„Find ich aber kacke!“ schreie ich meinen verdutzten Mann an und werfe die Tür zu. Ich höre ihn auf der anderen Seite atmen. Dann dreht er sich um und geht.

Es ging um eine Kleinigkeit. Ich war müde, hungrig und allgemein scheiße drauf, was ja bekanntlich Aggressionen fördert. Ich wusste eh, dass es keine andere Lösung gab, die Sinn machen konnte, als die, die er vorschlug.

Ich wollte gesehen werden.

Keiner sollte tun, was ich sage. Niemand sollte meine unlogischen, aus alten Mustern gefütterten Tiraden ernst nehmen. Irgendjemand sollte mir sagen ‚Hey. Hey Ruth. Ist gerade alles kacke, oder?!‘

Und ich wollte antworten ‚Ja‘ und dabei ein Schnippchen ziehen wie meine Zweijährige, wenn ihre Schwester der Puppe das falsche Röckchen angezogen hat.

Sieh mal hin!

Der Impuls, angesehen zu werden, ist bei Kindern oft ein noch sehr konkreter. ‚Guck mal!‘ schallt es allerorten auf den Spielplätzen, in den Kindergärten und den Freibädern (Es ist Sommer, ich mach da gerade ne Studie drüber). Übrigens habe ich die spanische Entsprechung in Barcelona (‚Mira! Mira!‘) erlebt und schließe kühn, dass es sich nicht um eine rein deutschsprachige Angelegenheit handelt.

Sieh mich an.

Was meinen wir damit? Ich habe da zwei Theorien.

Die Autonomietheorie

Die eine ist die: Wir alle können uns nur entwickeln, wenn wir erleben, dass wir eine eigene Einheit als fühlende denkende Wesen sind (psychische Systeme würde Niklas Luhmann sagen). Wir und nur wir wissen, ob wir Hunger haben, was wir fühlen und ob wir wirklich neulich heimlich diesem hübschen Hintern hinterhergeguckt haben.

Und dass das so ist, lernen Kinder ungefähr im Alter von 3-6 Jahren. In dieser Zeit verlieren sie ihr egozentrisches Weltbild. Das ist übrigens keine Beleidigung, sondern die schlicht fehlende Möglichkeit, sich in die Situation anderer rein physisch (!) hineinzuversetzen. Nicht zu verwechseln mit Empathie übrigens, deren Ursprünge nach wie vor umstritten sind, die aber schon von sehr kleinen Kindern zumindest gespiegelt werden kann.

Um zu erfahren, dass wir wir selber sind, müssen wir zwingend erfahren, dass andere NICHT wir selber sind. Das ist nicht so philosophisch, wie es klingt, sondern rein logisch: Es kann keine Begriffe und Konzepte geben, wenn wir nicht auch die nicht-Konzepte dabei denken.

Jeder Begriff vom Selbst ist also erstmal ein Abgrenzungsbegriff. Und bevor wir hier zu theoretisch werden, erinnere ich an die unter Eltern berühmt-berüchtigte Phase zwischen 2 und 3, in der das Kind eben das begreift: Ich kann nicht alles und jeden steuern. Ich bin nicht eins mit der Welt, sondern ein eigenes, autonomes Individuum. Das allein sorgt durchaus für viel Stress bei kleinen Kindern. Die Erkenntnis, das andere meine Gedanken nicht lesen und meine Gefühle nicht erraten können, die darauf folgt in der oben benannten Entwicklungsphase, ist nicht weniger schmerzhaft.

Und ich glaube, dass Erziehung hier eine Rolle spielt. Wenn wir nämlich kollektiv freundliche Aufmerksamkeit versagen und unser eigenes Empfinden auf das Handeln anderer zurückschieben, wenn wir also die Verantwortung verweigern, dann ist das schädlich für die Erkenntnis, dass alles Empfinden, alles Erleben und Denken relativ ist und aus subjektiven Erfahrungen geboren wird.

Das führt dann zu Erwachsenen, die, wie ich hinter dieser Tür, darauf hoffen, dass endlich, endlich jemand mich sieht und mir gibt, was ich brauchte.

Das Gesehen werden ist elementar, wenn wir Kinder begleiten. Es macht ihnen klar, dass wir zumindest versuchen, sie, die uns fremd sind und deren Verhalten und Denken und Emotionalität uns herausfordert, zu verstehen. Mitgefühl zu entwickeln. Da zu sein.

Die Liebestheorie

Meine zweite Theorie hat mit Liebe zu tun.

Als alte Radikalkonstruktivistin habe ich mit der Liebe ja eher weniger am Hut. Ich halte sie viel weniger für ein (komplett überbewertetes und eher flüchtiges) Gefühl als für ein Bedürfnis. Hier habe ich mehr dazu geschrieben.

Liebe können wir also nicht einfach so geben, indem wir uns nett fühlen (was auch immer das für ein Gefühl sein soll!), sondern indem andere (!), denen wir Liebe schenken wollen, uns rückmelden, dass ihr Bedürfnis danach erfüllt ist.

Neulich stand mein Sohn im See. Er ist mittlerweile echt nicht mehr klein. Und als er begann mit lautem Quaken hochzuspringen, um auf der Wasseroberfläche zu landen, spritzte das kalte Wasser meterweit und gleich auf einen Haufen unsicher herumwackelnder Kleinkinder, die ängstlich davonstiefelten.

Ich machte meinen Sohn kurz darauf aufmerksam und bot ihm Alternativen an („Geh doch da rüber.“), dann wandte ich mich einem anderen Kind zu. Kurz darauf hörte ich ein Weinen am See – und mein Sohn hatte just eine der Wackelmäuse derartig nassgespritzt, dass es unter Tränen nach seiner Bezugsperson suchte.

Genervt machte ich mich auf zu meinem Kind. Auf dem Weg versuchte ich mich nochmal an meine eigenen Blogbeiträge zu erinnern (Ich gebe an dieser Stelle zu, dass mein Wirken nicht nur altruistisch ist. Ich schreibe hier quasi Reminder für mich selbst.) und zu atmen, um meinen Ärger abkühlen zu lassen.

„Was sollte das denn?!“ fuhrt es mir trotzdem schärfer aus dem Mund, als ich wollte. Mein Sohn guckte bedröppelt und meine „Ich wollte ihm nicht wehtun. Du solltest mich sehen!“

Wie immer erfuhr ich mehr, als ich das Verhalten beiseite ließ. Es ging nicht ums Spielen, es ging nicht um Spaß. Es ging darum, von mir Liebe zu erfahren. Gesehen werden und zu erleben, dass eine Person mich und nur mich mit ihrem liebevollsten Blick ansieht – nicht, um mich zu bewerten und nicht, um mein Gequängel („Jetzt guck doch mal!“) abzuschalten, sondern weil sie es will und ich wichtig bin – ist eine Strategie, um Liebe zu erfahren.

Also saß ich, nachdem mein Sohn dem kleinen Kerlchen die Tränen getrocknet und sein Bedauern ausgedrückt hatte, an diesem See. Smartphone aus. Kein Buch in der Hand. Hinschauen. Wie meine Kinder das Wasser erfahren. Was sie wohl gerade lernen? Wie die Stimmen die Luft erfüllen und der Sand sich auf den heißen Oberarmen verteilt.

Und ganz nebenbei erfüllte ein Liebesdienst an meinen Kindern einen Liebesdienst an mir.