Echt sein ist ne Kunst. Oder?

Niemand hat uns das beigebracht. Also, mir nicht. Und ich kenne auch kaum Menschen, die echt und authentisch sein als Wert von ihren Eltern mitgenommen haben.

Demgemäß kenne ich auch nur wenige Eltern, denen Authentizität in die Wiege gelegt wurde.

Rollenspiel statt Ehrlichkeit

Als Eltern merken wir aber recht schnell, dass Kinder authentische Gegenüber brauchen. Unglücklicherweise nennt der Erziehungsmainstream das Verhalten, was Kinder an den Tag legen, wenn ihre Umgebung nicht authentisch und in Verbindung ist mit ihnen, ‚Grenzen testen‘ und reagiert mit Erziehung.

Das Ding mit der Erziehung ist (unter anderem): Sie verhindert Authentizität. Sie verhindert echte Beziehung.

Wenn ich kraft meiner Rolle als Mutter flöte ‚Schätzchen, entweder du gehst jetzt Hände waschen oder wir können nicht mehr Peppa Wutz gucken vor dem schlafen gehen‘, dann ist das nicht nur eine Strafe, sondern hat keinen Informationsgehalt für die Beziehung.

Übrigens auch dann nicht, wenn ich das brülle.

Wie es mir geht, was mich bewegt, warum Hände waschen mir am Herzen liegt und wie wir eine gemeinsame Lösung finden kommt hier nicht mehr vor.

Weil wir eine Rolle spielen. Die MamaPapaOmasonstwie-Rolle. Sie zwängt uns auf, so zu agieren, wie wir denken, dass Eltern im Allgemeinen agieren sollten – und gewaltsam zu unterdrücken, was in uns lebt und gefühlt werden will.

Viele Eltern haben aus diesem Dilemma einen Ausweg gefunden, indem sie, wenn es gar zu unerträglich wird, die eigenen Gefühle zu unterdrücken, die Kinder ihrer Wut, ihrer Trauer und ihrem Schmerz ungefiltert aussetzen. Und das nennen sie dann authentisch.

Das ist keine Authentizität. Das ist ein Missverständnis.

Was ist eigentlich diese Authentizität und warum ist die so wichtig?

Authentisch sein bedeutet, zu leben, was in mir an Gefühlen und Gedanken vorhanden ist und es im Einklang mit meinen Werten auszudrücken. Mit Betonung auf: Im Einklang mit meinen Werten.

Ein Wert, der mir hier sehr wichtig ist, ist Gewaltfreiheit. Es ist ein Grundwert der Haltung ‚unerzogen‘. Und wenn wir über authentisches Ausdrücken von Gefühlen reden, ist Gewaltfreiheit eine gute Richtschnur als Wert.

Gewaltfrei meckern bedeutet, auszudrücken, was mich bewegt (gern auch laut!) und dabei ganz in dem zu bleiben, wer ich bin.

Schwierig? Okay, du hast Recht: Schwierig.

Authentizität im Alltag: Ein Beispiel

Ich hab ne Hilfe für dich. Eine Übung.

Stellen wir uns vor, du ärgerst dich. Dein Kind hat nicht aufgeräumt und es sieht schlimm aus bei euch. Du hast Kopfweh, die Waschmaschine ist kaputt gegangen und wenn dich noch einmal so ein nerviger Versicherungsfuzzi anruft… Okay, ich glaub, es ist klar, was ich sagen wollte.

Und? Schon genervt?

Dein Kind wird dir das vermutlich spiegeln. Entweder direkt oder spiegelverkehrt (das erklärt Jesper Juul in seinem grandiosen Standardwerk Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist sehr schön).

Um nun in Kontakt zu kommen, empfehle ich folgende Schritte:

  1. Atmen. Achtsamkeitsübungen machen.

Damit stärkst du erstmal die Verbindung zu dir selbst und die Achtsamkeit. Dein ‚innerer Beobachter‘ kann aktiv werden und dir helfen, den ersten Impuls, der selten Gutes bringt, ziehen zu lassen. Hier gibt es Input zu einfachen Übungen im Alltag.

  1. Sich verbinden. Zuerst mit mir – was fühle ich? Was brauche ich?

Es kann erstmal ziemlich schwierig sein, die eigenen Gefühle zu benennen. Und erst Recht die Bedürfnisse. Sei geduldig mit dir. Hilfreich ist für den Anfang, über den Körper zu gehen und dessen Verspannungen und Energien wahrzunehmen.

  1. Ausdrücken, was mich bewegt. Dabei gilt die Faustregel ’nur beschreiben, was in mit ist‘

Drücke aus, was dich bewegt. Beschreibe es. Halte dich nicht zu sehr mit den Gedanken auf, weil dann sehr schnell die Gefahr besteht, dass verletzende und trennende Gedanken von dir beschrieben werden. Rede über deine Gefühle. Was du dir wünschst. Wie es dir geht.

Nachdem du dich mit deinen Gefühlen und Bedürfnissen verbunden hast und die ausdrücken willst, wirst du merken, wie sich der Fokus verschiebt. Ärger und Wut können zum Beispiel Trauer und Erschöpfung weichen. Das liegt daran, dass wir im Laufe der Zeit gelernt haben, unsere eigenen Gefühle zu unterdrücken und andere darüberzulegen (hier kannst du mehr dazu erfahren).

Das Benennen von Gefühlen und Bedürfnissen braucht Übung. Die Gewaltfreie Kommunikation war mir da eine riesige Hilfe. Das Standardwerk Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens von Marshall Rosenberg ist da ein guter Einstieg. Er stellt auch eine Liste menschlicher Gefühle und Bedürfnisse zur Verfügung, die am Anfang sehr hilfreich sein kann.

Kommt dir kompliziert vor? Ist es am Anfang auch. Sei geduldig. Es braucht Zeit.

In unserem Beispiel kann die Situation nun so aussehen:

  1. Du guckst dir das Chaos in der Wohnung an und dein tobendes Kind und bremst erstmal. Schluckst die nächste Bemerkung runter. Kochst dir einen leckeren Tee. Gehst in deinen Körper mit einer Aufmerksamkeitsübung.
  2. Du stellst fest, dass du total verspannt bist an den Schultern. Dass du echt müde bist heute. Dass dich dieses scheiß Chaos annervt. Dass du die Lautstärke nicht magst. Dass du dir Entspannung wünschst. Dann fällt dir auf, dass du Hunger hast.
  3. Du sagst: „Boah, weißte, ich bin heute so genervt! Ich mag gern mit dir spielen, aber es ist mir zu chaotisch. Und aufräumen will ich auch nicht. Ich bin müde! Mensch, heute hab ich echt nen doofen Tag! Und dabei merk ich, dass ich eigentlich auch ein bisschen traurig bin. Weil ich schon gern mit dir spielen würde. Aber wenn es so unordentlich ist, geht es mir nicht gut dabei.“

Es kann sein, dass euch dabei eine Lösung einfällt. Draußen spielen zum Beispiel. Aber das ist das Schöne an Authentizität: Sie braucht keine Lösung mehr. Der Fokus liegt auf der Verbindung und Kooperation. Das Spielzeugchaos und die schlechte Laune dürfen einfach sein.

Das ist Leben ohne Erziehung: Es geht nicht mehr darum, das Verhalten oder Tatsachen zu bekämpfen, sondern nur noch um Beziehung. Um Verbindung. Um Liebe.

Es geht übrigens auch nicht um Perfektion. Nur, falls es dir noch nicht aufgefallen ist. Verlangsamen, atmen, in Verbindung gehen sind keine Geheimrezepte. Nur Erfahrungswerte. Aber so ist das ohne Erziehung. Es gibt keine Rezepte. Es gibt deinen einen, einzigartigen Weg und Hilfen, ihn zu gehen.

Ich mag dich ermutigen: Trau dich, dich auszudrücken! Die Beziehung zum Kind wird es dir danken.

Ich freu mich, wenn du mir erzählst, wie es dir mit meiner Übung erging. Bis gleich in den Kommentaren!