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Warum stecken wir zwischen Grau und Bunt, Ja und Nein, Erlauben und Verbieten fest?

Was könnten wir anders machen?

Ruth: „Ich halte es nicht für richtig, Kinder zu erziehen und bevorzuge friedliche Lösungen.“

Gegenüber: „Du lässt dein Kind auch auf die Straße rennen und sagst nie nein!“

Dieses Beispiel, das ich wirklich immer und immer wieder sowohl im privaten als auch im beruflichen Kontext erlebe, wenn ich über friedvolle Elternschaft spreche, zeigt ganz wunderbar, wie das menschliche Gehirn funktioniert. Es springt von Natur aus sehr gerne zu Extremen.

Wir denken binär – Null oder Eins, Ja oder Nein, Bunt oder Grau.

Das ist super gefährlich, wenn wir friedvolle Lösungen finden wollen.

Wenn Eltern sich entscheiden, friedvoller mit ihren Kindern zu leben, passiert es oft, dass sie denken, sie dürften gar nicht mehr nein sagen und ihre Bedürfnisse und Meinungen nicht mehr äußern. Sie wollen nicht so schimpfen, wie ihre Eltern das gemacht haben, sie wollen nicht strafen, weil sie früher darunter gelitten haben. Und dann? Sagen sie gar nichts.

Kennst du das?

Du denkst, wenn du das eine nicht tun willst, bleibt nur das extreme Gegenteil. So ist dein Gehirn aufgebaut, dafür kannst du nichts. Aber gerade wenn du in deinem Alltag einen Konflikt hast und einfach keine Lösung findest oder die Bedürfnisse nicht zusammen bekommst, gerade bei sich wiederholenden Situationen, macht es Sinn, dich zu fragen:

Was ist, wenn es hier nicht nur Grau und Bunt, Gewinnen und Verlieren gibt? Was sind die 148 Lösungen dazwischen?

Kreativität stimulieren

Schon allein die Frage nach weiteren Lösungen kann schon so enorm viel auslösen.

Wenn du zB nicht mehr denkst: „Mein Kind muss abends um acht ins Bett, weil es morgens früh aufstehen muss und ich abends meine Ruhe haben will. Entweder zwinge ich es ins Bett zu gehen oder es bleibt viel zu lange wach.“

Allein dich zu fragen: „Was geht noch?“ ist stimulierend.

Es stimuliert deine Kreativität und geht weg von diesem fiesen Entweder-Oder. Entweder hab ich voll das schlechte Gewissen, weil ich mein Kind übergehe, oder es geht mir schlecht, weil ich meines oder ein anderes Bedürfnis des Kindes übergehe.

Was gibt es noch?

Da ist mehr als „entweder sitze ich in Ruhe in der Badewanne, während mein Kind sich fit für den nächsten Morgen schläft, oder ich hocke die halbe Nacht neben meinem Kind und muss mit ihm spielen“. Vielleicht gibt es ja Lösungen, bei denen ihr beide bekommt, was ihr braucht oder in denen ihr jedenfalls beide mitgedacht seid.

Schon dieses Türöffnen hilft dir!

Dein Gehirn fängt an, zu arbeiten, weil es eine Aufgabe gestellt bekommen hat. Es macht Sinn, deinem Gehirn solche Fragen zu stellen. „Wie kann beides möglich sein?“, anstatt uns selbst zu sagen, warum dieses und jenes nicht möglich sei und sowieso nicht klappe, denn dein Gehirn arbeitet mit dem, was du ihm anbietest.

Worum geht es dir wirklich?

Geh mal einen Schritt zurück und überlege, worum es dir wirklich geht. Was braucht ihr eigentlich wirklich? Worum geht es dir, wenn du abends gemütlich in der Badewanne liegen und dein Buch lesen möchtest? Was erfüllt mir das? Was tut mir daran gut? Was ist daran wichtig für mich?

Und auf der anderen Seite: Was braucht mein Kind? Warum will es nur direkt neben mir spielen? Und warum will es partout nicht um acht ins Bett?

Was sind die Bedürfnisse, an denen du dich orientieren möchtest?

Vielleicht klappt das mit der Badewanne wirklich nicht heute abend. Aber was könntest du dir sonst Gutes tun, was ebenfalls deine Bedürfnisse erfüllt?

Und dann passiert etwas total wundervolles: Wenn du auf dieser lösungsorientierten Ebene denkst, hat dein Gehirn keine Kapazität mehr, dich abzuwerten, dein Kind anzugreifen, einen Machtkampf vom Zaun zu brechen oder deinen alten destruktiven Gedanken nachzuhängen („Mein Kind muss das doch mal lernen, es wird niemals allein zurechtkommen…“ – Du kennst das Elternradio, das sich in den blödesten Situationen in deinem Kopf einschaltet.) Denn dein Gehirn ist damit beschäftigt, sich zu fragen:

Worum geht es uns? Was ist es, was wir hier brauchen? Was wären mögliche Lösungen?

Unperfekte Lösungen

Du wirst jetzt zurecht einwenden, in deinem Alltag bereits erlebt haben und sicher wieder feststellen, dass es oft keine Lösung gibt. Oder dass es keine ideale Lösung gibt. Oder dass es ERSTMAL keine ideale Lösung gibt. Das ist gar nicht schlimm! Das lösungsorientierte Denken und das Denken jenseits von Grau und Bunt, Gewinnen und Verlieren, von Macht und Ohnmacht, hat den wunderbaren Nebeneffekt, das wir anfangen uns und das, was uns wichtig ist, ernst zu nehmen und wir dadurch viel besser Kompromisse machen können.

Das gilt auch für dein Kind. Wenn du merkst und deinem Kind sagst: „Ok, es ist dir gerade wirklich super wichtig, in meiner Nähe zu sein. Wie können wir eine Lösung finden, dass ich mich trotzdem entspannen kann?“ und das auch wirklich meinst, wird dein Kind wahrscheinlich kompromissbereiter sein.

Wenn wir Leute wahrnehmen mit dem, was ihnen wichtig ist, statt einen Kampf mit ihnen zu beginnen, sind sie viel eher bereit, einen Kompromiss einzugehen.

Wenn jemand mir sagt: „Oh Ruth, du bist aber gerade ganz schon schlecht gelaunt, brauchst du vielleicht eine Umarmung oder kann ich dir was zu essen machen?“, dann kann es sein, dass die Person falsch geraten hat, aber ich fühle mich schon bei dem Gedanken daran wahrgenommen und wohl und gesehen.

Es geht nicht darum, perfekte Lösungen zu finden. Es geht darum weg von Grau-Bunt zu kommen, unser Gehirn anzuregen, kreativ zu werden und immer wieder neu zu vertrauen, dass hinter jedem Verhalten und hinter allen Konflikten Bedürfnisse stehen. Diese Bedürfnisse anzuerkennen und dich und dein Kind in eurem Menschsein anzuerkennen, ist schon eine Lösung. Vielleicht keine perfekte, aber perfekte Lösungen gibt es nicht!

Ich freu mich, deine Gedanken zu unperfekten Lösungen hier unter dem Artikel zu lesen!