Wie ein geheimer Virus, hat sich Erziehung in uns, in unserem Erleben und Verhalten festgesetzt. Und er arbeitet gegen uns, gegen unsere Partnerschaft, gegen unseren Selbstwert und das Vertrauen.

Wir sprechen davon, nicht mehr zu erziehen. Alles anders und besser zu machen an unseren Kindern. Doch was ist mit uns selbst? Wie können wir diese Altlasten auflösen, die wir selbst durch Erziehung mit uns tragen?

Was macht Erziehung, was macht ‚erzogen sein‘ mit uns?

1. Wir schämen uns für unsere Gefühle

Wie heißt es in der Erziehung? „Wenn du nicht sofort aufhörst zu schreien, dann…“

Um dieses ‚dann‘ nicht zu erleben, erdrückten wir unser Schreien und benahmen uns ‚anständig‘. Doch wo sind die Gefühle hingegangen? Was ist mit unseren Bedürfnissen passiert?

Sie wurden nicht erfüllt und unsere Gefühle wurden unterdrückt. Wenn wir jedoch heute vor ‚großen‘ Gefühlen stehen, reagieren wir mit Scham, mit Schuldgefühlen: Wir fühlen uns schuldig, beschmutzt durch unsere Gefühle – und auch die Gefühle der anderen sind uns unangenehm oder zu viel.

Es ist schwer für uns, einen Konflikt auszuhalten, denn der geht meistens mit Gefühlen einher, die nicht nur heiter und fröhlich sind.

Wir verstecken also unsere Gefühle lieber, umgehen Konflikte und vermeiden große Gefühle.

2. Einsamkeit

„Geh in dein Zimmer!“

Durch das Unterdrücken der Gefühle und Nichterkennen der Bedürfnisse, rutschen wir schnell in eine bodenlose Einsamkeit. Sobald wir nämlich Gefühle haben, haben wir schon Angst, jemand könnte sie verurteilen.

Verurteilung macht uns aber im gegenseitigen Sinne einsam: Wir haben so viele Urteile über andere Menschen in uns, dass wir uns damit von ihnen trennen, uns abheben, uns einkapseln und einsam bleiben. Urteile verhindern gegenseitiges Wahrnehmen und letztlich auch die Liebe.

3. Angst davor, nicht ernst genommen zu werden

„Stell dich nicht so an!“

Schon unsere Eltern konnten nicht gut mit Gefühlen umgehen – wie sollten sie auch?! Also redeten sie unsere Gefühle klein, verboten sie uns oder behandelten sie sonst wie abfällig. Wir bekamen das Bedürfnis nicht erfüllt: Gehört/gesehen werden und damit angenommen zu sein. Immer wieder stehen mein Mann und ich in unserer Beziehung vor diesem Satz: „Du nimmst mich nicht ernst!“

Ich nehme ihn ernst. Er hat aber das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden. Es fällt ihm sehr schwer, sich selbst so ernst und wichtig zu nehmen, denn diese kleine, fiese Stimme klingt aus seiner Vergangenheit: „Stell dich doch nicht so an!“

4. Bedürfnisse erkennen

Gefühle führen zu unseren Bedürfnissen.

Wenn wir aber schon die Gefühle nicht haben durften, wie sollen wir gelernt haben, die dahinter ruhenden Bedürfnisse zu erkennen? Es ist schwer für uns! Es ist eine absolute Leistung, dies zu lernen!

Wir müssen uns ja erstmal durch einen Berg von Scham kämpfen, der sofort mit den Gefühlen zusammen angeschwappt kommt, um überhaupt freie Sicht auf das dahinter liegende Bedürfnis zu haben!

So lassen wir uns von Verhalten irreführen, das unser Partner an den Tag legt und rutschen sofort in ein Urteil! Bei unseren Kindern schaffen wir es vielleicht gerade noch, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen, aber bei den erwachsenen Menschen, die uns umgeben? Bei unserem_r geliebten Partner_in?

5. Wer gewinnt?!

Erziehung ist Macht.

Macht erzeugt Ohnmacht.

Ohnmacht erzeugt den Wunsch nach Macht.

Ich habe einmal meinen größten Sohn angesehen (den ich leider noch stark erzogen habe) und gedacht: „Er kann überhaupt nicht nachgeben. Wieso kann er das nicht? Das ist ja schlimm!“ und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Von wem soll er das denn gelernt haben? Von wem kann er es lernen? Von mir! Solange ich ständig beweise, dass ich am längeren Hebel sitze (Du bekommst ein Stück Schockolade, wenn du aufräumst. Du bekommst Fernsehverbot, wenn du deinen Bruder ärgerst…) lauert er nur darauf, endlich auch ‚mal zu dürfen‘! Endlich auch mal am längeren Hebel zu sitzen.

Doch wie sollen wir eine Partnerschaft leben, in der es um Liebe und Vertrauen geht, um Begegnung und Gemeinsamkeit, um Verbindung und Beziehung, wenn wir ständig kämpfen?

Ich denke es ist gut und es entlastet uns, wenn wir uns dessen bewusst werden. Wenn wir uns auch innerhalb unserer Beziehungen (und nicht nur mit unseren Kindern) immer wieder bewusst machen, aus welchem Stall wir kommen – und aus welchem Ursprung auch der_die eigene Partner_in kommt.

Ich will dabei nicht meine oder eure Eltern verurteilen – wir sind einfach eine Generation, in der noch erzogen wurde! Und nicht nur das! Wir leben in einer Gesellschaft, die verurteilt, die die vermeintlich Schuldigen sucht und bestraft, bis sie sich schämen und dann Reue zeigen.

Umdenken und Neulernen braucht viel Zeit und Geduld und immer wieder Menschen, die reflektieren, nachdenken, sich anregen lassen, etwas verändern wollen. Menschen wie Euch!

 

 

Über die Autorin:

Susanne Bregenzer (37 Jahre alt) hat ein Haus voller Männer, wovon drei ihre Söhne sind (2, 4 und 6 Jahre alt) und einer ihr Mann. Sie ist Erzieherin von Beruf, Vollzeitmutter, Kinderbuchautorin und Bloggerin im Familienuniversum. Außerdem hat sie eine Facebook-Gruppe.

Durch die Partnerschaft, die Kinder, das Mutter-sein, beschäftigt sie sich schon lang mit der bedürfnisorientierten Familie und dem Thema „Liebe – und liebevoll handeln im Alltag“.