Sie hat nicht damit gerechnet.

Wirklich nicht. Eben war noch alles gut. Sagt sie mir immer wieder.

Luisas Kind, 4 Jahre alt, hat seine Schwester gebissen. So richtig fest. Die Bissspuren sitzen immer noch am Unterarm, als sie es mir erzählt.

Luisa ist entsetzt.

Sie will Rat. Nix geht mehr, seit ihr großes Kind so komisch ist. So nervig. So anstrengend.

Ätzend. Es gibt kein schönes Familienleben mehr. Alles ist so doof. Das Kind beißt, haut, ist laut und ärgert die kleine Schwester. Wie soll man denn da gemeinsam leben können?

Kennst du das? Dann ist das, was ich Luisa geraten habe auch für dich:

Krieg deinen Arsch hoch und übernimm die Verantwortung.

Verdammt nochmal.

Warum Kinder nerven

Ich weiß, ich weiß. Es ist so verdammt anstrengend. So ein Kind, das einfach keine Ruhe gibt. Im einen Moment schreit es aus vollem Hals, dann schmeißt es lachend mit Gläsern.

Aber machen wir doch mal was Waghalsiges.Gehen wir mal davon aus, dass dein Kind, wie jeder Mensch, eine Grund für seine Handlung hat.

Denn so ist es. Wir alle handeln, so gut wir können, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen und zu kooperieren.

Der Grund für Aggressionen ist zum Beispiel, so behauptet Jesper Juul zumindest, dass jemand sich nicht wertvoll für andere fühlt (hier eine Zusammenfassung seines tollen Buches zum Thema!)

Als ich das Luisa gesagt habe, fiel ihr gleich ein, dass es ja schon schwer sei mit der kleinen Schwester. Und stimmt, die langen Kita-Tage… Das ist schon viel Fremdbestimmung. Langsam begriff sie, dass das Verhalten ihres Kindes eine Ursache hat.

Hör auf von deinem Kind so verdammt viel zu erwarten. Es ist ein Kind. Es liebt dich und ist absolut abhängig von dir. Psychisch. Physisch. Warum zur Hölle sollte es dich willentlich vergrätzen?

Es braucht Hilfe, keine Schelte. Es braucht Empathie, keine Empörung.

Kinder nerven, weil sie sich nun mal nicht anders ausdrücken können. Übrigens können auch Erwachsene das oft nicht gut. Was wir brauchen und fühlen müssen wir nicht selten erstmal herausfinden. Mühsam. Therapeut_innen verdienen sich daran ne goldene Nase (und sind sehr hilfreich bei diesem Prozess).

Wie wäre es, wenn du JETZT den Unterschied machst und deinem Kind hilfst, sich auszudrücken, so dass es auch eine Chance hat, gehört zu werden? Und von Anfang an lernt, seine Gefühle und Bedürfnisse auszudrücken?

Geil, oder? Aber wie?

Das Ende des Machtkampfs

Ganz einfach: Steig aus.

Du stehst mit deinem Kind im Ring. Ihr kämpft. Es geht um Macht. Steig aus. Hör auf, Recht haben zu wollen. Hör auf, die Kontrolle haben zu wollen.

Wie?

Kann ich dir sagen. Leider – und zum Glück. Ich stand nämlich jahrelang im Ring mit meinen Kindern.

‚Hör auf‘, ’nerv nicht‘, ‚lass das‘, ‚wenn du nicht endlich…‘ – schrecklich. Ich habe gelitten. Meine Kinder haben gelitten. Und dann hab ich sie auch noch dafür verantwortlich gemacht, dass sie ihre Not ausgedrückt haben. Ganz schön gemein.

Unsere Beziehung lag in meiner Hand. Diese Erkenntnis traf mich nach einem schlimmen Nachmittag mit meinen Kindern vor einigen Jahren wie ein Hammerschlag: Ich allein kann ihnen hinaushelfen. Ich bin verantwortlich für die Qualität unserer Beziehung.

Ich darf nicht warten, bis sie sich so verhalten, dass es mir leichtfällt, sie in Liebe zu sehen. Nein. Ich muss sofort damit anfangen. Weil das mein Job ist!

Uff. Durchatmen.

Und dann bin ich raus aus dem Ring gestiegen. Und so schwer ist es eigentlich nicht (eigentlich!):

Step 1: Kontrolle übergeben

Dein Kind hat ein Problem. Es hat allein schon dadurch ein Problem, dass es in einer durch und durch kinderfeindlichen Gesellschaft Kind ist und täglich Altersdiskriminierung (Adultismus heißt dieses Phänomen) ausgesetzt ist.

Es braucht Kontrolle über sein Leben. Es ist machtlos.

Gib sie ihm, wo du nur kannst. Wütenden, ’nervenden‘ Kindern Kontrolle zu geben ist mein absoluter Geheimtipp. Nicht, damit Karl-Ferdinand endlich wieder brav ist und seine Gefühle unterdrückt. Nein. Sondern um ihm zu zeigen: ‚Ich sehe deine Not. Ich helfe dir, so gut ich kann. Du bist mir wichtiger als meine Macht.‘

Mach es dir zum Mantra: Du bist mir wichtiger als meine Macht.

Step 2: Die Beziehung stärken

Nimm dir drei Tage frei und mach geile Sachen mit dem ’nervigen‘ Kind. Geht aus. Eis essen oder so.

Lass dein Kind bestimmen. Worauf hat es Bock? Was will es? Lass dich überraschen!

Step 3: Zuhören und Beobachten

Warum ist das Kind so daneben? Warum haut, beißt, kratzt es? Phase oder Problem? Was ist sonst noch los im Leben deines Kindes?

Schau genau hin. Das Verhalten hat immer, immer einen Grund. Unterstelle deinem Kind Gutes. Schlüpf in seine Schuhe. Guck dir an, wie klug und sinnvoll das Verhalten ist.

Lass deine inneren ‚aber man macht das nicht‘ mal eben an der Seite. Es geht um mehr, als diesem ollen Erziehungsmuster Glauben zu schenken: Es geht um eure Beziehung.

Bonusstep für Fortgeschrittene! Step 4: Guck auf dich!

Nochmal uff. Ich weiß. Ist viel, viel einfacher dem Kind die Verantwortung zu geben. Das nervt ja auch so!

Vergiss es. Mach ich nicht mit. Es hat nämlich immer mit dir zu tun. Ich schwöre. Ich berate seit Jahren Eltern und ich habe drei Kinder. Wirklich. Glaub mir.

Guck auf dich. Warum nervt es dich? WAS nervt dich eigentlich genau? Warum kriegst du diese fiesen Gedanken, wie Luisa?

Die dachte ‚warum muss es alles kaputt machen‘ und ‚mit ihm ist einfach kein schönes Familienleben möglich‘.

Kennste? Ich auch.

Und es ist Bullshit. Wir Eltern tragen die Verantwortung für unser Familienleben. Allein. Für die Beziehungen zu unseren Kindern. Für unser Leben.

Verantwortung fühlen und endlich wieder Liebe geben!

Wenn wir einen scheiß Job haben und unser Kind unglücklich im Kindergarten ist – dann müssen wir das ändern. Nicht das Kind. Und vor allem muss es nicht so tun, als wäre das alles super.
Wenn es ein Geschwisterchen gibt und das anstrengend ist, muss ein Kind auch nicht so tun, als wäre das nicht so.

Unsere Kinder haben ein Recht auf ihre Gefühle. Auf alle.

Und wir dürfen darauf schauen, was uns hindert, sie endlich zu lieben wie sie sind. Endlich ihre Hilfeschreie zu hören. Als ihre Freunde an ihrer Seite zu stehen und ihnen zu helfen. Auch wenn sie sich eklig verhalten.

Schau auf dich und dann rein in die Beziehung.

Erinnerst du dich daran, wie dein Kind geboren wurde? Weißt du noch, das Gefühl, als du es das erste Mal bewusst wahrgenommen hast: ‚Wow, ich darf DEIN Elternteil sein!‘.

War krass, oder?

Es ist dasselbe Kind. Geh hin und schau es dir an. Es ist dein Kind, dein geliebtes. Das, was du damals im Arm hattest. Es liebt dich und es braucht deine Hilfe.

Geh hin.