Okay. Tief durchatmen. Das wird jetzt nicht angenehm.

Immer mal wieder fragen mich Leute sinngemäß „Du, Ruth, was hast du denn gegen Erziehung? Es ist nun mal wichtig, unsere Kinder auf die Zukunft vorzubereiten!“

Falls du ähnliche Bedenken hast: Lass mich da mal was klarstellen.

Ja, ich habe was gegen Erziehung. Dazu habe ich hier schon geschrieben und zu den einzelnen Aspekten und vielen Gründen, die gegen Erziehung sprechen sind schon einige Bücher geschrieben worden.

Gründe gibt es genug gegen Erziehung.

Heute widme ich mich aber speziell eben jener Idee, die der oben genannten Frage zugrunde liegt. Erziehung, die so wie oben verstanden wird, beruht auf zwei Illusionen. Eine davon ist Zeit. Die andere ist die Formbarkeit von Individuen.

Fangen wir mit der Zeit an.

Die Illusion der Zukunft

Keine Angst, ich werde jetzt nicht esoterisch. Das einzige, was ich feststelle ist: Zeit ist ein gedankliches Konzept. Und nicht fühlbar.

Das kannst du an kleinen Kindern und ihrem Lernprozess gut beobachten. Während für ein zweijähriges Kind ‚gleich‘ ein noch vollkommen unüberschaubares Konzept ist, weil es außerhalb des Erfahrungsrahmens liegt, ist ‚gleich‘ für ein sechsjähriges schon eher verständlich – das Konzept von Zeit braucht Jahre, um verstanden zu werden.

Wenn du erziehst, tust du das in dem Glauben, deinem Kind etwas beizubringen, was dessen Zukunft beeinflusst. Egal, wie liebevoll du das tust, du tust es nicht für heute.

Dein Kind soll heute lernen, sich gut zu benehmen, damit es das morgen kann und heute rechtzeitig zum Kindergarten gehen, weil in der Schule kann es dann nicht zu spät kommen.

Erziehung rennt der Illusion hinterher, wir könnten wissen, was morgen wichtig ist.

Und das ist ein Problem.

Die menschliche Psyche und unser Körper kennen nur die Gegenwart. Nur das Jetzt. Eckehard Tolle beschreibt in seinem Buch Jetzt! Die Kraft der Gegenwart, wie wir vor lauter Denken in Zukunft und Vergangenheit vergessen haben, dass Jetzt der einzige Zeitpunkt ist, zu dem wir leben.

Nur Jetzt ist fühlbar und erlebbar. Das gilt für große wie für kleine Menschen.

Jetzt ist der Moment, in dem du Beziehungen gestaltest und jetzt ist der einzige Moment, in dem du überhaupt weißt, was passiert. Und wie es passiert. Was danach kommt, liegt komplett außerhalb deines Einflusses.

Bittere Pille, ich weiß. Eltern stehen auf diese sehr simple Wahrheit meistens überhaupt nicht. Es kann sogar sein, dass sie wütend werden, wenn man sie darauf aufmerksam macht.

Warum? Weil Erziehung ein einziges Leben in einer imaginären Zukunft ist. Alles ist darauf ausgelegt, heute einen Menschen zu formen, der morgen oder irgendwann Dinge kann und Eigenschaften hat, die wir anlegen.

Es tut weh, sich einzugestehen, dass all das Erziehen illusionär ist. Es beruht auf Vorstellungen, Projektionen und Wünschen.

Dabei ist das vollkommen egal, ob wir das liebevoll meinen oder nicht. Wir zerstören den Moment.

Wenn ich meinem Kind das dritte Eis verweigere, obwohl das möglich wäre, mit der Begründung, es müsse lernen, nicht alles zu bekommen, bin ich von Angst vor der Zukunft geprägt und nicht in der Gegenwärtigkeit, in der es kein Problem ist, dem Kind ein Eis zu geben (außer natürlich, es ist ein Problem, konkret, in der Gegenwart. Das hat dann mit Verantwortung und nicht mit Angst zu tun).

Ohne Erziehung leben ist deswegen tief verknüpft mit dem Aufgeben der Konzeption von Zeit und mit dem Annehmen und Leben in dem, was ist.

So weit, so unangenehm.

Kommen wir zum zweiten Irrtum: der Formbarkeit des Menschen.

Warum Erziehung Beziehungen tötet

Okay. Zeitkonzepte hindern uns daran, in Beziehung zu sein. Aber, höre ich dich sagen, ich kann ja nicht leugnen, dass wir Eltern unsere Kinder in einer – wie auch immer gearteten – Zukunft geformt haben werden.

Wenn du das denkst, sitzt du dem Irrtum auf, dass Erziehung funktioniert.

Du hast richtig gelesen. In vielfachen Studien ist bewiesen worden, dass Erziehung so derartig unterschiedliche Ergebnisse hervorbringt, dass es beinahe lächerlich ist, noch zu glauben, dass sie überhaupt ansatzweise so wirkt wie gedacht. (mehr dazu in dem Grundlagenwerk Zeit für Kinder. Theorie und Praxis von Kinderfeindlichkeit, Kinderfreundlichkeit, Kinderschutz., in dem es eine hervorragende Zusammenfassung der Studien zur Wirksamkeit von Erziehung gibt).

In meinem Umfeld wurden zum Beispiel die meisten Menschen zu Ordnung erzogen – und ich kann nur sagen, die Ergebnisse sind sehr unterschiedlich. Manch einem hüpft das Herz bei blankgewienerten Böden und bei anderen ist es sauber, wenn die Krümel unter dem Esstisch noch keine Beine haben.

Geschwister sind das beste Beispiel für die Wirkungslosigkeit von Erziehung. Das gleich Elternhaus, meist die gleichen Erziehungsziele – und nicht selten vollkommen unterschiedliche Ergebnisse.

Erziehung funktioniert nicht. Es tut mir leid. Ich habs lange selbst geglaubt. Aber mit all der Dressur erreichst du nur, dass du dich von deinen Kindern, wie sie sind (und nicht wie du sie haben willst) entfernst.

Einfluss und Werte

Was allerdings hängen bleibt (und häufig verwechselt wird), sind Werte. Was nicht heißt, dass sie übernommen werden, übrigens. Aber das, was du lebst, das bleibt bei deinen Kindern im System.

Deswegen schreibe ich hier. Dafür, dass mehr Eltern respektvoll handeln, statt ‚Respekt‚ zu predigen und dabei respektlos zu handeln. Dafür, dass mehr Eltern leben, was sie fühlen und weniger manipulieren, drohen und ‚Konsequenzen‚ einsetzen und dabei ihre Werte aus den Augen verlieren.

Der Schlüssel ist, die Illusion von Formbarkeit aufzugeben und endlich in eine lebendige Beziehung einzutreten, in der du deine Macht nur zum Schutz und zur Hilfestellung und nicht zur Durchsetzung von Erziehungszielen nutzt.

Immer, wenn du etwas willst von deinen Mitmenschen kannst du erstens die Illusion von Zeit auflösen und zweitens deine Werte anstatt deines Willens leben.

Das ist einfacher als du denkst. Und doch ist es schwer. Es kostet dich nur 30 Sekunden. Und einige Illusionen und Machtansprüche.

In 30 Sekunden in Frieden handeln und leben

Ich habe sehr gute Erfahrungen mit einer abgewandelten Übung aus dem oben genannten Buch gemacht:

Die Aufmerksamkeit auf den Moment richten.

  1. Bringe Raum zwischen dich und den ersten Impuls. Atme. Richte deinen Blick auf dich, auf die Situation, auf das Jetzt. Lasse dir mindestens 30 Sekunden Zeit, ganz im Moment anzukommen.
  2. Der zweite Schritt ist dann, deine Werte anstatt deines Willens als Richtschnur zu nehmen.

Werte sind abstrakt. Sie sind das, was du leben willst und das, was dir wichtig ist. Im Gegensatz zu deinem Willen entspringen sie nicht deinen Verhaltensmustern, sondern deinem moralischen Kompass, der dich durch das Leben geleitet.

Wenn der Wert, den du leben willst, Ordnung ist, brauchst du nicht mehr durchsetzen, dass diese Ordnung auf eine bestimmte Weise erreicht wird. Du kannst kreativ werden. Du darfst aufhören zu glauben, die Manipulation deines Kindes würde ernsthaft bewirken, dass es später ordentlich wird – außer Schmerz und dem Gefühl, nicht angenommen zu sein, bewirkt Gehorsam gar nichts.

Das befreit. Garantiert. Probier es aus!