Ich bin so unsicher.
Meine Tochter schreit eine Oktave höher. Ich merke, wie mein Widerstand, mit ihr nach ihren neuen Schuhen zu suchen, schmilzt. Ich schlage ein paar Lösungen vor.
Sie hört auf zu schreien und schluchzt: „Ist schon gut“.
Gesehen werden. Es ging nicht um eine Lösung, nicht um die Schuhe, die ich müde und mit Kopfschmerzen nicht suchen wollte. Es ging um das, was verrückterweise viel zu selten im Umgang mit Kindern berücksichtigt und gleichzeitig das ist, was wir alle unbedingt brauchen: Dass unser Standpunkt und wir als Individuum wahrgenommen werden.
Der Punkt ist – ich bin da nur hingekommen weil ich unsicher war.
Unsicherheit ist das Wahrnehmen von Spannungen in unseren Werten. Ich wollte auf mich achten, aber ich wollte auch, dass sie wahrnimmt, dass mir ihre Wünsche wichtig sind. Beide wichtige Grundwerte: Integrität und Verbindung mit anderen.
Dass ich unsicher wurde, bedeutet, dass ich spürte, dass es diese beiden Werte gibt und beide ihre Berechtigung haben. Es bedeutet, dass mein Kind Gewicht bekommt in der Familie und ich nicht schlicht über es bestimme – denn es muss ja nunmal tun, was ich sage, weil es mir unterlegen und abhängig ist.
Unsicherheit ist nichts schlimmes und es regt mich wirklich richtig auf, dass sie so dargestellt wird.
Verunsicherte Eltern, so scheint mir, sind zum Sinnbild der Krise der Moderne geworden. Ich selber dachte bis vor kurzem, dass ich es auf jeden Fall vermeiden muss, unsicher zu werden. Vor allem vor anderen. Vor allem vor mir selbst.
Erst Recht als Person, die mit dem Umgang mit Kindern in der Öffentlichkeit steht – denn ich muss ja wissen, wie es geht!
Blödsinn. Absolut. Total. Ich bin andauernd unsicher.
Unsicherheit ist der Ort, wo neue Ideen geboren werden, im Schwanken zwischen den Werten und Richtungen, die mein Leben haben soll. Unsicherheit ist der Moment, an dem sich entscheidet, was wirklich wichtig ist und den zu beobachten, bedeutet uns selbst kennen zu lernen.
Unsicherheit ist die körperliche Reaktion auf ein erlebtes Dilemma.
Und das gilt es zu feiern.
DASS wir ein Dilemma haben, ist doch geil – es bedeutet, dass wir Werte haben. Ideen, wie wir mit unseren Kindern umgehen sollten. Und ja, klar, die kollidieren. Dass das so ist und das beobachtbar ist von dir, heißt, dass es dir nicht scheißegal ist.
Und das ist großartig. Wir können den Umgang mit Kindern nicht verändern, wenn wir Unsicherheit eliminieren, indem wir schnelle Entscheidungen treffen – die Gefahr ist zu groß, dass es alte Dinge sind, die wir da reproduzieren.
Und Veränderung fand noch nie mit alten Mustern statt.
Auf uns verunsicherte Eltern!
Liebe Ruth, Danke für den Text! Unsicherheit in diesem Kontext zu sehen hilft mir durch so manche Momente und stärkt mich fürs Umdenken… Trotzdem ist das Gefühl für mich unangenehm, auch wenn ich weiß dadurch kommt etwas in Bewegung. Siehst du dabei Unsicherheit als Prozess/Weg oder als Impuls was neues zu wagen oder wie würdest du das beschreiben? Viele Grüße Mareike
Ich glaube es ist notwendiges Übel für Wandel.
Jaaaaa, geeeenaaaauuuu DAS!!!!! Genau das ist mir die letzten Tage auch durch den Kopf gegangen…mir ist es aufgefallen, als ich mich mal wieder verglichen habe, als ich mich von anderen wieder bewertet gefühlt habe (ob sie das wirklich getan haben sei mal dahin gestellt, das sind ja auch wieder MEINE Gedanken) – da hatte ich aber irgendwann den Gedanken:“hey, ich denke aber immerhin darüber nach (mein Verhalten meinen Kindern gegenüber, ihren Gefühlen, ihren Persönlichkeiten, meiner Prägung…)!“ Und plötzlich war ich um einiges entspannter und freier im Kopf. Weil, nein, ich bin nicht immer fair und super entspannt und die Mama auf Augenhöhe – aber ich bin es auch im Umgang mit z.B. meinem Mann auch nicht. Auch bei ihm bin ich manchmal motzig, genervt, ohne dass er etwas dafür kann usw. – ich denke aber darüber nach – wieso, weshalb, warum – egal, ob im Umgang mit Kindern oder Erwachsenen: der Umgang mit MENSCHEN lässt mich immer wieder über mich nachdenken, lässt mich wachsen…
Total cool, liebe Ruth!
Das erinnert mich an etwas, was ich in meinem Beruf als Shiatsu-Praktikerin immer wieder erlebe. Nämlich: dass ich meistens bessere Behandlungen gebe, wenn ich müde bin. Dann kann ich mich offensichtlich besser auf das einlassen, was ist, Ohne vorgegebene Konzepte, ohne vorgefertigte Lösungen im Kopf, ohne dass ich schon weiß, wie alles geht. Weil all das anstrengend ist, weil all das Kopfarbeit ist. Kopfarbeit, die ganz nebenbei und auch unbemerkt passiert, aber doch Fokus, Konzentration und somit Aufwand benötigt.
Wenn ich Tage habe, wo ich aus Müdigkeit das nicht leisten kann, dann bin ich wirklich da, im Jetzt, im Sein, im gemeinsamen Schwingen mit der Shiatsu-Partner*in, Das Einlassen in den Moment kostet viel weniger Energie. Ganz im Gegenteil, es beschwingt auch mich und erfrischt und mir geht es danach selber viel besser. (Was allerd
ings auch für die nicht-müden Behandlungen gilt…) 😉 he he
Deshalb sind ja unsere Arbeitsfelder so geil, weil, wenn wir uns drauf einlassen, geht es nicht nur der anderen Person besser, sondern auch uns selbst. Weil wir ja im grossen Sinne auch gar nicht von einander getrennt sind…. (So jetzt hör ich auf, jetzt werde ich spirituell-philosophisch….)
Umarme Dich, Du Liebe!
Irene
Liebe Irene,
das ist aber ein spannender Impuls, da denke ich mal drüber nach!
Grüße, Ruth
Ruth, echt, diese Überlegungen über Unsicherheit hauen mich um! Ich habe mich immer für meine Unsicherheit in „Erziehungsfragen“ entschuldigt und damit (gerade bei sogenannten Fachleuten) eine Tirade von wohlwollendem Verzeihen und gutgemeinten Ratschlägen losgetreten. Ich wurde immer darin bestärkt, dass meine Unsicherheit dass falscheste sei, was man Kindern von heute antun könnte. Dicht gefolgt von mangelnder Konsequenz ;-). Danke für deine Überlegungen, die diesen Punkt bis zu Ende denken.
Liebe Francesca, ja, genau das ist ein Phänomen was mich besorgt. Und ich freu mich dass ich dich bestärken konnte…
Immer wieder Danke für die Denkanstöße!
Gerne!
Wow!Das ist so gut ausgedrückt, genial formuliert. Irgendwann ist mir im Umgang mit meiner Tochter und bei der Beobachtung von anderen Eltern aufgefallen dass alles aus „ersten Malen“ besteht. Alle Eltern dieser Welt sind zum ersten Mal Eltern. Das kann man vorher nicht geübt haben. Das Kind wächst heran in einer ständigen Metamorphose und jedesmal ist es neu. Natürlich (sollte man?!) ist man hin und wieder unsicher.
Und dass du dass jetzt auch noch in so ein tolles Licht rückst, nimmt dieser Unsicherheit viel Schwere. Dabei fällt mir gerade auf dass Unsicherheit einfach das Hinterfragen des aktuellen Zustands ist. Dankeschön 🙂
Ich danke dir!
Liebe Ruth, ich finde es sehr spannend, wie du Unsicherheit in ein anderes Licht setzt und in Bezug auf die eigene Offenheit ist das sicher richtig. Was aber sagst du in dem Zusammenhang vom AlphaParenting nach Gordon Neufeld? Demnach ist es ja sehr wichtig, dass der (liebevoll fürsorgende) Elternteil eben möglichst selten unsicher ist – um das Kind eben nicht zu verunsichern, das ja davon abhängig ist, das seine Eltern wissen was sie tun…. Was sagst du dazu? Liebe Grüße und vielen Dank für deinen tollen Blog und den inspierenden Newsletter! Sabine
Auf UNS!
Yes!