
  • Ist das, wenn du über dein Lieblingsthema sprichst und dir begeistert zugehört wird?
  • Ist das, wenn du etwas erschaffst mit deinen Händen? Wenn du etwas strickst oder nähst oder bastelst oder häkelst oder hobelst oder baust?
  • Ist das, wenn du laute Musik hörst und wild tanzt?
  • Ist das, wenn du gesagt bekommst, was an dir wertvoll ist?

Du kannst übrigens gerne andere Menschen fragen, ob sie dir helfen. Du kannst dein*e Mama fragen, ob sie dir einen Tee kocht, du kannst deine*n Partner*in fragen, ob si*er dich in den Arm nimmt, du kannst deine*n Freund*in bitten, dir eine liebevolle Sprachnachricht aufzunehmen, du kannst in einer Facebookgruppe oder einem Forum andere Mitglieder darum bitten, dir zu nennen, was sie toll an dir finden, wenn sie dich schon ein bisschen kennen.

Es gibt hier keine falschen Sachen. Es gibt nichts, wo wir von Vornherein sagen, es dürfe dein Bedürfnis nicht erfüllen. Es kann aber sein, dass du Strategien findest, wie z.B. ich ess dann immer einen halben Schokokuchen, die du nicht gerne haben möchtest für dich. Das heißt, du brauchst andere Strategien. Aber ich möchte dich erstmal einladen, sie auf den Tisch zu bringen – im wahrsten Sinne des Wortes im Fall des Schokokuchens – und erstmal zu gucken, was mache ich denn?

Was machst du bereits, dass du dich geliebt und gesehen fühlst?

Und zwar als Alternative zu Kind anschreien, dass es dich anguckt wie in meinem Fall. Was gibt es denn da schon? Was fällt dir ein? Gibt es da ein Muster, was du entdecken kannst?

Ein Beispiel: Dein Kind weigert sich, sein Zimmer aufzuräumen, dabei wäre das deiner Meinung nach echt mal nötig. Nö, will es nicht machen und anstatt einen Kompromiss mit dir zu finden, setzt es sich seine Kopfhörer wieder auf und verschwindet hinter dem Tablet. In dir wütet es. Aber anstatt dein Kind zum Aufräumen zu zwingen, sagst oder denkst du: „Ich komm gleich wieder, wir können uns gleich weiter streiten. Ich geh jetzt erstmal in die Küche, um laut Musik zu hören und dazu zu tanzen. Das tut mir gut und ich finde, ich hab es total verdient, dass ich jetzt super liebevoll behandelt werde.“ Dann hat dein Kind den Job deiner Bedürfniserfüllung nicht mehr. Es ist nämlich deiner!

Was auch immer dir gerade gut tut, ist richtig.

Es ist auch total ok, wenn du meine Liste durchschaust und in deinem Kopf nach jedem Punkt ein Aber aufploppt. Ich mag dich trotzdem einladen, alle möglichen Sachen aufzuschreiben, über die du denkst: „Ja, das ist schon ganz cool, aber..“ Was genau gefällt dir bis zum Aber? Kannst du die Idee so weit runterbrechen, dass sie in dein Leben passt? Kommst du irgendwie um deine Abers herum?

Probiere deine Ideen aktiv aus!

Es ist total valide, dass du gesehen und geliebt werden willst. Es ist nur nicht der Job deines Kindes! Ich glaube, dass sehr viel Gewalt, erzieherische, psychische und auch physische Gewalt entsteht, weil wir verzweifelt versuchen, Bedürfnisse erfüllen, die absolut nicht in den Verantwortungsbereich unseres Kindes fallen.

Das Erkennen und Beobachten von dem, was wir eigentlich brauchen, ohne Scham und Schuld ist der Weg in die Friedfertigkeit.

Ich wünsch dir ganz viel Freude beim Ausprobieren! Schreib voll gerne in die Kommentare, wie es dir damit geht. Kritik und Anregungen sind natürlich auch herzlich willkommen.