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„Ich kann super friedvoll mit meinen Kindern umgehen, aber wenn Geschwisterstreit ausbricht, dann ist bei mir alles vorbei.“
Damit bist du nicht allein! Ihr fragt immer wieder danach, wir haben auch schon darüber geschrieben: Geschwisterstreit. Heute möchte ich auf zwei Aspekte eingehen, die gerne übersehen werden und durch die du vielleicht einen anderen Blickwinkel auf Geschwisterstreits werfen kannst.
1. Aspekt: Geschwisterstreit ist voll ok!
Geschwisterstreit ist nicht schlimm. Und er sagt nichts über eure Familienharmonie oder über deine Qualität als Elternteil aus!
Also klar, Geschwisterstreit kann ein Symptom sein: Bei uns in der Familie ist das ganz ausgeprägt. Wenn hier die Geschwister streiten, hat es fast immer damit zu tun, dass außenrum Stress ist. Dass wir Eltern miteinander streiten, dass es unerfüllte Bedürfnisse gibt, über die keiner redet. Das funktioniert manchmal wie ein Seismograph. Aber:
Geschwisterstreit ist keine Aussage darüber, wie du bist oder wie eure Familie ist.
Wenig Geschwisterstreit bedeutet nicht, dass ihr eine tolle Familie seid, genauso wenig wie viel Geschwisterstreit nicht bedeutet, dass ihr eine blöde Familie seid. Geschwisterstreit kann in manchen Konstellationen sehr heftig und viel vorkommen, ohne dass es jemandem schlecht geht und es ist auch normal, dass er nicht vorkommt. Beides ist in Ordnung. Es ist nicht linear.
Also ja, wenn du merkst, deine Kinder streiten sich viel, darfst du auf jeden Fall darauf gucken. Drücken sie vielleicht etwas aus, was ich mich nicht traue, auszudrücken? Zeigt sich da vielleicht etwas, was die Kinder an einer anderen Stelle unterdrücken und dann im sicheren Rahmen des Geschwisters ausdrücken? Ja, das kann sein.
Aber es kann auch einfach sein, dass deine Kinder in diesem Moment damit beschäftigt sind, sozial zu lernen. Geschwister sind die perfekten Partner*innen für soziales Lernen, weil sie uns sehr, sehr nahe stehen, weil sie in allen möglichen Situationen auftauchen, ob wir wollen oder nicht, und weil wir in ganz vielen unterschiedlichen Stimmungen mit dem Geschwister umgehen lernen müssen.
Geschwisterstreit ist soziales Lernen.
Und das macht einen ganz großen Unterschied in der Begleitung aus. Nein, damit sage ich auf gar keinen Fall: „Lass deine Kinder allein, lass die das mal miteinander ausmachen!“. Ich sag auch nicht, dass das was ganz Tolles ist und du das jetzt immer super finden musst. Ich sage nur, wenn dein Blick weniger defizitär auf die Lage ist und mehr „Oh, meine Kinder lernen gerade, wie Menschen miteinander umgehen können, wenn sie ihre persönlichen Grenzen verteidigen, wenn sie genervt sind voneinander, wenn sie versuchen Abstand voneinander zu bekommen, wenn sie verschiedene Dinge möchten, aber irgendwie noch nicht so gut kommunizieren können.“, dann hast du einen ganz anderen Blick auf die Situation, als wenn du denkst: „Oah, jetzt kloppen die sich schon wieder, das geht mir so auf den Sack!“. Note übrigens auch an mich selbst, denn das ist oft der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schießt, wenn meine Kinder anfangen sich zu streiten, das muss ich zugeben.
Es hilft, zu verstehen, dass soziale Interaktion einerseits das ist, für das wir wirklich geboren werden, was wir von Anfang an unglaublich gut können und andererseits das ist, was es für uns Menschen wahnsinnig herausfordernd macht, miteinander zu sein. Wir wollen zusammen sein, wir wollen nah aneinander sein, wir wollen miteinander zurecht kommen, wir sind zutiefst sozial und gleichzeitig wollen wir auf uns achten, unsere Integrität wahren, uns abgrenzen, unsere persönlichen Grenzen klarmachen, damit es uns psychisch gut geht.
Wir brauchen das beides, wir stehen in dieser unendlichen Spannung, das ist das Menschsein.
Und das zeigt sich an einem Geschwisterstreit oft. Da zeigen sich diese Lernprozesse: Lernen mich abzugrenzen ohne jemanden anzugreifen, lernen Kompromisse zu finden, lernen Sprache zu finden, lernen, dass nicht zählt, wer Schuld ist, dass irgendeine Person darüber richtet, sondern dass Menschen über Bedürfnisse sprechen und darüber, was sie brauchen. Und das ist dein Job. Dein Job ist nicht, Geschwisterstreit für immer zu beenden, auch nicht, ihn persönlich zu nehmen. Du musst ihn auch nicht toll finden.
Dein Job ist es, das zu begleiten, wie jedes andere Lernfeld auch.
Würden deine Kinder jetzt dasitzen und eine super schwierige Mathematikformel lernen und eindeutig überfordert sein, wäre es auch dein Job, dich dazu zu setzen und zu überlegen, wie kann ich euch dabei helfen. Das Beispiel ist etwas platt, denn Matheformeln sind natürlich nicht so wichtig, wie soziale Interaktion. Es ist also absolut essentiell und es ist gleichzeitig etwas, was sehr häufig vorkommt, was es unheimlich anstrengend macht.
2. Aspekt: Sorge für dich!
Nochmal: Die Idee ist nicht, lass sie einfach machen, sondern die Idee ist, sei da, verhindere Gewalt, vermittele, sprich aus, wenn ein Kind nur körperlich kommuniziert, worum es gehen könnte, versuche da zu sein, während sie lernen, lass deine Kinder nicht allein, mache konstruktive Vorschläge.
Das kann für uns Eltern sehr, sehr schwer und anstrengend sein, weil wir selber nur gelernt haben, bei sozialen Interaktionen und Konflikten gibt es richtig und falsch, da kommt eine Person und entscheidet, wer Recht und wer Unrecht hat, da geht es um die Liebe eines Elternteils. Es gibt so abgedrehten Scheiß, den wir vielleicht irgendwo mal gelernt haben, den wir vollkommen unbewusst in diese Geschwistersituation reinschleppen und dann dastehen und uns wundern, dass wir überfordert damit sind, dieses soziale Lernen zu begleiten.
Also brauchen zuallererst wir selbst Begleitung, wir selbst brauchen das Gefühl, dass wir für uns da sind und dass wir auch gute Eltern sind, wenn wir beim 15. Mal keinen Bock mehr haben, etwas auszudiskutieren. Wir selbst brauchen das liebevolle Miteinander mit uns und zumindest ein ganz bisschen Bedürfniserfüllung, damit wir diesen neuen Weg gehen können.
Was wir oft kennen, ist, dass wir uns als Richter*in hinstellen oder dass wir schimpfen, die sollen sich gefälligst nicht anschreien, die sollen jetzt aufhören, das ist unangenehm für mich. Das haben wir oft gelernt, das ist das Automatische, was wir wiederholen, wenn es uns nicht gut geht.
Wir müssen für uns sorgen, damit wir Geschwisterstreit als soziales Lernen begleiten können.
Wie kannst du für dich sorgen in diesen Situationen? Eine Möglichkeit wäre, dass du dir ein bisschen Zeit nimmst – so gut du eben kannst -, wenn du merkst, es ist heute ein streitiger Tag. Nimm die Kinder auseinander und gib dir Zeit, auf dich zu achten. Mach dann bitte nicht den Haushalt oder 15 andere Sachen, sondern sage dir: „Heute ist mein Job, Geschwister im Streit zu begleiten.“.
Wie kann ich jetzt eben die zwei Sekunden, bevor sie wieder aufeinander losgehen, nutzen? Was wäre jetzt eine Kleinigkeit, die mir gut tut?
- Kann ich eine kleine Atemübung machen?
- Kann ich Sport machen?
- Kann ich mir was leckeres zu essen machen?
Ich weiß, es gibt keine perfekte Lösung, aber vielleicht fällt dir etwas Kleines ein. Du brauchst Energie, um deinen Job zu machen!
Nur weil Carearbeit als traditionell weiblich und damit als wertlos gilt, heißt das nicht, dass du diesen Scheiß mitmachen musst. Geschwisterstreit zu begleiten und dabei selbst neue Wege zu gehen und darauf zu achten, dass die eigenen Trigger in Schach gehalten werden, ist ein echter Job. Du kannst damit anfangen, dass ernst zu nehmen! Du kannst damit anfangen, zu schauen, dass du dir Pausen organisierst. Dass du die Geschwister nach Möglichkeit trennst, damit du Pause hast. Du kannst schauen, dass du aktiv begleitest, wenn es dir gut geht, du gute Laune hast und möglichst schwierige Situationen vermeidest, wenn du gerade nicht begleiten kannst.
Deine Energie ist absolut entscheidend.
Sie ist entscheidend für die Qualität der Interaktion von dir und damit natürlich auch für die Interaktion der Geschwister untereinander.
Zusammengefasst: Wir denken, Geschwisterstreit sei etwas schlimmes, dabei ist er oft ein Hinweis auf unsere eigene Konfliktunfähigkeit. Wir dürfen an Geschwisterstreit selbst lernen, mit Konflikten umzugehen. Das bedeutet, Geschwisterstreits kosten uns enorme emotionale Ressourcen und wir dürfen auf diese Ressourcen achten.
Und wenn du jetzt denkst, ich weiß noch nicht so richtig, wie ich da rauskomme aus diesem Schimpfen, aus diesem ersten Impuls, dann empfehle ich dir von Herzen unser absolut kostenloses Workbook #stattSchimpfen, in dem wir dir ganz viele kleine Schritte zeigen, wie du konkret aus diesem Schimpfen rauskommen kannst und was du konkret als nächstes tun kannst.
Du kannst es hier kostenlos downloaden und direkt mit der ersten konkreten Übung loslegen.
Ich freu mich total, wenn du uns Rückmeldung gibst und ich freu mich, wenn du jetzt den ersten, nächsten, kleinen Schritt machst in ein friedvolleres Familienleben.
Unser Thema ist, dass die kleine Schwester immer beim großen Bruder sein will, er das aber gar nicht immer will, verständlich.
Sie wird total traurig, wenn er sagt, ich will allein sein. Ich kann sie dann mit nichts beruhigen.
Und muss ich denn jeden Streit besprechen? Wenn die Kinder nicht um Hilfe frage, lasse ich sie meistens. Der Bruder gibt meistens nach, des Frieden Willen. Was ich blöd finde, weil ich das ja so gerade nicht will.
Nein, ich finde nicht dass wir alles besprechen müssen – aber ggf emotional begleiten, trösten, vermitteln. Ich persönlich warte nicht mit den Eingreifen bis einer ruft, weil dann oft schon ein Übergriff passiert ist.
– Ruth
Geschwisterstreit war mein Waterloo. 10 Hirnnotfälle waren mir lieber als ein ausgewachsener Streit meiner Kinder. Überforderung ohne Ende und dass, obwohl ich ja dachte, ich hätte das mit dem Begleiten schon voll raus! Pfff…
Zum Glück hilft auch hier, auszuhalten, dranzubleiben und zu üben. Gelegenheit gab es ja genug. 🤪
Am gemeinsten finde ich, dass die Kinder mich manchmal geradezu in die Rolle der Richterin drängen, sie den Impuls haben, sich gegenseitig zu bestrafen, weil sie gerade wütend sind.
Es hat länger gedauert, bis meine Tochter zB verstanden hat, dass ich mich nicht gegen sie stelle, wenn ich die Bedürfnisse des kleineren Bruders in Worte fasse, weil er es nicht schafft. Und noch länger, bis wir alle verstanden haben, dass wir den Gefühlen richtig viel Zeit und Raum einräumen müssen, bevor Lösungen gefunden werden können.
Da hat uns Corona tatsächlich irgendwie geholfen, weil wir so sehr auf uns zurückgeworfen wurden.
Danke für die Erinnerung, auf mich zu achten. Die kann ich regelmäßig gebrauchen.
Liebe Grüße
Liebe Jule – ja, zu begreifen dass Lösungen gar nicht immer dran sind und die Emotionen einfach auch erstmal Raum brauchen hat hier auch alles verändert!
– Ruth
Ich denke auch der Blickwinkel macht den Unterschied. Bei fast allen Dingen.
Vielen Dank für den Artikel. Ich nehme auf jeden Fall viel davon mit.
Ich kann mit einer gewissen Art ihres Streits nicht umgehen. Wenn sie sich gegenseitig unter-der-Gürtellinie-Schimpfworte an den Kopf werfen oder sofort körperlich werden und dem anderen damit richtig weh tun. Der 5jährige hat das bisher nicht gemacht, es sich aber jetzt inzwischen beim 10jährigen angeguckt. Der große hat eine stark ausgeprägte Impulskontrollstörung ( als Teil seines ADHS) und kann sich daher nicht steuern und schlägt dann sofort zu und oft heftiger als er will. Kurz darauf tut es ihm leid.
Liebe Stefanie,
ja, das ist super schwer zu begleiten! Je früher wir da eingreifen und umlenken und begleiten, desto hilfreicher. Ich finde, es ist Teil unsere Jobs Übergriffe zu verhindern und da ist es total okay auch klar einzugreifen.
– Ruth
Das versuche ich auch. Meistens ist es dann in Situationen, während ich dusche, koche, arbeite etc
Und oft kommt es aus dem „nichts“. Für den Großen reicht manchmal schon ein „nein“ des Kleinen..
Ich versuche aber so gut es geht , einzuschreiten
Und da ich alleinerziehend bin, kann ich auch nicht die beiden trennen und beide begleiten
Vielen Dank für diesen Beitrag. Ich komme gerade regelmäßig an meine Grenzen, habe das Gefühl, meine Kinder streiten viel mehr als sonst und ich habe nicht genug Zeit, sie auseinander zu nehmen.
Aber es tut gut, zu lesen, dass das auch konstruktive Arbeit ist. Ich habe sowieso gerade das Gefühl, wir müssen uns besonders und intensiv um unsere Kinder kümmern. Sie spüren ja auch die Spannung, sind frustriert, dass die Kita und Schule nicht wieder los geht. So schwierig es auch ist, versuche ich immer mal wieder nicht daran zu denken, was ich beruflich verpasse, sondern mich mit Kindern zu beschäftigen…. Danke also für den Artikel.
Ja, momentan ist es hart für alle – natürlich auch für unsere Kinder. Das drückt sich oft in Streit aus und ist erstmal ganz normal und gut. Irgendwo müssen all die Emotionen ja hin.
– Ruth