Es reicht.

Ich habe keinen Bock mehr.

Seit Jahren schreibe ich über die wissenschaftlichen Grundlagen vom Verzicht auf Erziehung. Über die philosophischen Dimensionen von Beziehung. Über die Soziologie der Gewalt.

Und immer wieder kommen Menschen, die von unerzogen lesen und glauben, das sei eine Mode. Ein Konzept. Komplett unwissenschaftlich. Ein Experiment.

Nix da. Aus all den Jahren Beschäftigung mit der Wissenschaft der erzieherischen Gewalt kommen jetzt hier fünf knallharte Gründe, ab sofort nicht mehr zu erziehen. Wissenschaftliche Gründe, also logisch nachvollziehbar, in Fachkreisen diskutiert und anerkannt, in Studien nachgewiesen und transparent argumentiert. Muss man ja heutzutage immer dazusagen.

Let’s go.

1. Resilienz

Die Fähigkeit, das Leben in all seinen Aspekten gut überstehen zu können, ist eine der wichtigsten Faktoren für psychische und physische Gesundheit. Resilienz ist ihr Name.

Dank Resilienz können wir Herausforderungen annehmen und auch schwere Situationen auf positive Aspekte hin untersuchen. Wir überstehen extreme Stresssituationen leichter und gehen gesünder durchs Leben.

Lange dachte man in der Resilienzforschung, allein angeborene Faktoren seien dafür verantwortlich, dass Resilienz entstünde.

Das ist nicht richtig. Entscheidend beitragen können Menschen, die Kinder begleiten. Als wichtige Faktoren gibt die BzgA in ihrer Auswertung von Metastudien zur Resilienz unter anderem an:

  • positive Wahrnehmung der eigenen Person: „Das Selbstkonzept entwickelt sich nach der sozialkognitiven Theorie aus den Rückmeldungen anderer Personen über das eigene Verhalten (Flammer & Alsaker 2002). (…) Selbstwert und Selbstachtung bezeichnen eine positive Wahrnehmung der eigenen Person.“
  • internale Kontrollüberzeugung: „Wenn eine Person eintretende Ereignisse vorwiegend als Resultat eigener Handlungen wahrnimmt, entspricht dies einer internalen Kontrollüberzeugung. External meint hingegen, wenn Personen Ereignisse dem Zufall oder dem Handeln anderer zuschreiben.“
  • Selbstwirksamkeitserwartung: „Das Konstrukt der Selbstwirksamkeit entstammt aus der sozial-kognitiven Theorie von Bandura (1977) und wird definiert als eine subjektive Gewissheit, Anforderungssituationen aufgrund eigener Kompetenzen bewältigen zu können.“

Und in Bezug auf die Familie gilt vor allem eine sichere Bindung an die Eltern als Resilienzfaktor.

Was bedeutet das nun?

Kinder zu lieben reicht nicht. Um ihnen die Sicherheit zu geben, die sie brauchen, um in einer Welt zu bestehen, die nun mal auch echt ätzend sein kann, brauchen sie die Erfahrung, dass sie wichtig sind. Dass sie die Herr_innen ihrer Leben sind. Dass sie entscheiden. Dass sie gut sind, egal, wie sie sich verhalten.

Erziehung kann das nicht leisten. Erziehung schränkt nämlich die Aussage ‚wie du bist, bist du okay‘ ein: ‚… außer, du verhältst dich so, dass wir dich korrigieren (müssen)‘.

Das ist keine bedingungslose Liebe. Ausführlich schreibt Alfie Kohn über dieses Phänomen in Liebe und Eigenständigkeit: Die Kunst bedingungsloser Elternschaft, jenseits von Belohnung und Bestrafung

Aber kommen wir zum nächsten Problem mit Erziehung.

2. Gehorsam: Persönliche Nachteile

Um Erziehung zu entlarven, brauchen wir ein Mindestmaß an Ehrlichkeit.

Und wenn wir das walten lassen, sehen wir, dass das oben angesprochene Korrektiv, das Erziehung einsetzt in der Hoffnung, dass das Kind dann lernt, wie es sich verhalten soll, auf Gehorsam setzt.

Gehorsam als Begriff ist aus der Mode gekommen (ähnlich wie Strafe. Die heißt heute Konsequenz. Und die ganz Coolen nennen sie ’natürliche Konsequenz‘).

Heute wird, wenn gehorsam gefordert wird, gerne über ‚Grenzen‘, ‚Regeln‘ und allegemein über Werte gesprochen. Meist sind die Befehle auch sehr höflich und klingen nach Bitten. Ob sie das waren, stellst du fest, wenn das Kind nein sagt…

Gehorsam ist also schwer zu entlarven. Okay. Da brauchst du Geduld.

Was ist aber nun so blöd am Gehorsam? Wenn ich nein sage und mein Kind hört auf, das ist doch wichtig? Man denke an Prävention und Übergriffe – wie wichtig da ist, dass ein Nein ein Nein bleibt?!

Das Problem ist, dass Gehorsam keinen Sinn erfüllt. Er ist reines Verhalten ohne jede moralische Komponente.

Echte soziale Kompetenz ist es, ein Nein zu akzeptieren, weil ich einen anderen Menschen nicht verletzen will, weil ich empathisch bin und weil ich seine Rechte anerkenne. Blinder Gehorsam macht da keinen Sinn – in dem Moment, in dem die Machtverhältnisse sich verändern und der Gehorsam nicht mehr mit Gewalt erzwungen werden kann, habe ich keine Gründe kennen gelernt, mich nicht unsozial und gemein zu verhalten.

Gehorsam ist vollständig amoralisch.

Für Personen, die gehorchen müssen, bedeutet das, dass sie ihr Selbst und das, was sie ausmacht aufgeben müssen. Diese Verletzung ihrer selbst kann direkt in Suchtverhalten und Aggressionen münden, wie Studien zeigen.

Hinzu kommt dass die Bindungsqualität von Eltern zu Kindern eingeschränkt wird, wenn Gehorsam gefordert wird. Das Kind lernt, das erwünschte Verhalten zu zeigen, nicht aber, seine Impulse zu verstehen und liebevoll anzunehmen. Etwas, was in der Psychotherapie flächendeckend von Erwachsenen nachgeholt werden muss.

3. Gehorsam: Gesellschaftliche Nachteile

In einem schockierenden Experiment hat der berühmte Sozialpschologe Milgram in den 60er Jahren gezeigt, dass Gehorsam die Quelle grausamer Taten ist.

Kollektiver Gehorsam, also erwünschtes Verhalten ohne das Hinterfragen und Reflektieren des Verhaltens vor den eigenen Werten, ist Stützpfeiler faschistischer Regimes gewesen. Wohlgemerkt: Diese Taten werden vom gehorsamen Individuum als nicht grausam angesehen.

 

 

Das Video zeigt, wie die Unsicherheit der Individuen immer größer wird, ihr Wille zu gehorchen aber enorm groß ist. Die Unterwerfung unter Autoritäten, wie sie Erziehung von klein auf praktiziert, ist aber so groß und der Wille zu gefallen so übermächtig, dass diese wohlerzogenen Menschen bereit sind, andere (scheinbar) zu foltern und zu töten. Einfach nur, weil sie einen Befehl erhalten haben.

Ja, das ist drastisch. Ich weiß. So ganz mag sich mir aber nicht erschließen, wieso ein bisschen Gehorsam gut sein kann. Kein bisschen. Gar nicht. Individuelle Verbindung und das Vertrauen auf die angeborenen sozialen Fähigkeiten können und müssen der Ausweg sein.

4. Moraltheorie: Wie entsteht Moral und richtiges Verhalten?

Erziehung ist ja ein Angstphänomen.

Angst vor dem Tyrannen. Angst vor asozialem Verhalten (da frag ich mich ja immer: Echt? Ist unerzogen so populär und ich merke es nur nicht? Oder sind all die Menschen, die Gewalttaten begehen echt nicht erzogen worden? Die Rechtswissenschaft behauptet ja glatt das Gegenteil, aber nun ja…).

Dahinter liegt eine Auffassung von Moralverständnis, die moralisches Verhalten als Ziel von Erziehung versteht.

Aber was ist eigentlich moralisches Verhalten?

Angesichts der diversifizierten Welt, in der wir leben, sind die meisten moralischen Fragen nicht mehr leicht zu beantworten. Sicher, es empfiehlt sich zum Beispiel immer, freundlich und höflich zu sein.

Aber: In konkretes Verhalten übersetzt bedeutet das hier in Norddeutschland, ‚moin!‘ zu murmeln. In einer mexikanischen Familie vielleicht eher, aufzuessen. Und bei einer japanischen Bekannten von mir bedeutet das, auf keinen Fall die Hand zu geben.

Hä?

Okay, wohl doch nicht so einfach mit dem moralisch richtigen Verhalten.

Was machen wir denn dann?

Moralphilosophisch ist es ganz einfach: Moral ist kompliziert.

Jede moralische Leitlinie (auch zum Beispiel das Tötungsverbot!) hat eine Ausnahme. Jedes sozial erwünschte Verhalten kann von einem anderen ‚übertrumpft‘ werden und situativ nicht mehr gelten (hauen zum Beispiel. ‚Man haut nicht!‘ gilt in Notsituationen keineswegs!).

Das heißt, der Prozess der moralischen Entscheidungen ist sehr, sehr wichtig. Wichtiger als das daraus resultierende Verhalten.

Wenn ich meinem Kind sagen und zeigen will, dass hauen nicht okay ist, macht es also Sinn, mich für den Prozess zu interessieren, in dem sich das Kind für das hauen entschieden hat und ihm zu helfen, andere Optionen zu entwickeln.

Genau so kann ich auch meine Kaufentscheidungen beispielsweise kommunizieren und offenlegen, ohne dass ich meinen Kindern die Chance auf eine eigene Meinung nehmen muss, indem ich sie zu meiner bevorzugten Art von Konsum zwinge.

Moral formt man nicht, sondern lebt in ihr. Und trifft täglich viele verschiedene Entscheidungen, die Abwägungssache sind. Generalisierungen und allgemeine Regeln, wie sie Erziehung vorsieht, werden der Komplexität und den individuellen Situationen nicht gerecht.

5. Sozialtheorie: Einflüsse unter Gewalt – habituale Formung und Empathie

Das gleiche Thema, ein anderer Blick: Soziale Kompetenz.

Eines meiner großen Erweckungserlebnisse in Bezug auf Erziehung war meine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Bourdieus Habitustheorie. Ein wichtiger Teil davon ist die Etablierung der symbolischen Gewalt:

„Symbolische Gewalt ist in jedem Handlungsinhalt verborgen, welcher durch die äußere Handlungsform in der Praxis verneint wird. Dies geschieht jedoch nicht bewusst in Form eines rationalen Kalküls. Die Gewalt wirkt durch eine Art Komplizenschaft. Sie ist im Habitus der Akteure verankert (…)„

Eine bessere Beschreibung der zwei Gesichter von Erziehung habe ich selten erlebt. Die gesellschaftliche Formung von Kindern geschieht zuallererst in bester Absicht und wird als Ausdruck von Liebe verstanden. Ihr Kern ist jedoch eben jene Formungsidee, die das Individuum handeln lässt, wie derjenige, der die Gewalt ausübt, es will.

Bitter, oder?

Und weißt du, was das Gute ist? Wir können es bleiben lassen. Jetzt.

Und das sollten wir tun. Bist du dabei?