Hier geht’s zum Audio:
„Liebe Ruth, wir haben so viel Streit zuhause zwischen den Kindern. Wie kann ich eingreifen, dass es gerecht ist?“
„Gar nicht!“
Ich glaube, wir haben da ein Problem mit dem Konstrukt von Gerechtigkeit. Gerechtigkeit funktioniert nicht, indem ich mich hinsetze und dem einen Kind sage: „So jetzt bist du mal dran, jetzt darfst du dich durchsetzen und beim nächsten Streit ist dann deine Schwester dran.“
Was ist Gerechtigkeit?
Gerechtigkeit ist ein sehr alter, historisch gewachsener und politisch stark aufgelader Begriff. Sie war die Grundlage, um sozioökonomische Ungleichgewichte in Gesellschaften auszugleichen.
Im 19. Jahrhundert galt als gerecht, dass alle das Gleiche bekommen unabhängig von dem, was sie vorher schon hatten.
Heute herrscht da eine andere Vorstellung vor. ZB bekommen Sozialleisten nur Menschen, die in einem bestimmten sozioökonomischen Nachteil leben. Das ist das der Versuch, nicht allen das Gleiche, sondern nur denen etwas zu geben, die es mehr brauchen.
Die moderne Sprache hingegen ist im 19. Jahrhundert stecken geblieben und Gerechtigkeit bedeutet, dass alle das Gleiche abbekommen.
Hier ein Symbolbild:
Siehst du, wie wenig hilfreich es ist, wenn alle das Gleiche kriegen? Es macht viel mehr Sinn, individuell und im Sinne der Inklusion zu entscheiden, wer was bekommt.
Was hat das mit friedvoller Elternschaft zu tun?
„Was meinst du damit, wenn du sagst, dass du Gerechtigkeit haben willst zwischen deinen Kindern?“
„Ich möchte, dass alle das Gleiche bekommen.“
Ich glaube nicht, dass alle Kinder einer Familie das Gleiche bekommen sollten.
Gleich viel Liebe, gleich viel Zuneigung, gleich viel Spielzeug, gleich viele Geschenke, gleich viel Zeit mit den Eltern… Ich halte das nicht für hilfreich, im Gegenteil. Es führt dazu, dass sich Kinder um Ressourcen kloppen. Das Kind, das viel mehr braucht, ist ganz aufgebracht, dass es nur so wenig kriegt, das Kind, was gerade eigentlich gar nichts braucht, hat sich daran gewöhnt, immer etwas zu bekommen, ob es das nun braucht oder nicht und die Bedürfnisse fallen komplett hinten runter.
Wo sind eure Bedürfnisse, wenn dein Gerechtigkeitssinn sagt, alles müsse genau gleich sein?
Das ist dann keine Beziehung, sondern ein Verwaltungsakt. Begegnen wir unseren Kindern als Menschen. Das heißt:
- Wer am meisten braucht, bekommt am meisten.
- Wer in größter Not ist, bekommt als erstes.
Es kann auch sein, dass du das als erwachsene, begleitende Person bist. Dann sorgst du erstmal für dich. Denn du bist ein Mensch, kein seelenloser Roboter. Vielleicht hast du scheiße geschlafen, vielleicht hattest du einen blöden Tag und kannst das Geschrei des 27. Streits heute einfach nicht ertragen. Völlig in Ordnung!
Aber Gerechtigkeit ist doch wichtig!
Sitzt du gerade faustschüttelnd da und denkst an deine Kindheit, in der du immer total ungerecht behandelt wurdest? Bist du dir völlig sicher, dass du es mit deinen Kindern besser machen willst und sie deswegen gerecht behandeln willst? Na klar, wenn die Ressourcen (Liebe, Zeit, Geld…) knapp sind und wir die Idee leben, dass es nur gerecht ist, wenn alle das Gleiche bekommen, dann fühlt sich die Person, die gerade nicht genug abbekommt, benachteiligt.
Es gibt viele Eltern, die das direkt einsetzen, weil sie zB ein Kind weniger mögen oder weil die Familienstruktur dysfunktional ist, aber das hat mit Beziehung absolut gar nichts zu tun, sondern eher mit Traumata und psychischen Problemen der Eltern.
Wenn wir aber von Anfang an eine Atmosphäre schaffen, in der klar ist, wir schauen auf die Bedürfnisse, dann wird doch kein Kind da sitzen und sagen „Menno, du hast X fünf Minuten länger vorgelesen als mir. Ich will jetzt auch fünf Minuten mehr haben.“ Und wenn das doch passiert, können wir fragen:
- Was brauchst du?
- Fühlst du dich nicht gesehen?
- Kann ich irgendwie für dich da sein?
Wenn Kinder darum bitten, dass Dinge gleich verteilt werden, geht es nie um die Dinge.
Es geht darum, welche Position sie in der Familie haben, es geht darum, wie sie ihre Bedürfnisse erfüllt bekommen. Und es geht für uns als Eltern darum, zu erspüren, wo sie wirklich stehen. Nein, ich finde, wir sollten mit Absicht ungerecht sein, indem wir unsere Ressourcen ungleich verteilen, nämlich nach dem Prinzip:
Wer braucht, bekommt!
Ich bin sehr gespannt auf die Diskussion in den Kommentaren. Bitte gib mir Bespiele, wo das ungerechte Verteilen von Ressourcen schwierig ist für dich. Lass uns darüber sprechen.
Was ein Beitrag. Ich hab die ersten Sekunden gehört (übrigens sau cool, dass es die als Audios mit echter Menschenstimme gibt!) und saß wirklich innerlich mit Fackel und Mistgabel bewaffnet vor dem PC.
Und dann ist mir klar geworden, dass meine Definition von Gerechtigkeit genau das beinhaltet, was du im Artikel m.E. völlig richtig rausstellst. Gerechtigkeit und Gleichheit sind nicht identisch, um dieses Thema haben mein Mann und ich zu Unizeiten oft heiß diskutiert. Du hast natürlich auch Recht damit, dass Gerechtigkeit in ihrer historischen Genese erst mal genau das war: Alle kriegen das Gleiche, unabhängig der individuellen Situation. Aber über diese Definition sind wir gesellschaftlich hinausgewachsen bzw. wir sind im Begriff das zu tun und es ist nur folgerichtig, wenn das nicht nur für Themen wie Inklusion oder Gleichstellung gilt, sondern auch in den Mikrokosmos Familien Einzug hält.
Oh Susanne, danke fuer deine Gedanken und deine Offenheit!
– Ruth
Danke Ruth, du erklärst das so gut, das schaffe ich jeweils nicht, wenn es um dieses Thema geht.
Obwohl ich schon seit jeher Gerechtigkeit für mich so definiert habe, dass jede/r das bekommt, was sie/er braucht, habe ich eine 13 jährige Tochter, die sich chronisch benachteiligt fühlt. Sie ist in Schule und privatem Umfeld/Familie sehr auf das Thema angesprungen und fordert immer wieder klassische Gerechtigkeit auch innerhalb der Familie. Wir alle schaffen es nicht, sie so zu nähren, dass sie satt sein kann. Sie kann auch ihre Bedürfnisse schlecht verorten und an Stelle ihrer dieser tritt „immer ich“ „ich will auch“ „nie bekomme ich“…
Hallo liebe Ruth, bei uns brauchen immer alle (2EW, 2 Kids), und es ist niemals genug! Nicht genug Aufmerksamkeit, Kraft, Energie, Zeit. – Wem gebe ich denn da zuerst?
LG Teresa
Liebe Teresa,
ich kenne das und es kommt von einem Trauma dazu passt folgendes „ich werde nicht satt (emotional)“ ich habe es im Buch von Dami Charf „Auch alte Wunden können heilen“ gelesen. LG K.
Am schwersten fällt mit das mit Exclusiv-Mama-Zeit. Also kuscheln oder aufmerksames Spielen mit nur einem Kind. Unser Kleinkind scheint das viel.mehr einzufordern als unser Baby. Da habe ich ein schlechtes Gewissen, weil das Baby ja noch weniger Möglichkeiten hat das einzufordern, da es noch nicht sprechen und nicht laufen kann
Liebe Ruth, danke dir für deine Gedankenanstösse. Was ist, wenn ein Kind dauerhaft mehr Aufmerksamkeit braucht und die anderen darunter leiden? Eben, weil sie sich nicht gesehen fühlen? Liebe Grüße Kathrin
Beispiel: ein Kind will auf den Spielplatz weil es unbedingt Schaukeln möchte und ein Kind will in den Wald, weil es ihm auf dem Spielplatz schnell langweilig wird und es sich im Wald kreativer entfalten kann. Beides schafft man aber meist nicht.
Beispiel: ein Kind möchte morgens nach dem Aufwachen was vorgelesen bekommen, eines möchte mit mir Lego spielen. Beides ist mir morgens auf Dauer zu viel und dann wird es spät, bis man mit dem ganzen Morgenprogramm und Grühstück fertig ist.
Beispiel: der eine möchte Fahrrad fahren, um das Ziel zu erreichen, weil es ihm viel Spass macht, der andere möchte lieber Auto fahren, weil Fahrradfahren anstrengend und herausfordernd für ihn ist.
Hallo Ruth, danke für deine Worte. Ich habe durch deinen Beitrag und der voice wirklich vergessen das unsere Gerechtigkeit die wir so wollen oft nur unter Eifersucht entstanden ist die völlig doof ist. Eifersucht macht uns oft was kaputt was wir gar nicht wollen. Danke das du so offen sprichst und dieses auch super erklärst. Deine Stimme ist auch sehr angenehm
Großartiger Impuls, liebe Ruth, der mich sehr zum Nachdenken gebracht hat! Ich gehöre auch (noch) zur Fraktion, die Gerechtigkeit mit Gleichheit verwechselt. Da überdenke ich gerade viele Aspekte – DANKE!
Bei den Punkten Liebe, Zuneigung, Zeit fällt es mir leichter „ungleich“ zu sein bzw da sehe ich schon eher die akuten Bedürfnisse meiner Kinder als dass ich eine Strichliste führe. Wo es mir schwer fällt ist bei materiellen Dingen wie Geschenke, Mitbringsel, Kleinigkeiten zwischendurch. Es muss nicht das genau Gleiche sein (bei einem Altersunterschied von 4 Jahren wäre das mMn total Quatscht), aber wenn das eine Kind etwas bekommt, bekommt auch das andere Kind etwas (mind eine Kleinigkeit). Meine große Tochter achtet da auch sehr darauf. Das loszulassen, finde ich irre schwer. Da spüre ich enormen Widerstand!
Liebe Sabine – aber du musst es ja nicht loslassen. Zu verstehen wo etwas herkommt und nicht zu wissen wie man es anders machen kann ist doch komplett okay.
– Ruth
Liebe Ruth, danke für dein Feedback und deinen Impuls dazu! Das hast du gleich eine „Baustelle“ von mir angesprochen. Erstmal anzunehmen fällt mir irre schwer; ich möchte so gerne das neu-Entdeckte gleich umsetzen. Aber wie du auch an andere Stelle gesagt: der Widerstand macht Sinn – auch er hat mir etwas mitzuteilen. Danke – da darf ich nachspüren <3
Da gehe ich voll und ganz mit.
Du bist die, die das ausspricht, Diving ich absolut überzeugt bin.
Tausend Dank und bitte, Gib nicht auf, das perfekte Vorbild für eine Bedürfnis erfüllte Kindheit zu kämpfen!❤
Ja, also ich finde auch die einschätzung der bedürfnisstärke schwierig. Ist das nicht der klassische fall, dass wer lauter schreit, mehr bekommt? Und andere kinder stecken von sich aus zurück, weil sie weder mama in schwierigkeiten bringen noch kämpfen wollen? Kann man immer sehen, wer wirklich der/die bedürftigere ist?
Liebe Barbara, guter Punkt! Ich finde nicht dass wir Beduerfnisstaerke am Geschrei festmachen sollten. Und ich finde es auch okay,sich da zu irren und vorwaerts zu tasten.
– Ruth
Toller Artikel! Ich suche gerade (seit einem halben Jahr) eine Lösung, weil ich abends beim schlafengehen mit beiden Kindern je eine Exklusivzeit haben möchte – zB. mit jedem 5-10 min kuscheln, je nach Bedürfnis. Zuerst beim Kleinen (5), weil der das dringender braucht momentan. Dann beim Großen (7). Aber leider klettert dann der Kleine immer aufs Bett des Großen und hängt sich an mich dran und/oder quetscht sich absichtlich zwischen den Großen und mich. Ich finde das total ungerecht, vor allem weil der Große seit Monaten sehr traurig darüber ist, dass wir zwei keine Chance haben, für ein paar Minuten zu zweit zu sein. Der Kleine ist nicht zu überzeugen, das zuzulassen, im Sinne der Gerechtigkeit. Wenn ich mir anschaue, was ER braucht: mit Mama jeden Abend so lange kuscheln, bis er eingeschlafen ist. = 1 Stunde neben ihm im Bett liegen. Dazu habe 1. ICH keine Lust und 2. findet sich da der Große total benachteiligt. Eine verzwickte Situation. Habe schon einiges ausprobiert die letzten Monate, bin aber noch auf keinen grünen Zweig gekommen. Gerechtigkeit ist wohl für jeden von uns dreien etwas anderes… bzw. wenn ich den Focus auf die Bedürfnisse des Einzelnen lege, lässt sich das auch nicht umsetzen, so dass es insgesamt fair ist, weil der Kleine wirklich IMMER dazwischenfunkt und lautstark sein Bedürfnis durchsetzt.
Habt ihr ne Große Matratze, wo du dich zwischen beide legen und ihnen zusammen vorlesen/sie bekuscheln kannst? Oder kannst du die Exklusivzeit irgendwie zu einer anderen Tageszeit einbauen, wo der Kleine vielleicht mal 5 Minuten was alleine spielen kann?
Ja, ich finde, wie so oft, konntest du mich überzeugen, zumindest in der Theorie. Die oberen Kommentare zeigen mir wieder, dass es nicht immer so einfach ist, wie es sich anhört, gerade weil wir auch in der Regel anders aufgewachsen sind. Daran können wir wiederum wachsen…
Wie finde ich einen Weg heraus aus dem Gleichmachen hin zu echter Gerechtigkeit? Wenn sich das eine Kind bereits gewöhnt hat, wenn es knappe Ressourcen gibt, wenn das eine Kind lauter schreit… Was kann hier ein erster /zweiter Schritt sein?
Ich habe 3jährige Zwillinge und gefühlt nach diesem Prinzip gelebt. Während einer von beiden sehr offen und gefühlsstark seine Bedürfnisse äußert, ist der andere eher leise und zurückhaltend, was teilweise schon zu einem Ungleichgewicht, was mitunter auch schon bemängelt wurde. Was ich sagen will – ich empfinde es gerade bei leisen Kindern schwieriger, die Bedürfnisse immer so wahr zu nehmen, vor allem wenn laute Kinder dabei sind.
Danke für diesen Text, der hat gleich mehrere Punkte bei mir angesprochen.
Ich habe Zwillinge und einer ist oft etwas grob. Dadurch weint regelmäßig Zwilling 1, der eh schon mehr Nähe benötigt als Zwilling 2. Einerseits denke ich immer ich kümmere mich zu viel um Z1 und zu wenig um Z2, andererseits kann ich dem Moment nicht anders. Andererseits fällt es mir sehr schwer Z2 zu verstehen und ihm beizustehen.
Noch ein Punkt ist das ich ein großes Problem damit habe wenn meine Zwillinge dauernd das gleiche einfordern. Wie du geschrieben hast, es geht nicht um die Dinge, sondern um den Stand in der Familie. Wie soll ich denn da zurecht weisen?
Ich weiß nicht ob sie das mit knapp 4 Jahren schon verstehen