Hier kannst du dir den Artikel anhören:

 

Bei den Weggefährt*innen und an verschiedenen anderen Stellen wollten die Leute gern mal über soziale Kooperation von kleinen Kinder sprechen. Und zwar vor allem über das Phänomen, dass soziale Kooperation ganz plötzlich aufhören kann. Auf gehts!

Wir alle kennen das: Kind kommt von Kindergarten nach Hause. Im Kindergarten hat es all die Sachen gegessen, die es zuhause nicht einmal anguckt, hat es die Schuhe alleine angezogen, was es zuhause komplett verweigert, und nicht ein einziges Mal nach dem Tablet gefragt, klar, es gibt ja auch keins. Und kaum ist es zuhause angekommen, wird unser süßes, liebes Kind zur kompletten Furie, hat überhaupt gar keinen Bock mehr, auf irgendwas einzugehen, und will genau das Gegenteil vom Angebotenen.

Da ist offensichtlich die soziale Kooperation alle.

Spiegelverkehrte Kooperation

Wenn ich behaupte, alle Menschen seien von Natur aus sozial, wird mir manchmal erzählt, das könne ja gar nicht sein, das eigene Kind trotze schließlich und sei frech.

Das ist allein deswegen schon Quatsch, weil Verweigerung eine Form der sozialen Kooperation sein kann, dazu hat Jesper Juul sehr, sehr schön geschrieben. Es kann eine Form der Kooperation mit Umständen sein, mit Dingen, die nicht ausgesprochen werden. Auf der Oberfläche sprechen wir vielleicht super nett mit unserem Kind, aber darunter sind wir krass genervt. Wenn das Kind mit unserem Genervtsein kooperiert, wird es versuchen, das zu hören und weiter das tun, was wir gemeinhin Provozieren nennen, um näher an das ran zu kommen, was wir wirklich meinen. Das ist auch soziale Kooperation.

Vieles, was wir für unkooperatives Verhalten halten und als solches bezeichnen, ist schlicht eine Kooperation mit etwas, was wir nicht wahrhaben wollen.

Kooperation bedeutet nicht, dass es immer angenehm ist.

Diese Form der Kooperation mit dem, was wir nicht aussprechen wollen, was wir nicht sehen wollen, nennt Jesper Juul spiegelverkehrte Kooperation.

Wieso ist soziale Kooperation manchmal schlagartig vorbei?

Erstmal ist es nichts, was nur Kinder betrifft, das ist ein allgemein menschliches Phänomen. Wir alle kennen das total gut: Sind wir ausgeschlafen, haben wir lecker gegessen und gute Laune, können wir viel besser damit umgehen, wenn Menschen um uns herum sich komisch verhalten und sind viel bereiter, mit ihnen zu kooperieren, freundlich auf sie einzugehen, zu versuchen zu verstehen, was da los ist, als wenn wir unausgeschlafen, genervt und hungrig sind und uns dazu noch kurz vorher gestritten haben.

Wenn unsere Bedürfnisse nicht erfüllt sind, ist es viel, viel schwerer für uns, zu kooperieren.

Und das liegt daran, dass soziale Kooperation sozusagen auf einer Pendelebene mit Integrität liegt. Integrität meint, dass wir darauf achten, dass unsere Bedürfnisse erfüllt sind, dass es uns gut geht, dass unsere persönlichen Grenzen gewahrt sind.

Integrität ist sozusagen die Gegenspielerin der Kooperation.

Wir alle pendeln zwischen „für uns sorgen, auf uns achten, dafür sorgen, dass unsere Bedürfnisse erfüllt sind“ und „auf andere achten, dafür sorgen, dass wir mit anderen kooperieren, dass wir gesehen und gewertschätzt werden von anderen“.

Manchmal nimmt das schmerzhafte Züge an. Ich habe in meiner Sozialisation ein Entweder-Oder gelernt: „Du musst dich selbst verraten, wenn du geliebt werden willst von anderen.“ Das kann in einem schmerzhaften Widerspruch stehen. Aber natürlicherweise, wenn wir Kinder beobachten, ist es schlicht ein Pendel. Mal pendelt es mehr in Richtung „jetzt muss ich auf mich achten, jetzt geht es mir irgendwie nicht gut“ und mal pendelt es mehr in Richtung „jetzt bin ich offen für die anderen“. Das ist auch ganz, ganz stark Charakterfrage.

Die Voraussetzung dafür, dass wir uns auf soziale Kooperation einlassen können, ist, dass das Pendel ab und zu mal wieder bei „auf sich und die eigene Integrität achten“ landet. Besonders kleine Kinder in der sog Autonomiephase (früher abwertend Trotzphase) haben ein starkes Bedürfnis danach, immer und immer wieder auf sich, auf ihre persönliche Autonomie zurückzukommen. Da wird das Bedürfnis „für sich sorgen“ differenzierter und eines der wichtigsten Bedürfnisse in diesem Alter ist eben Autonomie („Ich entscheide selbst über das, was ich tue, was ich lasse, über meinen Körper usw.“). Das ist eine Differenzierung des „für sich Sorgens“ ist und ein ganz, ganz wichtiger Schritt in der Entwicklung. Nicht bei allen Kindern ist diese Phase stark ausgeprägt und ich glaube auch, das Bedürfnis ist nicht nur Autonomie, aber es ist ein sehr hervorstechendes Merkmal.

Je kleiner das Kind, desto geringer die Möglichkeiten auf andere sozial kooperativ einzugehen, bzw desto stärker kann das Pendel hin- und herschlagen. Genauso – meine persönliche Vermutung – sieht das in der Pubertät aus, da sind auch die Möglichkeiten zur Kooperation mit anderen und die Bedürftigkeit sehr krass und das Pendel kann sehr stark hin- und herschlagen.

Für Kinder auf dem neurodiversen Spektrum erfordert soziale Kooperationsbereitschaft nochmal andere Kräfte. Das dürfen wir im Kopf behalten!

Wenn wir also merken, unser Kind kann momentan nicht mehr sozial kooperieren, es ist nicht mehr bereit, auf uns einzugehen, dann können wir uns fragen:

Wann war das Pendel das letzte Mal auf der Seite des Kindes?

  • Wann hat es das letzte Mal entscheiden können und dürfen?
  • Wann haben wir das letzte Mal darauf geachtet, seine*ihre Lieblingsstrategien einzubauen?
  • Wenn du weißt, es ist ein stark körperliches Kind, wann habt ihr zuletzt gekuschelt und gerauft und geknufft?
  • Wann hat das Kind das letzte Mal gut gegessen?
  • Wann hat es sich wirksam gefühlt und hatte den Eindruck, dass es einen Unterschied macht in der Welt?

Ist es das wert?

Ist es das wert, den Kuchen, der soziale Kooperationsfähigkeit ist, anzuschneiden? Er muss nämlich später wieder aufgefüllt werden. Will ich das jetzt von meinem Kind? Ist das wichtig genug?

Ich glaube, ganz, ganz oft ist die Antwort nein. Ganz, ganz oft können wir sagen: „Weißte was, wir essen heute einfach unterm Tisch.“ Oder „Ich bring dir dein Essen vor den Fernseher.“ Oder ich kann nachgeben. Da wird dann in der traditionellen Erziehung der Vorwurf laut, das Kind tanze auf unseren Nasen herum, es geht aber schlicht darum, die soziale Kooperationsbereitschaft des Kindes nicht übermäßig zu strapazieren. Es gibt so viele Situatioenen, in denen wir sie dringend brauchen, da sollten wir uns nicht über unerledigte Schulaufgaben streiten.

Wenn wir in einer fucking Pandemie sitzen und das Kind seine Freund*innen nicht mehr sehen kann, nutzen wir die soziale Kooperationsbereitschaft bitte nicht für jeden Scheiß!

Wir nutzen sie nur dann, wenn wir sie wirklich brauchen. Ganz ehrlich. Wenn wir wirklich zu diesem Termin wollen, wenn wir wirklich zur Arbeit wollen und das Kind in den Kindergarten soll, wenn wir wirklich mit unseren Kräften komplett am Ende sind und wir eine Pause brauchen, wenn es einen Notfall gibt und das Kind schlicht kooperieren muss, auch wenn es scheiße ist.

Speicher füllen

Wenn wir das Pendel auf der einen Seite nutzen, müssen wir dafür sorgen, dass es auch wieder auf die andere Seite kommt.

Wenn wir soziale Kooperationsbereitschaft abschöpfen vom Kind, müssen wir darauf achten, die Integrität zu wahren. 

Manchmal kann ich das absehen: „Das frühe Aufstehen macht mein Kind nur, weil es mich liebt, nicht weil es das will, es steht auf, um mit mir zu kooperieren.“ Nun ist es an uns, etwas zu tun, um das Pendel wieder auf die andere Seite zu schwingen.

  • Wie können wir das Kind unterstützen?
  • Wo können wir Druck aus unserem Alltag nehmen?
  • Wie hat es das Gefühl, dass es ganz viel selbst bestimmen kann?

Wenn wir dem Kind regelmäßig etwas abverlangen oder wir wissen, dass wir ihm demnächst etwas abverlangen werden, können wir aktiv dafür sorgen, dass vorher seine Bedürfnisspeicher aufgefüllt sind.

Oder wenn wir – wie momentan – in einem Lockdown sitzen, in dem dem Kind ununterbrochen enorme soziale Kooperation abverlangt wird, können wir dafür sorgen, dass die Erwartungen an soziale Kooperation an anderer Stelle runtergeschraubt werden. Wir können nicht erwarten, dass das Kind funktioniert wie sonst, dass es seine Aufgaben macht wie sonst, dass es immer lieb und gut gelaunt ist. Lass uns dafür sorgen, dass im Rahmen des Möglichen unser aller Bedürfnisse gut erfüllt werden, indem wir viel Zeit geben, viel Raum lassen, die Dinge machen, die uns glücklich machen und unterstützen, wo Unterstützung gebraucht wird.

Wenn wir auf einer Seite dieses Bedürfnispendels Inhalte rein geben, wenn wir auf einer Seite des Bedürfnispendels darauf achten, zu unterstüzen, dann haben wir auf der anderen Seite so viel mehr Freiheit und müssen dem Kind nicht mit Gewalt die soziale Kooperation abtrotzen, die wir in der Situation vielleicht aber real vom Kind brauchen.

Ich hoffe, das war ein hilfreicher Input für dich. Ich freu mich auf deine Rückmeldung.