Ich weiß, ich weiß.

Streiten ist schlimm. Schrecklich. Anstrengend. Nervig. Doof.

Aber halt. Moment. Lass mir eine Sekunde, um dir zu erklären, warum das nicht stimmt.
Was du meinst, ist nicht Streit. Es ist Gewalt. Unter Gewalt verstehe ich jede Form der Kommunikation (auch Handlung ist Kommunikation!), die die Integrität anderer absichtlich oder unabsichtlich verletzt. Bemessen kann das nur das Gegenüber.

Sprich: Was ich für gewaltfrei halte, muss es noch lange nicht sein. Nur die Reaktion meines Gegenübers kann mir sagen, ob es sich sicher fühlt oder nicht.

Das ist übrigens ein guter Grund gegen Erziehung ‚aus Liebe‘: Es fühlt sich nicht nach Liebe an.

Aber zurück zum Streit. Wir alle fürchten Streit (genau wie Aggression), weil wir ihn mit Gewalt assoziieren. Die wenigsten von uns können nämlich starke Emotionen ausdrücken, ohne andere anzugreifen.

Deswegen melden sich in meinem Coaching immer wieder verzweifelte Eltern, die ‚alles versucht‘ haben und doch immer wieder doof und gemein werden. Damit meinen sie, dass sie ihre Gefühle mit Gewalt unterdrückt und ihre Reaktionen kontrolliert haben – aber im echten Kontakt waren sie nicht mit ihren Kindern.

Ich selber erinnere so gut, wie das war, als ich aufhören wollte mit dem Erziehen. Mit dem Meckern. Mit dem Abwerten. Mit dem Gegeneinander.

Ich stand da und wusste nicht aus noch ein.

Alles, was mich bisher als Mutter ausgemacht hatte, alles, woran ich geglaubt hatte, war weg. Und alles sollte anders werden. Nur: Wie? Woher zum Teufel sollten die Handlungsalternativen kommen?!

Ich versuchte eine Zeit lang klassisch das, was ich hier schon beschrieben habe: Ich stellte mich quasi tot und erlaubte alles.

Um festzustellen, dass ich wütend wurde. Ich rastete aus. Aus dem scheinbaren Nichts.

Ich war verzweifelt. Warum um Himmels Willen konnte ich denn nicht die Mutter sein, die ich sein wollte?!

Und dann lernte ich ganz viel über mich. Dass ich nämlich unter der Erzieherei und unter der Wut ganz viel Angst, Hilflosigkeit und Traurigkeit mit mir rumschleppte.

Eines Tages fiel mir das auf. Ich kam in das Zimmer meines Sohnes und sah, dass er alles Lego, was er hatte (okay, war damals deutlich weniger als heute, reichte aber, um den Boden seines Zimmers reichlich zu bedecken) ausgekippt hatte. Sein Zimmer war gerade frisch aufgeräumt.

Ich holte tief Luft und wollte brüllen. Neee, halt, schrie ich mir zu, halt die Klappe, finde eine Lösung.

Und dann stand ich da wieder. Das eine wollte ich nicht mehr – nur, was denn dann? Wie drücke ich aus, was ich brauche? Was ich fühle?

Ja, was fühlte ich denn eigentlich?

Das ist das Ding mit Erziehung: Es macht dich taub. Taub gegenüber dem, was du brauchst. Weil Gehorsam und (Selbst-)Einfühlung sich gegenseitig ausschließen.

Es macht dich blind für dich selbst.

Ich tastete mich los: „Mensch, ich ärgere mich gerade so… Ich will, dass es hier schön ist.“

Atmen. Weiter.

„Ich wünsche mir, dass wir es schön haben. Och, und ich bin einfach so frustriert. Ich habe eben aufgeräumt und mich gefreut, wie schön es ist.“

Atmen.

„Weißt du, ich bin sauer – aber ich merke gerade, ich bin eigentlich nur traurig. Ich glaube, ich muss mir mal was Gutes tun. Ich glaube, mit deinem Lego hat das nix zu tun. Mir ist wichtig, dass du das weißt. Eigentlich bin ich traurig.“

Ja, das war ich. Traurig. Ob all der unsichtbaren Arbeit und weil ich Wertschätzung brauchte. Und als ich das sehen konnte, verpuffte die Wut. Wie ich hier schon beschrieb: Wut ist auf Empathie allergisch.

Authentisch sprechen, das lerne ich nun wie eine Fremdsprache. Und es ist wunderbar. Und endlich kann ich streiten! Ich kann rufen, auf den Boden stampfen und motzen und dabei ganz, ganz genau wissen, dass meine Kinder sich sicher fühlen mit mir.

Wie? Mit meinen 5 hart erprobten Zutaten:

1. Sprich von dir

Nee, mit Ich-Botschaften hat das nicht viel zu tun. „Ich finde dich scheiße“ ist schließlich auch eine Ich-Botschaft. Verstehste?

Es geht darum, was du in deiner Welt erlebst – was fühlst, hörst, riechst, und siehst du? Was löst das für Gefühle aus?

Eine Hilfe kann sein, über körperliche Empfindungen zu sprechen: „Mir grummelt das richtig im Bauch, wenn ich sehe, dass du so hoch kletterst.“

Oft sind wir derartig entfremdet von unseren Gefühlen, dass es hilfreich ist, diesen Umweg zu gehen.

Du atmest also im Zweifelsfall tief ein und aus und fühlst in dich hinein: Wie geht es deinem Körper in der Situation? Was sind da für Spannungen? Wie stehst/sitzt/liegst du gerade? Wo fühlt sich dein Körper angenehm an und wo unangenehm?

Dieser Blick auf dich verhindert, dass dein Kind und sein Verhalten angegriffen wird. Probier es mal aus!

2. Safety first

Zu Hause, bei dir, ist die sichere Zone deines Kindes. Das ist wichtig. Dort kann es seinen Frust lassen und streiten und dort wird es aufgefangen. Wo, wenn nicht da, kann und sollte es sein dürfen, wer er oder sie ist?!

‚Sicher‘, damit meine ich sicher vor jeder Form der Gewalt, inklusive Beschämen und Beurteilen.

Klingt gut, oder?

Und nun stell dir Folgendes vor: Deine Nachbarin ruft dich an und erzählt dir, dass dein Kind den nagelneuen Mercedes ihrer Besucherin beklettert und mit einem Stock traktiert habe.

Nun sieht der Mercedes nicht mehr ganz so neu aus. Also, wirklich gar nicht mehr ganz so neu.

Ach, wie ich wünschte, ich hätte das gerade erfunden. Hab ich nicht. Meine Versicherung ist dran.

In solchen Situationen nicht zu schimpfen ist wichtig. Die sichere Zone ist nur dann sicher, wenn sie zuverlässig ist. Die sichere Zone ist der Ort, an den deine Kinder zurückkehren können, wenn es wirklich wichtig ist. Halte sie sicher!

Praktisch bedeutet das erstmal, alle Impulse wegzulenken vom Kind. Der erste Impuls ist meistens ein schlechter Ratgeber. Hör nicht auf ihn!

Sing ein Lied. Trinke in Ruhe Kaffee. Brüll von mir aus rum, aber geh dafür raus. Geh joggen.

Tue etwas. Mach, dass dein Kind sicher bleibt. Wenn du den Impuls gebändigt hast, kannst du zu den anderen Punkten übergehen.

3. Worum geht es wirklich? Bedürfnisse erfahren

Streiten ist dann total destruktiv, wenn es um das Gewinnen geht. Eine Person will eine Sache, die andere die andere – wer gewinnt?

Auf diese Weise schaffst du Trennung zwischen dir und deinem Kind. Außerdem ist das unfair, schließlich hast du die besseren Karten von Anfang an.

Schau hinter den Konflikt. Worum geht es dir wirklich? Worum geht es deinem Kind? Was braucht ihr gerade? Könnt ihr euch das auf andere Art und Weise geben?

Selbst wenn du nein zu der Strategie sagst, die dein Kind bevorzugt – vielleicht findest du einen Weg, um ja zu sagen zu dem, was deinem Kind wichtig ist.

Im Fall mit dem Auto war ich mit meinem Kind klettern. Es ging um Abenteuerlust und Waghalsigkeit und Freude an körperlicher Bewegung. Und auch, wenn nicht zur Debatte stand, dass es weiterhin dafür teure Autos schrottet, war das Bedürfnis an sich mir sehr, sehr einleuchtend und ich habe es ihm gern erfüllt.

Niemand hat hier gekämpft. Es ging nicht darum, zu gewinnen.

4. Weg von der Rechthaberei

Hinter der Idee, es müsse im Streit Gewinner und Verlierer geben – die ein sicherer Indikator für einen (ungleichen) Machtkampf ist – steht oft die Idee, unsere Version von ‚richtig‘ und ‚falsch‘ müsse die Richtige sein, damit wir wertvolle Menschen sind.

Das Problem mit der Rechthaberei hat der Philosoph Rumi mal sehr passend zusammengefasst:

Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns.

In dem Moment, in dem ich gewillt bin, meine Idee vom Ausgang des Konfliktes um jeden Preis durchzudrücken, verliere ich die Verbindung mit meinem Kind.

Um das nicht zu tun, muss ich die Idee, recht zu haben sei irgendwie notwendig, aufgeben.

Recht zu haben ist ein Vehikel, das Beziehung verhindert. Ich kann nur recht haben oder in Verbindung sein.

Da wir fast alle in machtorientierten Beziehungen groß geworden sind, ist es oft anfänglich schwer, die Rechthaberei aufzugeben. Schließlich ist das so unglaublich wichtig gewesen für uns als Kinder! Endlich recht zu haben und das mit Macht durchzusetzen, ist eine große Versuchung. Unser Ego, identifiziert mit dem kleinen Kind in uns, steppt da!

Auch hier hat sich das berühmte Atmen bewährt. Eine Frage, die ich mir in den Anfängen meines nicht erziehenden Daseins immer wieder gestellt habe, war „Warum?“

„Warum will ich, dass mein Kind vom Baum herunter kommt?“

„Warum will ich, dass es die Hände vor dem Essen wäscht?“

Die Antwort gab mir einen ersten Hinweis, ob es mir um Macht und Rechthaberei ging oder um Verbindung. Wenn ich mir selbst sage „weil ich das so sage!“ oder „weil man das so macht!“ oder anders entnervt und ohne Argumente mich innerlich winde – dann geht es nicht um Beziehung.

Dann hilft nur loslassen. Atmen. Neu anfangen. Jeden einzelnen Moment.