„Ein einziges Mal will ich in Ruhe in der Badewanne liegen. Nur ein einziges Mal. Ich mach doch den ganzen Tag, was du willst. Jetzt bleib doch EINMAL bei Papa.“
Die meisten Fragen, die in unseren Postfächern, bei den Weggefährt*innen, Facebook oder bei Instagram eintrudeln, beinhalten Anliegen, die konkrete Situationen betreffen. Situationen, in denen euch kein friedvoller Umgang möglich war, über die ihr glaubt, sie seien nicht friedvoll zu lösen.
Dabei geht es immer um Verantwortung.
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Die häufigste Kritik an friedvoller Elternschaft ist, dass wir Eltern unserer Verantwortung nicht gerecht würden. Dass Kinder Grenzen und Regeln und Erziehung bräuchten und dass die Idee, darauf zu verzichten, Kinder zu formen, verantwortungslos sei.
Ich widerspreche dieser Kritik, finde aber, wir sollten uns trotzdem mal über Verantwortung unterhalten. Denn ich beobachte, dass Eltern in ganz vielen Alltagssituationen, die Verantwortung auf ihre Kinder übertragen, ohne dass sie es merken. Das ist ein reales Problem. Die Antwort darauf ist allerdings nicht Erziehung. Natürlich nicht!
Ich will dir ein Beispiel geben: Ich habe eine sehr, sehr temperamentvolle Tochter, Nora Imlau würde sie als gefühlsstark bezeichnen. Sie kann sich unheimlich leicht aufregen. Sie kann sich auch unheimlich leicht freuen und holterdipolter von kuschelig zu total wütend und wieder zurück springen. Ihre plötzlichen Wutanfälle sind für mich nicht immer nachvollziehbar. Lange Zeit habe ich damit gekämpft, mich hat das geärgert, ich bin aus der Beziehung geflogen und in meinen Kopf waren Gedanken wie „Kann sie das nicht anders lösen? Sie ist doch jetzt alt genug!“, die natürlich überhaupt nicht hilfreich waren. Als ich dann mal richtig ehrlich hingeguckt habe, fiel mir auf, dass ich eigentlich wollte, dass sie die Verantwortung für mein Wohlergehen übernimmt. Uff.
Damit bin ich nicht allein. Wenn wir bei den Weggefährt*innen über Alltagsthemen sprechen, kommt es immer wieder zu diesem Phänomen, dass das eigentliche Drama nicht ist, dass das Kind gerade nervt oder nicht macht, was es soll. Sondern das eigentliche Drama entsteht in uns, wenn wir nicht bereit sind, die Verantwortung zu übernehmen.
Was ist Verantwortung?
Verantwortung ist ein wahnsinnig schwammiges Konzept. Um es zu verstehen, zoom mal raus aus der Situation, aus dem, was dein Kind falsch macht, was dich an allen anderen stört, was in der Gesellschaft falsch läuft. Und dann kommst du zu den echten Fragen:
- Worum geht es mir wirklich?
- Was ist dienlich für mich in meinem Leben?
- Wie kann ICH wieder in die Verantwortung kommen?
Blöderweise kann ich dir nicht sagen, woran erkennbar ist, dass du die Verantwortung übernimmst. Gerade erst hat eine Frau bei den Weggefährt*innen erzählt, dass sie ihrem Kind ihre Gefühle offenbart hat. Sie fragte nun mich, ob sie die Verantwortung in dieser Situation übernommen oder sie im Gegenteil an ihr Kind abgegeben habe. Keine Ahnung! Kann ich nicht beantworten. Geht nicht.
Aber ich glaube, wenn du wirklich GANZ ehrlich hinschaust, dann merkst du, worum es dir gerade WIRKLICH geht:
Willst du dich auszudrücken, für deine Grenzen einzustehen? Oder willst du, dass dein Kind etwas anders macht, dass es anders ist?
Am Ende ist es relativ egal, was wir tun. Auch bedürfnisorientierte, friedvolle, unerzogene Elternschaft bedeutet nicht, dass du stets tausend verschiedene Lösungen aus dem Ärmel schütteln kannst und dann sofort alles super wird.
Selbstverantwortung
Am Ende geht es darum, dass du den nächsten Schritt in der Selbstverantwortung machst. Das kann bedeuten, dass du dich weigerst, dein Kind die letzten Treppenstufen hochzutragen, weil du die Verantwortung für dich und deine persönlichen Grenzen übernimmst. Dahinter steckt eine völlig andere Haltung, als hinter der Idee „Das Kind muss aber endlich mal … lernen!“ oder „Warum kann es nicht EINMAL…“. Da ist die Verantwortung nämlich beim Kind, sie gehört aber zu dir. In deiner Verantwortung liegt meiner Meinung nach auch, im nächsten Schritt andere Lösungsmöglichkeiten zu finden, in denen weder deine noch die Grenze deines Kindes missachtet wird.
Wenn du dich fragst, was dich daran hindert, friedfertig in Situationen zu handeln, kann ich dir nur sagen.
Werde dir selbst gegenüber ehrlich!
Das ist nicht angenehm und das ist nichts, was Leute gerne hören, die auf dem Weg zu friedvoller Elternschaft sind. Aber es ist die bittere Medizin, die wir schlucken müssen, auf der anderen Seite nämlich steht, dass du jede Situation selbst gestalten kannst. Wenn du verantwortlich bist für die Beziehung, für diesen Moment, für dich selbst, dann kannst du auch gestalten.
Du bist nicht ausgeliefert, du musst nicht darauf warten, bis sich dein Kind beruhigt, damit es dir gut geht.
Du musst nichts besonderes machen. Du darfst einfach nur den nächsten, besten Schritt machen.
Der nächstbeste Schritt
Niemand kann von außen sagen, ob du deiner Verantwortung gerecht wirst. Es passiert immer wieder, dass Handlungen von unbekannten Eltern im öffentlichen Raum in verantwortungslos und verantwortungsvoll bewertet werden. Das ist Blödsinn! Ob eine Person Verantwortung für sich und ihr Handeln übernimmt und das nächstbeste tut, was sie gerade kann, ist von außen unsichtbar. Das kannst nur du für dich wissen. Nur du kannst sagen, wo die Verantwortung liegt – bei dir oder deinem Kind.
Nur du weißt, aus welcher Haltung heraus du dich für eine Handlung entschieden hast.
Und ich möchte dir Mut machen zu unperfekten Lösungen! Wenn meine Tochter so wütend war und ich dann auch noch wütend wurde, war meine unperfekte Lösung oft, zu sagen, dass ich das jetzt doof finde und dass es schwierig für mich ist und mich dann abzulenken. Sie hatte eigentlich gar kein Problem, sie war halt wütend, sie wollte nicht mit mir sprechen, ich sollte sie nicht anfassen, sondern in Ruhe lassen, aber doch da sein. Was ich brauchte, war, dass es mir gut ging. Ich fing dann an Mandalas auszumalen, um wieder in die Handlung zu kommen, um wieder meinen nächsten Schritt machen zu können. Und den nächsten. Und den nächsten.
Verantwortung für uns selbst zu übernehmen in einer Gesellschaft, in der Handlungen und nicht Haltungen beurteilt werden, ist gar nicht so einfach.
Ich finde es gefährlich zu sagen, die Bedürfnisse der Kinder kommen immer zuerst, ansonsten ist die Begleitung nicht bedürfnisorientiert. Genauso falsch finde ich die Aussage, Kinder bräuchten Grenzen und Regeln, weil sie keinen Inhalt transportiert und meistens einfach nur Gewalt rechtfertigt. Ich finde es viel hilfreicher zu fragen:
- Wie kann ich uns allen gerecht werden?
- Was ist mein nächster unperfekter Schritt?
Mit Verantwortung, Liebe und Wertschätzung als Nordstern kannst du stolpern, fallen, abbiegen, zurück gehen und den nächsten Schritt machen.
Das ist es.
Auch hier: Danke!! für diesen tollen Artikel…
Du hast geschrieben:
„Sie fragte nun mich, ob sie die Verantwortung in dieser Situation übernommen oder sie im Gegenteil an ihr Kind abgegeben habe. Keine Ahnung! Kann ich nicht beantworten. Geht nicht.“
Ich habe mir auch angewöhnt, in manchen Situationen zu sagen, was gerade in mir vorgeht („das macht mir wirklich traurig/wütend/froh…“).
Wenn ich mit dieser Aussage eine Verhaltensänderung des Kindes erreichen will, wäre es in meinen Augen Manipulation und die Verantwortung läge beim Kind. So z.B.: „Mir geht es echt schlecht gerade!“ (Subtext: „…und deswegen möchte ich, dass Du Deine Bedürfnisse jetzt hintenanstellst und mich gefälligst in der Badewanne liegen lässt!“).
Wenn ich diese Aussage aber als Einladung begreife an das Kind, auch zu gucken, wie es ihm gerade geht und was es braucht und dann gemeinsam und ergebnisoffen (!) vielleicht sogar eine Lösung zu finden, dann sehe ich die Verantwortung bei mir.
Dann verhandelt man, sucht z.B. erst das unauffindbare Puzzelteil, hilft beim Puppenanziehen, reicht die Malstifte vom Regal runter, liest eine Geschichte vor….. und badet anschließend.
Oder man nimmt das Kind mitsamt Malsachen mit ins Badezimmer.
Oder das Kind darf zuerst in die Wanne und wird vom Papa abgetrocknet, während man dann selbst baden darf…..
So vielleicht?
Liebe Grüße
Steffi
P.S.: Klar, im Alltag fehlt dafür oft einfach die Zeit. Aber das ist wiederum ein Problem unseres Alltags und sollte kein Problem des Kindes oder der Beziehung sein……
ja das sind doch schon mega viele Ideen. ich glaube wenn einem genau das bewusst ist, fängt man auch aktiv an nach Ideen und alternativen zu suchen.
Toller Impuls. Meine Tochter ist auch gefühlsstark und ich stecke ganz oft in dieser Zwickmühle…
wir freuen uns wenn es hilft !
Danke liebe Ruth! Wie immer klare und ehrliche Worte mit einer Menge Mehrwert für mich.
Vielen dank fürs lesen!
Danke für die interessanten Gedankenanstöße. Die „Krankheit“, die Verantwortung an andere abschieben zu wollen ist, meiner Meinung nach, ein Gesellschaftsphänomen. Da ist die Frau, die die Verantwortung für ihr Glücklichsein, dem Partner zuschiebt. Der Mann, der die Verantwortung für seinen Ausraster, seiner Partnerin in die Schuhe schiebt, schließlich hat sie ihn provoziert. Und „Fehler“, begehen sowieso immer die anderen oder sie haben meine Fehler verursacht und so muss ich die Verantwortung für mein Handeln nicht übernehmen. Alles Folgen von einer Erziehung, die am Kind herumpfuscht, „damit mal was aus ihm wird“. Besagtes Kind lernt: „Ich bin nicht ok, so wie ich bin. Mama/Papa hätte mich gerne anders.“
Genau deswegen glaube ich ja, dass wir ein sehr grundsaetzliches Problem loesen wenn wir nicht erziehen.
– Ruth
Ein Artikel, der für mich wieder mal ganz stark zeigt, wie sehr unser Umgang miteinander ein gesamtgesellschaftliches Problem ist – denn oft sind es zwar die Kinder, die quasi den Finger in die Wunde legen, aber das mit dem Übernehmen der Verantwortung gilt 1:1 auch in der Partnerschaft! Also bei uns zumindest…
Danke.