Wild und frei, groß und stark, unabhängig und bewusst. Vegan. Nachhaltig lebend. Plastikfrei. Empathisch. Idealistisch. Gegen Ungerechtigkeit aufstehend. Feministisch. Frei.

Die Liste der Ideen wie Kinder, die nicht erzogen werden, sein sollen, ist lang. Und das ist ein Problem.

Wenn ich ein Erziehungsziel durch ein anderes ersetze, ist das noch immer Erziehung. Wenn ich nicht mehr will, dass mein Kind gehorsam ist, sondern laut gegen Ungerechtigkeit aufsteht, ist das noch immer eine Idee von einem Kind, die ich habe. Wie es sein sollte. Und sendet die gleiche, toxische Botschaft: So wie du bist, bist du nicht gut.

Für mich war diese Kröte hart zu schlucken. Stark und frei und klug und schön, das sind doch tolle Ideen für mein Kind. Ich brauchte lange, um zu verstehen, dass die einzige Chance für mein Kind wirklich innerlich frei zu sein, das radikale Anerkennen ist.

Und das ist nicht so leicht wie wir immer denken. Es braucht doch eigentlich Liebe und gut ist, oder?

Nee.

Liebe ist nicht genug. Was wir lieben, ist oft das Bild, die Idee von einem Kind. Nicht den Menschen, der da vor uns steht.

Uff. Das sitzt, oder?

Radikales Anerkennen des Gegenübers, das bedeutet, zwei Dinge zu ertragen:

1. Ich kann mein Gegenüber niemals vollständig kennen.

Gerade als Eltern neigen wir dazu, zu glauben, wir würden unsere Kinder gut kennen. Auf der einen Seite ist das wahr – wir verbringen viel Zeit mit ihnen. Wir erleben sie oft. Wir kennen ihr Lieblingsessen und wissen welche Erfahrungen sie in ihrem Leben gemacht haben.

Auf der anderen Seite neigt unser Gehirn dazu, daraus Stereotypen zu bauen.

Das ist nicht besonders schlimm, unser Gehirn ist halt faul. Es abstrahiert aus Erfahrungen verallgemeinerte Erwartungen an Dinge, Situationen – und auch Menschen.

Schlimm wird es, wenn die Erwartungen nicht bewusst immer wieder neu rekonstruiert und justiert werden. Und das ist Arbeit. Das bedeutet, dass wir immer wieder bewusst reinleuchten müssen in unsere neurologische Einordnung.

Mein Sohn hat, als er klein war, mehrere Jahre nicht mit jemandem außer mir und meinem Mann gesprochen. Er bekam Angst, wenn er angeguckt wurde. Oder gar angesprochen. Er hasste Menschenansammlungen. Er war gern allein.

Das war meine Erfahrung mit ihm über längere Zeit.

Ich wäre dämlich gewesen, sie zu ignorieren – ich stellte mein Leben darauf ein. Vermied große Menschenmengen. Schritt ein, ehe Menschen ihn anfassten. Half ihm.

Irgendwann, er war so ca. 4, wollte er in einem Supermarkt beim Bäcker ein Brötchen. Er sagte mir das, leise. Ich baute mich vor der Bäckerin auf und wollte gerade das Brötchen für ihn bestellen, da sagte er leise neben mir ‚Ich möchte ein Brötchen, bitte‘.

Ich war überrascht.

Bescheuert, eigentlich. Natürlich würde er nicht für immer das, was ich als ’schüchtern‘ gelabelt hatte, bleiben.

Aber mein Gehirn war eingeschossen auf diese Idee. Verliebt in diese Idee. Schlimmer noch: Verliebt in die Idee, dass ich mein Kind liebe, OBWOHL es schüchtern war.

Das wurde mir in diesem Moment bewusst: Denn für mich war es beinahe unangenehm, dass er nun fragen konnte. Selber. Schmerzhaft drang zu mir vor, dass ICH die Idee von ihm brauchte, um ihn einzuordnen. Nicht er. Für ihn war sie nur störend. Hinderlich.

Schüchtern. Laut. Frech. Wild. Angepasst. Frei. Verrückt. Lustig.

Diese Ideen über unsere Kinder mögen auf noch so realen Beobachtungen fußen. Wie wir unsere Kinder betrachten ist immer, immer unsere Idee. Unser Bild.

Es ist wichtig, zu wissen, dass wir das konstruieren.

Denn was unser Kind wirklich denkt, fühlt, braucht oder will, können wir letzten Endes nie verstehen. Wir können nie einen anderen Menschen immer durchschauen. Bis zu einem gewissen Grad können wir das auch bei uns selber nicht. Die fremden Anteile, die ‚andere Seite‘, ist immer da.

Jedes Urteil, das wir fällen, muss also, damit es keine Determination wird, ein Fragezeichen mit sich tragen. Um unserem Kind die Würde zu lassen und uns selber die Chance, es wirklich kennen zu lernen.

2. Wir haben keine Kontrolle.

Erziehung ist eine Idee der Kontrolle. Im englischsprachigen Raum scheint mir dieser Diskurs bisher umfassender geführt als auf deutsch (hier zum Beispiel), deswegen mag ich das offensichtliche nochmal aussprechen: Verzicht auf Erziehung bedeutet Verzicht auf die Illusion (!) von Kontrolle.

Jedes Ziel, was wir uns setzen, was wir unseren Kindern setzen – sei es noch so lieb gemeint – ist eine Idee davon, dass wir kontrollieren können und dürfen, wer andere sind.

Beides ist nicht nur falsch, sondern schädlich.

Kontrolle ist immer eine Reaktion auf Angst. Das ist an sich nicht falsch – Kontrolle über die eigenen Finanzen zum Beispiel ist eine gute Idee, um die Angst vor dem Bankrott einzudämmen. Angst hat eine konkrete Funktion: Sie hilft uns. Angesichts der Statistiken über Privatinsolvenzen macht Angst vor Bankrott Sinn – wenn sie punktuell ist und nicht allzu faktenblind.

Kontrolle über andere jedoch als Reaktion auf die eigene Angst muss zum Scheitern verurteilt sein. Und jetzt wird es unangenehm: Denn die idealistischen Ideen, die ich eingangs besprach, sind meiner bescheidenen Meinung nach nichts anderes als das. Bekämpfung der eigenen Angst.

Angst, nicht gut genug zu sein.

Angst, dass die Kinder leiden, wie ich einst litt.

Angst, dass ich ein schlechter Elternteil bin.

Wenn wir Kinder aber kontrollieren, weil wir Angst haben, müssen wir den Erfolg messen, um die Angst einzudämmen. Das Verhalten unserer Kinder wird zum Gradmesser unserer Angst. Guckt das Kind nicht zu viel fernsehen, obwohl ich das scheinbar freigegeben habe? Dann ist Selbstbestimmung eine gute Idee und ich ein guter Elternteil. Haut mein Kind, obwohl ich nicht schimpfe und nur liebevoll mit ihm spreche? Dann funktioniert das Ganze mit der gleichen Würde doch nicht.

Das Vehikel Erziehung schleicht sich in die Idee von gleicher Würde, wenn Kontrolle hineinkommt. Kontrolle tötet Beziehung. Und sie tötet den Moment.

Wenn wir wirklich Würde als Gradmesser nehmen für die Beziehung zu unseren Kindern, brauchen wir den ehrlichen Blick auf alle Ideen, die wir von unseren Kindern haben. Nicht, um sie kleinzureden – sondern um uns selber kennenzulernen und damit unsere Kinder von der Bürde zu befreien, unsere Ängste in die nächste Generation zu tragen.