Unser Blick auf junge Menschen ist verstellt.

Eine breite Bewegung hat in den letzten Jahrzehnten vieles für die sehr Kleinen getan – Attachment Parenting dreht sich rund um frühe Bedürfniserfüllung als Grundlage für eine gesunde Bindung und die psychische und phsische Gesundheit von Kindern. Die Bewegungen zur Modernisierung oder gar Abschaffung von Erziehung bemühen sich darum, Erkenntnisse aus der modernen Wissenschaft mit einer modernen Ethik in Bezug auf junge Menschen zu reformieren und zugänglich zu machen.

Dass Dreijährige Wutanfälle bekommen und dieses nicht bedeutet, dass sie unsozial werden, wenn mensch sie nicht bestraft, ist zwar noch lange nicht in der breiten Bevölkerung angekommen, aber zumindest wird es diskutiert.

Bei Kindern ab dem Schulalter jedoch hört der Spaß auf.

Faszinierenderweise war das – zumindest bist vor kurzem – auch in diversen bedürfnisorientierten Gruppen und Foren so. Ein Dreijähriges, was nicht aufräumt – ja meine Güte, das kann halt noch nicht. Spielerisch machen, Hilfe holen, nur wenig Spielzeug geben… Der Lösungsansätze gibt es viele. Neunjährigen, die Bananenschalen auf den Boden werfen, wird nicht im Ansatz der gleiche Raum gestattet.

Neunjährige ‚müssen das nämlich schon können‘.

Dieser Satz hat mich lange verfolgt. Irgendetwas kam mir daran komisch vor. Also abgesehen davon, dass es das Gegenteil von bedürfnisorientiert ist, so zu argumentieren – es ist nämlich zielorientiert und interessiert sich nicht für die Motive – kam es mir seltsam vor, dass Neunjährige Bananenschalen aufheben müssen, Dreijährige aber nicht. Beide sind im Normalfall wunderbar fähig dazu.

Was verändert sich?

Ich glaube: Wir haben bei Kindern ab sechs Jahren einen ‚institutionalisierten‘ Blick. Wir sehen ja normalerweise keine Kinder, die nicht zur Schule gehen. Und Schulen sind Insitutionen mit eigenen Regeln und Abläufen. Wir erleben keine Kinder mehr, die nicht massiv bewertet und mehr oder weniger gleichförmig behandelt werden: Ein Siebenjähriges muss lesen können, aufräumen können, alleine die Schuhe binden können, Konflikte verbal lösen können und vieles mehr. Auch Schulen die sich bemühen diese Ideen aufzulösen kämpfen zumindest mit dieser Grundannahme, bei Eltern und Lernbegleiter*innen.

Warum eigentlich? Also, warum glauben wir dass Siebenjährige Dinge ‚jetzt mal können‘ müssen?

Ich meine – es gibt viele Erwachsene, die das eine oder andere davon nicht gut können. Das ist nicht per se falsch. Es ist total okay, wenn Erwachsene Probleme im einen oder anderen sozialen Bereich haben, wir sehen das als Wachstumschance (oder im Zweifelsfall finden wir, dass der Mensch ein Arschloch ist und meiden ihn*sie). Warum dürfen Kinder das nicht?

Sechsjährige sind nicht alle reif dazu, lesen zu lernen. Als Mama einer Familie, die ohne Schule lebt und viele Menschen ohne Schule kennen lernen durfte, weiß ich, dass der Zeitpunkt, um Lesen zu lernen, sehr unterschiedlich kommt. Genauso ist die Empathieentwicklung unterschiedlich, die Fähigkeit, große Zahlen einzuordnen, die Entwicklung der Kommunikationsfähigkeiten und vieles, vieles mehr. Manches bleibt ein Leben lang eines der Dinge, die dieser Mensch nicht besonders gut beherrscht, anderes braucht die Person schlicht nie und muss sie nicht entwickeln (Lesen gehört meist in einer Schriftgesellschaft in keine der Kategorien, Tauchen oft schon).

Institutionen jedoch brauchen für ihre basalen Funktionen, dass die jungen Menschen bestimmte Dinge an bestimmten Stellen entwickeln. Und Eltern fürchten das – wie viele Eltern üben mit ihren Kindergartenkindern das Stillsitzen, weil das in der Schule dran ist? Wie oft schlägt mir das Argument ‚aber später in der Schule können sie dann auch nicht…‘ entgegen (Hinweis: Oft)?

Schulen normalisieren das Unnormalisierbare, die menschliche Entwicklung, und machen uns blind für die Unterschiede (an dieser Stelle ein dickes Sorry an die wenigen Schulen, die sich um anderes bemühen – und doch aufgrund der Rahmenbedingungen nur begrenzt agieren können. Ich sehe euch und ich bin dankbar!). Alles, was rausfällt, ist mit Labeln und Diagnosen belegt, die nie den Kindern, aber immer den Umstehenden dienen.

Dass Kinder zu bestimmten Zeitpunkten bestimmte Dinge ‚auch mal können‘ müssen, ist nicht wahr. Es ist wahr, dass wir sie aufmerksam begleiten und ihnen die Gelegenheiten und Hilfe geben sollten, die sie vielleicht brauchen, um sich in dieser überkomplexen Welt zu bewegen. Aber ganz vieles an ihnen ist so, wie sie es mitgebracht haben – vielleicht laut, vielleicht bewegungsstark, vielleicht mit Schwierigkeiten im einen oder anderen Bereich, und wir sollten den Teufel tun, es in einen normalisierten Rahmen zu stecken. Das Kind wird dann nicht anders. Nur sein oder ihr Blick auf sich selbst wird getrübt durch Bewertungen.

Wenn eine junge Person eine Fertigkeit wie Lesen oder eine komplexe Fähigkeit wie Empathie braucht, sollten wir zur Stelle sein und vermitteln, begleiten und anbieten – das ist unser Job als erfahrenere Menschen (und dabei dürfen wir nicht vergessen, dass wir selber ja auch weder alles wissen, noch alles hinbekommen, in keinem Bereich). Wenn das mit vier Jahren so ist, wunderbar. Aber auch mit zwölf kann ich noch lesen lernen oder meine Wutanfälle zähmen lernen. Auch mit zwölf darf ich Schwierigkeiten haben in manchen Bereichen – andere werden wahnsinnig leicht für mich sein.

Lassen wir doch auch die Kinder, die wir als ‚Schulkinder‘ bezeichnen, noch Menschen sein.