Du kennst das.
Irgendwie hast du keine Lust heute. Das Wetter ist schlecht, deine Chefin war doof zu dir – wie auch immer.
Du hast keinen Bock mehr. Jetzt soll einfach mal was klappen. Nur: Deine Kids haben davon irgendwie noch nix mitbekommen.
Und dann passierts. Du erzählst deinen Kindern eine der folgenden Lügen.
Oder, noch schlimmer: Du glaubst sie nicht nur. Du handelst danach. Du lebst sie.
Die Lügen, die ich meine, sind toxisch. Sie vergiften Beziehungen. Sie säen Misstrauen und Traurigkeit. Sie machen das Leben mühsam.
Und alle Eltern, die ich kenne, kennen diese Lügen.
Ich selber habe sie schon geglaubt. Früher, als ich noch dachte, ich müsste meine Kinder erziehen. Ich habe ihnen erlaubt, mein Leben zu vergiften.
Das ist lange vorbei. Zum Glück.
Aber was sind nun diese Lügen? Ich stell sie dir vor.
„Es geht nun mal nicht anders!“
Das ist ne perfide Sache. Eltern erzählen ihren Kindern gerne mal, Dinge würden nicht anders zu lösen sein als so, wie sie sie lösen wollen. Das ist aus mehreren Gründen gemein.
Erstens: Weil es nicht stimmt. Wir Eltern haben nur manchmal keinen Bock auf ne andere Lösung. Oder haben Stress. Oder andere – vielleicht sogar gute – Gründe, die Situation so zu lösen, wie wir es nun mal tun. Wir könnten anders. Wir wollen aber nicht.
Zweitens: Weil es fies ist. Und feige. Ehrlich – wir könnten ja auch dazu stehen, dass unsere Entscheidung zwischen mehreren Optionen abgewogen wurde. Das wurde sie nämlich. Das ist die Natur von Entscheidungen. Steh dazu.
Zu behaupten, es gäbe keine Alternative zu der Entscheidung, die getroffen wurde, ist eine beliebte rhetorische Verschleierungsmethode. Unsere Kanzlerin tut es auch – alternativlos ist da das Stichwort.
Kommunikationstheoretisch ist das übrigens spannend – denn zu jeder Entscheidung gehört natürlich die Tatsache, dass es mindestens zwei Optionen gab, zwischen denen entschieden wurde. Sonst wäre es keine Entscheidung gewesen.
Entscheidungen im Nachhinein zu rechtfertigen, in dem ich so tue, als wäre es keine gewesen, nimmt meinem Gegenüber die Möglichkeit, ihre Substanz zu prüfen. Die andere(n) Option(en) werden gar nicht erst wahrgenommen (‚alternativlos‘). Und es sieht so aus, als müsste es eben logisch so sein, wie es nun ist. Und das stimmt nicht.
Es geht meist sehr wohl anders. Wenn du nicht willst, dann sag es!
„Das muss man eben auch mal lernen!“
Irrtum.
Lernen, genau das, was wir alle von Anfang an in jeder wachen Sekunde tun und das, wofür unser Gehirn designed ist, echtes Lernen also, hat mehrere Voraussetzungen: Es muss freiwillig sein, es muss ohne Druck, Stress oder gar Gewalt stattfinden und es muss in dem Zeitrahmen und auf die Art und Weise geschehen, die der_die Lernende braucht.
Wenn du sagst oder denkst ‚das muss xy nun mal lernen‘ – ich garantiere dir, du meinst nicht lernen.
Du meinst Gehorsam.
Oder Du meinst, dass es dir egal ist, wie es dem anderen damit geht, weil du hast nun mal entschieden. Du meinst Macht.
Dass jemand etwas lernen muss, ist einfach nicht möglich. Lernen braucht Freiwilligkeit.
Was ein Kind lernt, wenn es unter Zwang gesetzt wird, ist selten das, was es lernen sollte – warten zum Beispiel. Es lernt, dass große Menschen mit viel Macht über kleine Menschen mit wenig Macht bestimmen dürfen. War es das, was du ihm beibringen wolltest? Vermutlich nicht.
Und wenn es dann selber groß ist, wundert es sich, warum es das gar nicht aushalten kann, wenn ein kleiner Mensch widerspricht. Oder trödelt. Warum es so wütend wird… (über die körperliche Abspeicherung von Entwicklungstraumata könnt ihr hier mehr erfahren)
Niemand muss Dinge lernen. Aber wir alle tun es eh. Immer. Unser Gehirn kann gar nicht anders. Und je schöner wir die Umgebungsbedingungen für unsere Kinder gestalten, desto besser können sie lernen.
Eine toxische Lüge, oder?
„Das macht man (nicht) so!“
Wer ist eigentlich dieser man? Und warum hat der so wenig Spaß?
Diese Lüge ist auf den ersten Blick ein bisschen lustig – schließlich impliziert, dass wir sie sagen schon, dass irgendjemand ganz offensichtlich tut, was man nun mal nicht tut… Huch?!
Auf den zweiten Blick ist es schon weniger lustig. ‚Das macht man so/nicht‘ ist eine ziemlich fiese Art, die Verantwortung für die eigenen Gefühle loszuwerden.
Denn normalerweise sagen Eltern diesen Satz, wenn sie eigene, starke Gefühle haben. Scham zum Beispiel.
Leider leben wir aber in einer Kultur, in der es kaum möglich ist, starke Gefühle auszudrücken. Nur wenige Menschen haben das gelernt. Dann einfach zu behaupten, dass ‚man‘ Dinge nicht tut, ist eine (toxische) Strategie, damit umzugehen, dass wir nicht mehr fühlen können, was in uns vorgeht.
Ehrlicher wäre zu sagen ‚Ey, das ist mir peinlich!‘ oder ‚Du, ich find das überhaupt nicht okay. Mir ist wichtig, dass hier alle sicher sind!‘ und über uns und unsere Gefühle zu reden.
Denn unsere Kinder können mit allgemeinen Aussagen nicht viel anfangen. ‚Man‘ wirft also nicht mit Sand? Nun ja, dann hat ‚man‘ vermutlich wenig Spaß! Wie schade für ihn!
Redest du allerdings über dich und was dir wichtig ist und warum, hast du eher eine Chance, dass dir zugehört wird. Denn Kinder sind soziale Wesen und du bist wichtig für dein Kind. Deine Meinung zählt, auch wenn es nicht immer so aussieht.
Und noch etwas: Lösungen finden wir dann, wenn wir schauen, was dieser eine Mensch in dieser Situation braucht. ‚Man‘ steht uns im Weg dabei. ‚Du‘ und ‚ich‘ und ‚die Situation‘ sind die Dinge, die für eine Lösung wirklich relevant sind.
All diese Lügen habe ich selber übrigens schon erzählt. Manchmal beschlich mich dabei ein ungutes Gefühl – ich spürte sehr wohl, dass es schlicht nicht stimmte, was ich da sagte. Aber ich wusste nicht, wie ich mich echt und persönlich ausdrücken konnte. Ich hatte kein Vertrauen, dass meine Kinder mit mir und meiner Persönlichkeit kooperieren wollten.
Ich bin froh, da heute raus zu sein. Mein Weg führte mich zu mir selbst und dem, was ich brauche und was mir wichtig ist. Und ganz nebenbei macht es glücklich, authentisch zu sein.
Kennst du die Lügen, die ich vorgestellt habe? Fallen dir noch andere ein?
Ich bin gespannt auf deinen Kommentar!
Dein Beitrag ist so wahr und ich würde ihn am liebsten an jeder Hauswand, an jeder Plakatwand und auf allen Pinnwänden aufhängen!
Danke !!!
Danke, liebe Andrea! Tatsächlich ist es eine solche Befreiung, diese Glaubenssätze nicht mehr mit sich zu schleppen – das wünsche ich mir sehr, dass sich so langsam herumspricht, dass sie gar nicht nötig und nicht wahr sind 😉
Ganz klar sehe ich das, wenn mein Mann sagt, was er manchmal gerne tut „Das geht doch nicht“, z.B. wenn eines unserer Kinder auf den Esstisch steigt und sich drauf setzt.
Ich fühle mich da dann aufgefordert zu sagen:“ Sieht so aus, als ob es ganz gut geht. Du möchtest es wahrscheinlich nicht, aber gehen tut es.“
Bei anderen sehe ich das sehr gut. Allerdings bin ich sicher, dass ich auch oft Kommentare in der Art raushaue und den armen „Man“ bemühe ich auch öfter, als mir lieb ist.
Aber ich arbeite dran.
Liebe Claudia,
der arme ‚man‘ muss wirklich für vieles her halten – mir passiert es auch immer mal, dass ich ihn als Ausrede nutze.
Schritt für Schritt. Dran arbeiten ist doch die Hauptsache.
Grüße, Ruth
Hallo, ganz früher ging es mir mit dem „man“ ebenso. Inzwischen habe ich mich darin geschult, dass Wort gerade auch im Alltag zu verbahnen (mit so manchem „Rückfall“), denn wer ist schon „man“ und die Kinder sollen sich nicht das gleiche aneignen…Liebe unbekannte Grüße Viola
Man muss da einfach mal zustimmen…. Nein. Nicht man. ICH stimme dir hier aus vollemHerzen zu! Es ist scheinbar leichter, den Kids etwas „vorzugaukeln“. Zumindest in dem Moment. Später ärgert man sich dann aber über gewisse andere Verhaltensweisen der Heranwachsenden.
Die beste Erziehung ist immer noch, das beste Beispiel zu geben! Und zwar idealerweise immer. Was nicht heißt, das alles perfekt sein muss. Wenn man traurig ist, ist man traurig. Das darf Junior ruhig wissen, aber auch sollte er mitbekommen, wie „man“ ( 😉 ) dann damit umgeht!
Liebe Sandra,
ich persönlich finde ja, die beste Erziehung ist keine Erziehung 😉 . Aber was du ansprichst, ist wirklich ein wichtiger Punkt, finde ich – dass wir alle nicht perfekt sind und dass das auch kein Drama ist. Tatsächlich ist ja traurig sein überhaupt nix Schlimmes. Und dass unsere Kinder uns traurig erleben, auch nicht. Da geht es mir wie dir, da wünsche ich mir ganz viel Mut von Eltern, sich auch zu zeigen, mit dem was ist! Liebe Grüße, Ruth
Danke für diesen tollen Beitrag! Auch ich würde ihn gerne an jeder Straßenecke verewigen, damit noch mehr Menschen beginnen, mehr über ihr Reden und Handeln wirklich nachzudenken.
Durch eine Freundin aufmerksam gemacht, lese ich nun immer sehr gespannt deine Berichte.
Zu den drei Lügen: hab ich sicher auch schon benutzt. Aber prinzipiell versuche ich immer zu erklären und nicht einfach abgestumpft meine Meinung kundzutun ohne jeglichen Hintergrund. Amélie soll ja schließlich auch lernen, wie ich zu meiner Entscheidung gekommen bin und abwägen, ob es ihrem Ideal entspricht. Doch bisher kann meine Zweijährige nicht wirklich mit dem was ich ihr sage, was anfangen 😀
Toller Artikel! Danke, Ruth!
Eine Lüge fällt mir noch (als ehem. Lehrer) ein: „Das brauchst du mal später im Leben!“ Kinder leben im Hier und Jetzt. Nichts ist demotivierender, als in Konserven zu lernen. Kein Erwachsener, kein Lehrer würde dies tun, aber sie verlangen es von den Kindern und werden noch dazu gut bezahlt. Eine Schande! Nein, danke! (ich habs nur 3 Jahre in der staatl. Institution Schule ausgehalten…. es war a l l e s EINE Lüge!) Wenn Du jemals am selbstbestimmten Leben und Lernen mit Dir und Deinem Kind geschnuppert hast, gibt es kein zurück mehr in die alten Lügen…. Das ist Freiheit leben! Liebe Grüße, Christian!
Lieber Christian,
oh ja, die ‚ich zwing dich heute, damit du morgen…‘ – Lüge. Schlimm!
Ruth
Mein Mann ist auch so eingefahren durch seine ERZIEHUNG! Ganz schlimm!! Ich muss mich immer arg beherrschen, wenn ähnliche Sätze – wie Andrea es hier schon schilderte – fallen! Meine schwiegerm. meinte mal in dem Zusammenhang, als mein großer (ein pubertier von 12 Jahren damals!!) in Anwesenheit zweier Freundinnen, die er belustigen wollte – draußen an nem Café – rülpste, als er seinen Kakao austrank, dass ihre
Kinder ja schon im Kleinkindalter „ordentlich am Tisch sitzen und essen konnten“ – das machte mich so wütend… natürlich fand ich es auch nicht so toll, aber „hey – er ist ein rebellierender „extra- cooler“ ganzstarker“ – manchmal machen Kinder so was… und damals wusste ich schon, falls ich nochmals Mutter werden darf, wird unser Kind nicht so gedrillt und da müssen nun auch alle durch! 😉 der kleine darf auch auf dem Tisch sitzend essen – der große durfte schon auf seinem Hochstuhl sitzend, die füsse auf den Esstisch legen, ohne dass ich was gesagt habe! Irgendwann legt es sich, aber so lange ist es kein Verbrechen! Und Glaubensätze bringen mich immer wieder auf die Palme, Bsp. meine mum, wenn der kleine – 17 Monate alt – klettert, dann kommt so oft „pass auf, du fällst noch“… usw usw – selffullfillingprophecy 😉
Ja, dieser „man“… Ich finde ja, dass Alfie Kohn (ich hoffe, ich verwechsle das jetzt nicht) dieses Dilemma sehr treffend beschreibt: erst sollen die Kinder etwas (nicht) tun, weil „man“ das eben (nicht) tut, und dann irgendwann, dreht sich die Sache um: wenn alle auf die Party gehen dürfen, und das Kind das als Argument für sich nutzen möchte, heißt es plötzlich, was die anderen (=man) tun, sei den Eltern egal. Wer soll sich da noch auskennen?!
Es geht oft um einzelne Wörter, aber die machen einen riesigen Unterschied. Zum Thema „müssen“, „können“ etc. wurde ja auch schon viel geschrieben. Seit ich mir angewöhnt habe, meine Wünsche als „Ich will/möchte …“ zu formulieren, kommt halt von meinem Kind auch oft ein „Ich will aber trotzdem …“ zurück; damit angemessen umzugehen ist auch nicht immer einfach. Generell bekomme ich so sehr oft den Spiegel vorgehalten und höre meine Worte aus dem Mund meines Kindes, da zwingt sich mir oft förmlich ein Perspektivenwechsel auf, bei dem ich nicht immer gut wegkomme… Aber wie Ruth schon sagte: es geht um’s Dranbleiben!
Liebe Ruth danke für den tollen hilfreichen Artikel! Ich lese in jeder freien Minute Deine Texte:-) weisst Du ich hab gestern etwas erlebt was mich nachdenklich gemacht hat, zu diesem Thema: Meine gerade vierjährige Tochter hat sich beim Klettern den Arm gebrochen. Bin also mit ihr unterwegs gewesen,erst Arzt, dann Krankenhaus, und war erschrocken wie wenig kinderfreundlich es dort zuging. Sie hat viel gebrüllt weil sie in ihrem angeschlagenen Zustand sich nicht von fremden Menschen untersuchen lassen wollte. Ich hab sie darin unterstützt hab da aber kaum Verständnis von dem Krankenhauspersonal bekommen. Gleichzeitig war mir wichtig das ihr Bruch medizinisch versorgt wird. Hast Du da mal was zu geschrieben/gemacht, über unerzogen und medizinische Maßnahmen bei Kindern? Der Text über Zähneputzen in der Physik der Beziehungen ging ja in die Richtung. Und im unerzogen Magazin war mal ein toller Bericht über Gewalt in der Geburtshilfe. Und über diese seltsamen Schuleintrittsuntersuchungen.. Ich meine das hat sich angefühlt wie Gewalt, als da gestern so ein älterer Arzt, ohne mein Kind persönlich anzusprechen, ihr einen Verband anlegte während sie weinte und schrie „das ist viel zu fest ich will jetzt nicht mehr“…jetzt heute im Nachhinein habe ich mir vorgenommen dort nochmal das Gespräch zu suchen weil es sich so, so falsch angefühlt hat. In dem Moment war ich kurz davor aufzustehen und zu gehen mit meiner Kleinen…Hab währenddessen und dannach mit ihr gesprochen und ihr erklärt wie blöd ich das fand und das ich es gut fand wie sie sich verhalten hat, und das ich mich entschieden hatte die Ärzte machen zu lassen damit ihr Bruch richtig heilt. Was meinst Du dazu liebe Ruth? Ich würde mich sehr freuen von Dir und Anderen zu hören. Liebe Grüße Katharina
Hallo Katharina,
das mit den Schuleintrittsuntersuchungen interessiert mich, weißt du wo ich den Artikel finden kann?
Liebe Grüße,
Bianca