Ich bekomme eine Mail. Jeden Tag. Ich öffne sie. Stehe ich ja drauf, Leute, die mir Fragen stellen und all das.

Und dann lese ich in letzter Zeit andauernd sowas:

„Blablabla, unerzogen is ja ne ganz nette Sache, blablabla, aber! Es muss doch irgendwo ne Grenze geben! Ich kann doch nicht immer machen, was das Kind sagt! Was ist, wenn…“ und dann kommen die Beispiele.

  • Der Klassiker: „… das Kind vors Auto rennt?! Machst du da GAR NIX?!“
  • Die Opferhaltung: „… du alleinerziehend mit drölfzig Kindern bist! Da GEHT unerzogen doch gar nicht!“
  • Der Benimmkurs: „… das Kind andere anpöbelt/kneift/schubst! Da braucht es doch mal ne Ansage!“
  • Die Andenhaarenherbeigezogenen: „… unsere Welt eines Tages von Aliens eingenommen wird und dann MUSS das Kind plötzlich machen, was DIE wollen!“
  • Die Leistungsdruckfürchtenden: „… das Kind in die Schule kommt?! Da kann es doch auch nicht immer machen, was es will?“

Jedes Thema verdient dabei einen eigenen Artikel. Auf jeden Fall. Und so ganz bescheuert sind die Fragen nicht.

Na gut, außer die Aliens. Das überlasse ich anderen Blogs…

Was ihnen gemein ist, ist die Idee, unerzogen sei eine Handlungsstrategie, die bestimmte Bereiche abdeckt und dann aufhört. Wie die Welt vor Columbus. Zack, zuende. Bums. Die Schiffe fallen runter. Feddich.

Was ist denn nun ‚unerzogen‘ für ein Ding?

Unerzogen ist deswegen eine Haltung, weil es moralisch ist. Es ist die moralische Überzeugung, dass Menschen die gleichen Rechte haben, egal, wie alt sie sind. Egal, ob sie Hilfe brauchen oder sich selbständig zurechtfinden können. Das nennt man Antidiskriminierung.

Unerzogen setzte an die Stelle von Regeln und Grenzen lebendige Beziehung. Das ist eine gute und eine schlechte Nachricht.

Die schlechte zuerst: Es gibt keine Leitlinien mehr, was das Handeln angeht. Es gibt kein richtiges Handeln mehr, das man von außen allgemeingültig so erkennen könnte.

Die gute ist: An die Stelle von Regeln und Grenzen kommt etwas viel wichtigeres, nämlich moralische Prinzipien.

Liebe statt Angst. Vertrauen statt Kontrolle. Miteinander statt gegeneinander.

Aber was ist, wenn wir einen Konflikt haben?

Neulich wollte mein Sohn nicht schlafen gehen. Es war sauspät, seine Schwestern waren müde und er wollte aufbleiben. Okay. Kann er ja. Wenn er leise ist.

Konnte er nicht.

Na gut, dann eben draußen. Oder so. Oder wir rufen den Papa an, damit er wiederkommt und ihn begleitet. Der war unter wegs.

Wollte er nicht.

Ich war müde. Die Kleinste schrie. Die Mittlere weinte, wir sollten das Licht ausmachen. Der Große schimpfte, weil er nicht allein sein wollte. Aber auch nicht leise.

Wie leicht wäre es gewesen, meine Macht nun einzusetzen. Mich über ihn hinwegzusetzen. Wie leicht hätte ich das mit ‚ist auch eine Grenze erreicht‘ und so Kram zur allgemeinen kognitiven Dissonanzreduktion erreichen können.

Hab ich aber nicht.

Ich habe meine Frust ausgedrückt. Ich war derartig genervt. Und müde. Und das Gebrüll der müden Schwester klingelte in meinen Ohren. Und ich war nicht kompromissbereit. Ich wollte nicht aufstehen, die Kleinste ins Tuch nehmen oder noch was spielen.

Wir hatten also einen Konflikt. Es war ätzend. Es war anstrengend.

Letzten Endes ging mein Sohn dann freundlicherweise raus und spielte noch etwas Lego. Ich war ihm wirklich dankbar dafür.

Hätte ich erzogen, hätte ich die innere Haltung eingenommen, dass ich zu seinem und unser aller Bestem eben bestimmen darf und vor allem, dass ich das durchsetzen darf, egal um welchen Preis… Vielleicht wäre das einfacher gewesen, ja. Vielleicht.

Aber: Ich habe jahrelang erzogen und ich weiß, dass der Preis ein anderer ist: Vertrauen. Kooperation. Noch vor einigen Jahren wäre mein Sohn nicht bereit gewesen, auf die Not seiner Schwestern Rücksicht zu nehmen. Er hätte um seine Integrität gekämpft.

Unerzogen hat keine Grenzen und kein Ende. Es ist die allumfassende Verantwortung für unsere Handlungen und unsere Entscheidungen in Bezug auf die Beziehung zu anderen. Ja, manchmal machen wir da Fehler. Ach, was sag ich: Andauernd tun wir das!

Was kein Grund ist, zu behaupten, die Haltung habe Grenzen. Wir haben sie. Das ist okay. Das bedeutet Wachstum.

Lasst uns wachsen.