Du willst es anders machen. Liebevoll. Wie in den Büchern.
Und dann ist es irgendwie schon wieder total spät, das Baby weint und das Kleinkind wirft Dinge und du hast heute noch keine Minute irgendwo gesessen.
Und es passiert. Du rastest aus. Du schreist. Du redest von Konsequenzen. Du hast keinen Bock auf deine Kinder und das merken die auch.
Anschliessend, wie immer: Das schlechte Gewissen. Die Angst. Die Unsicherheit. Fuck, hast du es nun verkackt mit deinem Kind? Das Trauma weitergegeben? Genau den gleichen Mist gemacht wie deine Eltern?
Warum kannst du nicht so geduldig sein wie du willst? Und wie wirst du geduldiger?
Erstmal: Keine Sorge. Das passiert uns allen und es ist okay. Und zweitens: Es kann gut sein dass du schlicht ein paar wichtige Dinge nicht weisst, wenn es um Gewalt an Kindern und das Brechen von Teufelskreisen geht. Es gibt drei Gründe, warum Eltern aus dieser ewigen Spirale nicht rauskommen – und die sind oft unsichtbar. Ich stelle sie dir heute vor:
- Du denkst es geht ums Denken
Es ist nicht genug zu wissen, wenn es um Kinder geht. Und ey glaub mir, ich hab es versucht. Ich habe viele, viele Jahre Gewalt und Gewaltfreiheit studiert und gelesen und nachgedacht. Und dann trotzdem meine Kinder angeschrieen. Was ein abgefuckter Trip das war – einen Fachartikel von Gesa Lindemann über Gewalt als soziale Kategorie lesen und dann das Kind anmaulen weil es mich dabei unterbricht!
Wir in der weissen westlichen Welt denken zu oft es ginge um reinen Intellektualismus. Und das ist ein Problem wenn es um den Umgang mit Kindern geht – weil unsere Körper viel schneller reagieren als unser Verstand.
Unser Umgang mit Kindern ist eingebettet in unser Nervensystem. Und das schert sich nicht um das schlaue Buch dass du gelesen hast (und auch nicht um diesen Artikel – rude!). Es reagiert aufgrund deiner Erfahrungen und vielfach wiederholten Handlungen, aufgrund der Anspannung in deinem Gesamtsystem und angelernten Mechanismen mit dieser Anspannung umzugehen.
Das bedeutet du kannst deine Reise in die friedvolle Elternschaft nicht nur intellektuell ist. Sie ist auch körperlich. Sie ist eine Praxis die dein Nervensystem mitnehmen muss. Wenn du gewaltvoll bist und nich weisst warum, dann vergisst du dass du nicht nur deine Gedanken bist.
Das Gute ist, es bedeutet du musst dich nicht mehr zusammen reissen oder mehr lesen. Du musst umsetzen.
2) Deine Schritte sind zu gross
Du hast diese Idee. Wie du das nun toll und geduldig machst beim Abendbrot. Und dann fällt deine Lieblingstasse runter und dein Kind jammert dass das Brot nicht schmeckt und ach fuck, es nervt!!! Und zack, da bist du wieder in deinem alten Verhalten.
Der Traum? Gemütliches, entspanntes Abendbrot und alle bester Laune.
Die Realität? Du bist scheisse drauf UND WER KLEBT DIR DEINE LIEBLINGSTASSE?
Das Problem ist die Lücke. Die, zwischen dem was du willst und dem was da ist. Und das machen so krass viele Eltern! Sie haben dieses Bild von der glücklich lächelnden Familie die immer nur happy ist im Kopf und sind dann enttäuscht dass das Leben aus Verlust und Schmerz und Ärger besteht, genau so wie aus den schönen Momenten.
Ich hab ne schlechte Nachricht: Du wirst halt immer blöde Momente haben. Mit deinen Kindern und ohne sie.
Aber: Klar, du kannst Schritte unternehmen weniger gewaltvoll zu sein. Das GEHT auch, aber eben nicht indem du dir die Karotte einer Fantasiefamilie vor die Nase hältst und dich dann wunderst.
Das geht, indem du kleinere Schritte machst. Schritte, die realistisch sind.
Indem du aufstehst vom Abendbrottisch und in ein Kissen schreist statt das Kind anschreist. Indem du eine Zeit lang erlaubst dass alle vor dem Fernseher essen. Indem du zulässt dass es unperfekt und damit lebbar wird, anstatt dir eine Utopie vorzustellen für die du ja auch nie was machen musst weil du weisst dass du sie nicht erreichen kannst.
Geh los und werde unperfekt.
3) Du siehst dein Kind nicht als Menschen
Woaaaah, langsam. I know, das fühlt sich erstmal scheisse an. Aber hör mir kurz zu, bitte.
Weisst du, ich bin Expertin für Gewalt. Eine der Voraussetzungen für Gewalt ist, dass sie dem Gegenüber die Menschlichkeit nimmt. Denn einer Person die wir als ganze Person ansehen, Gewalt anzutun ist nicht so einfach – das löst etwas aus was wir kognitive Dissonanz nennen. Es ist falsch, anderen Personen weh zu tun und wird dir ein schlechtes Gewissen machen.
Ein möglicher Weg für dein Unbewusstsein da raus? Das Kind entmenschlichen.
Wie das aussieht?
VIelleicht kennst du diese Sätze: “ Kinder brauchen aber auch mal Grenzen“ – „irgendwann ist halt mal Schluss“ – „das muss es eben auch mal lernen“
Jo. Das als Reaktion auf den Schmerz von Kindern zum Beispiel ist entmenschlichend. Stell dir vor das würden wir über eine andere Gruppe sagen…?!
Kinder als Menschen sehen müssen wir alle neu lernen. Kollektiv lachen wir über Kinder online, werten ihre Bedürfnisse ab, nennen Verhalten „kindisch“ und meinen das beleidigend und vieles, vieles mehr. Es ist einfach, Kindern Gewalt anzutun und sie zu rechtfertigen und es braucht echt Anstrengung, Kinder als Menschen zu sehen.
Das kannst du üben. Und es wird schwerer werden für dich, gewaltvoll zu sein.
Liebe Ruth, Danke für deinen spannenden und wertvollen Artikel. Ich bin selbst Elterncoach und seit fast 2 Jahren Vater. Ich finde deine 3 Punkte sehr treffend und kann diese gerne in mein Coaching einfliessen lassen und gerne deinen Blog weiterempfehlen. Das Thema Gewalt scheint mir in der Gesellschaft nach wie vor ein zwiespältiges Thema zu sein. Viele Menschen nutzen Gewalt als Mittel sich durchzusetzen, Bsp. Strassenverkehr. Der Verzicht auf Gewalt fällt vielen Schwer. Gewaltlosigkeit oder eine Alternative zu Gewalt fordert neue Strategien welche wir vielleicht noch nicht kennen. Ich z.B. muss meinem kleinen Jungen den Bewegungsradius verkleinern, wenn er z.B. gar keine Kooperation zeigt. Ich lasse ihm meist noch Freiraum sich zu bewegen, aber durch das verkleinern des Raumes, kann er besser verstehen, dass jetzt eine Anforderung an ihn gestellt wird. Meist ist es auch eine Frage der Zeit, bis er soweit ist der Anforderung nachzukommen. Oft muss ich durchatmen und Geduld zeigen, dann klappt es besser. Ich habe den Eindruck, dass der Zeitdruck und die Anforderungen der Aussenwelt, wie Kita, Schule etc. Eltern dazu verleitetet, über zu reagieren.
Ich freue mich schon weiter in deinem Blog zu schmökern. Herzliche Grüße Mihaly