Mama, ich entscheide selber!‘

Solche und ähnliche Sätze schleudern uns Kinder gerne mal entgegen. ‚Selber‘ ist eines der ersten Worte vieler Babies und noch bevor sie überhaupt sprechen können, verteidigen sie ihre Autonomie – körperlich und durch Schreien.

Aber können Kinder eigentlich wirklich selber entscheiden? Und wie können wir sie begleiten?

Wir sind von Anfang an fähig, zu spüren, was wir brauchen. Warum es so wichtig ist, das auch umzusetzen, habe ich hier und hier mal zum Thema Essen beschrieben. Das gilt für alles andere auch.

Nun erreichten mich einige verzweifelte Anschriften. Eltern, die spürten, dass ihre Beziehung zu ihren Kindern litt unter den Verboten, die sie nun aufheben wollten. Aber wie? Woher das Vertrauen nehmen und wo soll mensch denn überhaupt anfangen mit dem Aufhören, wenn das Kind bisher reguliert wurde?

Wie fangen wir an zu vertrauen? Wie verändern wir eine Beziehung, die bisher auf der Annahme basierte, dass ein Kind ’sowas nun mal nicht allein entscheiden kann‘?

Vertrauen

Erstmal darf die Überzeugung, dass das Kind seber entscheiden kann, vom Kopf in den Bauch rutschen. Das klingt leicht und ist schwer. Alter Schwede, ist das schwer.

Dein ‚Bauch‘, das sind nämlich jede Menge antrainierter Glaubenssätze. Die zeichnen sich dadurch aus, dass sie weder rational noch reflektiert sind. Sie sind quasi komplett unberechenbar – mal helfen sie dir, wenn sie deinen Werten entsprechen, mal führen sie dazu, dass du ausrasten könntest, weil du andauernd – und du weißt einfach nicht, warum?! – das Gegenteil von dem machst, was du eigentlich willst.

Deswegen rate ich dir, deine Gedanken zu beobachten in solchen Situationen. Nur beobachten. Lieb haben. Liebevoll ansehen. Was schwirrt da rum? Kann das Bestand haben? Woher kommt das? Das kann amüsant und spannend werden, wenn du dir erlaubst, neugierig zu sein!

Bei Lichte betrachtet sind die hinderlichen Glaubenssätze oft ausgesprochener Schwachsinn.

‚Wenn ich nicht heute dafür sorge, dass mein Kind um 7 im Bett liegt, wird es das in der Schule nicht können!‘

‚Mein Kind wird ein Tyrann, wenn es mich immer haut!‘

Na, du weißt, was ich meine, oder?

Informier dich. Wenn du eine konkrete Angst hast, informiere dich und löse sie auf. Denken, denken, informieren. Angst hat eine Allergie auf Wissen. Bombardiere sie mit Wissen!

Und was ist, wenn ich nicht vertrauen KANN?

Dann lass es. Selbstregulation ist nur dann wirklich möglich, wenn Eltern ihre Angst überwinden können. Wenn du es nicht schaffst, ist das okay. Die Gefahr, dass dein Kind die Verantwortung bekommt (’nun erlaube ich dir so viel und du isst immer noch so viel Marshmallows!‘), ist zu groß. Lass die Verantwortung bei dir und sage deinem Kind, dass du es nicht schaffst, ihm zu vertrauen. Immer noch besser als Fake-Vertrauen.

Loslassen

Wenn du deine Gedanken wahrnehmen, hinterfragen und damit auch zähmen konntest, kannst du sie auch loslassen. Eine Freundin von mir hat dazu ein Ritual: Sie schreibt sie auf einen Zettel, legt sie auf ein Stück Rinde und setzt sie auf einen Fluß. Find ich genial. Wenn dir das zu viel Waldorf ist und dir eher nach amerikanischem Krimi ist, dann verbrenn den Zettel. Oder bastel was draus. Keine Ahnung.

Lass die Gedanken los.

Der Gedanke ist es, der zwischen dir und deinem Vertrauen steht. Nicht das Verhalten deines Kindes bestimmt, wie du dich fühlst und ob du vertrauen kannst, sondern dein Gedanke.

Glaubst du mir nicht?

Ich erzähl dir mal ne Geschichte. Ich habe sie geklaut, aber ich erzähl sie trotzdem:

In einem fernen Land gab es vor langer, langer Zeit einen Tempel mit tausend Spiegeln, und eines Tages kam, wie es der Zufall so will, ein Hund des Weges.

Und der Hund bemerkte, daß das Tor zum Tempel der tausend Spiegel geöffnet war, und vorsichtig und ängstlich ging er in den Tempel hinein.

Und Hunde wissen natürlich nicht, was Spiegel sind und was sie vermögen, und nachdem er den Tempel betreten hatte, glaubte er sich von tausend Hunden umgeben.

Und der Hund begann zu knurren, und er sah auf die vielen Spiegel, und überall sah er einen Hund, der ebenfalls knurrte. Und er begann die Zähne zu fletschen, und im selben Augenblick begannen die tausend Hunde die Zähne zu fletschen, und der Hund bekam es mit der Angst zu tun. So etwas hatte er noch nie erlebt, und voller Panik lief er, so schnell er konnte, aus dem Tempel hinaus.

Dieses furchtbare Erlebnis hatte sich tief im Gedächtnis des Hundes vergraben. Fortan hielt er es als erwiesen, daß ihm andere Hunde feindlich gesinnt sind.

Die Welt war für ihn ein bedrohlicher Ort, und er wart von anderen Hunden gemieden und lebte verbittert bis ans Ende seiner Tage.

Die Zeit verging, und wie es der Zufall so will, kam eines Tages ein anderer Hund des Weges. Und der Hund bemerkte, daß das Tor zum Tempel der tausend Spiegel geöffnet war, und neugierig und erwartungsvoll ging er in den Tempel hinein.

Und Hunde wissen natürlich nicht, was Spiegel sind und was sie vermögen, und nachdem er den Tempel betreten hatte, glaubte er sich von tausend Hunden umgeben.

Und der Hund begann zu lächeln, und er sah auf die vielen Spiegel, und überall sah er einen Hund, der ebenfalls lächelte, so gut Hunde eben lächeln können. Und er begann vor Freude mit dem Schwanz zu wedeln, und im selben Augenblick begannen die tausend Hunde mit ihrem Schwanz zu wedeln, und der Hund wurde noch fröhlicher.

So etwas hatte er noch nie erlebt, und voller Freude blieb er, so lang er konnte, im Tempel und spielte mit den tausend Hunden.

Dieses schöne Erlebnis hatte sich tief ins Gedächtnis des Hundes eingegraben. Fortan hielt er es als erwiesen, daß ihm andere Hunde freundlich gesinnt sind.

Die Welt war für ihn ein freundlicher Ort, und er wart von anderen Hunden gern gesehen und lebte glücklich bis ans Ende seiner Tage.

 

Worum es hier geht? Darum, dass unsere Welt konstruiert ist. Von unserer Wahrnehmung. Wenn du deine Wahrnehmung veränderst, veränderst du deine Beziehungen.

Selbstbestimmung hat nicht zum Ziel, dass das Kind so und so oft Fernsehen guckt oder Süßes isst. Es geht darum, die Beziehung zu stärken und im Kontakt zu sein. Deine Gedanken loszulassen, macht dich bereit, das Kind und seine Beschäftigung wirklich anzusehen. Wirklich zu sehen, wie viel es isst und was es daran beschäftigt und warum. Wirklich zu sehen, ob es müde ist oder nur sein sollte. Wirklich neugierig zu werden, was dem kindlichen Verhalten zugrunde liegen könnte.

Und was ist, wenn mir das nicht gefällt?

Weißt du, was ich mache, wenn mein Mann eine Serie guckt, die ich scheiße findest? Ich sage dann, dass ich die doof finde. Und warum. Und dann tauschen wir uns aus.

Natürlich darf mein Mann das trotzdem gucken. Klar. Ansonsten hätten wir hier richtig Stress. Es geht ja um sein Recht auf Trash, sozusagen.

Mit deinen Kindern kannst du das genau so machen. Der Clou ist – und das ist das, was erziehende Eltern mir immer nicht glauben, weil der Gedanke vom ‚bösen Suchtstoff‘ so tief sitzt – dass das Kind, wenn es weiß, dass es gehört wird und du keine erzieherische Gewalt anwenden wirst, dir zuhören wird. Du bist sein Elternteil – natürlich ist ihm wichtig, was du denkst und fühlst!

Das heißt natürlich nicht, dass es auch tut, was du für richtig hältst. Aber zuhören und in Verbindung sein, kann langfristig schädigendes Verhalten viel, viel besser auffangen als jedes Verbot. Das gilt nämlich nur solange, wie du die Macht hast. Wenn dein Kind irgendwann alt genug ist, selber zu entscheiden – dann wird es sich an dich wenden, wenn du deine Macht nur sparsam und in wirklichen Notfällen angewandt hast. Und darum geht es doch.