Hier kannst du dir den Artikel anhören:
Es gibt ja so einige Vorurteile gegenüber friedvoller Elternschaft („Die lassen ihre Kinder alle vor fahrende Autos rennen.“, „Die Kinder machen immer nur, was sie wollen.“ etc), die meisten sind eher schräg und leicht zu widerlegen. Aber das folgende Vorurteil ist wirklich schlimm:
Friedvolle Elternschaft ist immer freundlich!
Es wird von vielen Leuten, die auf dem friedvollen Weg sind, (unbewusst) geteilt. Ich hab auch daran geglaubt und danach gehandelt. Wenn du ebenfalls dazu gehörst, kann es sein, dass ich das Vorurteil heute in dein Bewusstsein zerre. Ich bitte dich, trotzdem offen zu bleiben, auch wenn es unangenehm ist.
Glaubst du auch daran?
An folgenden Beispielen kannst du erkennen, ob du auch an das Vorurteil glaubst:
- Du denkst abends: „Mist, heute haben wir aber viel gestritten, ich muss viel freundlicher werden.“
- Du unterdrückst deine Gefühle: deine Genervtheit, deine Traurigkeit, deine Unsicherheit, deine Wut, weil du denkst, du müssest immer ganz, ganz nett sein.
- Du wirst plötzlich richtig wütend, weil du vorher eine Rolle gespielt hast, die nichts mit deinen Gefühlen zu tun hatte, weil du glaubst, dass friedvolle Elternschaft so aussieht.
- Du schämst dich, weil ihr lautstark auf dem Spielplatz diskutiert und du denkst, andere dächten über dich, du seist nicht friedfertig.
- Du glaubst, dass friedvolle Elternschaft bedeutet, es gebe keine Konflikte, keine Schwierigkeiten und du als Elternteil seist immer und ausnahmslos nett.
Warum ist das Blödsinn?
Es ist einfach unmöglich. Keine*r ist immer nett. Menschen haben eine große Brandbreite an Emotionen. Sie können genervt sein, gelangweit, aufgeregt, gestresst, traurig, überfordert, wütend, freudig, lustvoll…
Menschen können ziemlich viel fühlen, auch viele Gefühle relativ schnell nacheinander und sogar gleichzeitig. Das ist einfach eine menschliche Fähigkeit. Wenn du nun von dir erwartest, dass du immer nur etwas bestimmtes fühlst und dich dementsprechnd verhältst, dann erwartest du von dir, kein Mensch mehr zu sein. Das ist keine gute Idee.
- Es ist für einen Menschen nicht erfüllbar, kein Mensch zu sein. Das bedeutet, du enttäuschst dich immer wieder.
- Beziehungen können nur zwischen fühlenden Menschen stattfinden. Es ist gefährlich so zu tun, als hättest du deine Gefühle nicht, weil das direkt deine Beziehungen angreift.
Warum ist das schädlich?
Wenn du deine Gefühle unterdrückst, dich vor Konflikten scheust, dich bewertest, dir sagst, du müssest auf eine bestimmte Art sein, du müssest lächeln, du müssest immer nett Lösungen finden, dann bist du nicht echt, dann zeigst du dich nicht in all deinen Facetten, dann kannst du anderen Menschen nicht wirklich begegnen.
Beziehungen funktionieren nur zwischen Menschen, die sich zeigen und sich trauen, verletzlich zu sein.
Ohne diese Verletzlichkeit ist das Einfallstor für Gewalt übrigens wahnsinnig groß. Ich habe das in meiner Vergangenheit erlebt. Ich hab mich gewundert, warum ich immer wieder ganz plötzlich furchtbar wütend wurde. Und auf meiner Reise, diese Wut zu verstehen, stieß ich darauf, dass ich mich und meine Gefühle vor diesen Wutanfällen unterdrückt hatte zugunsten eines Bildes, von dem ich dachte, so müsse ich als Mutter handeln. Ich dachte, ich müsse lächeln und freundlich den 493. Kompromiss aushandeln, obwohl ich eigentlich gerade total genervt war. Und irgendwann hatte ich dann so wenig auf mich geachtet, mich so wenig ernst genommen, mich so wenig gezeigt und meine Bedürnisse übergangent, dass ich ausgeflippt bin. Die Wutanfälle tauchten also gar nicht plötzlich und aus dem Nichts auf.
Die Idee von perfekter, friedvoller Elternschaft führt paradoxerweise dazu, dass du weniger friedvoll bist.
Und auch dazu, dass du gewaltsame Übergriffte rechtfertigst: Denn du willst ja auch mal dran sein, deine Bedürfnisse erfüllen! Na logo sind deine Bedürfnisse wichtig, aber sie rechtfertigen keine Gewalt! Die Idee kommt aus dem Missverständnis heraus, dass es ein Entweder-oder gäbe. Entweder geht es dir gut oder deinem Kind. Entweder kannst du dein Bedürfnis erfüllen oder dein Kind. Entweder kriegst du deinen Willen oder dein Kind. Und so passiert es dann leicht, dass du dein Kind zu etwas zwingst, einfach weil du es kannst und findest, du müssest jetzt endlich mal für dich sorgen.
Eine echte menschliche Begegnung aber setzt sich dem Risiko aus, dass Personen aufeinander treffen und einen Bedürfniskonflikt haben, ohne zu wissen, was dabei raus kommt, ohne einen Plan zu haben. Diesem Gefühl dürfen wir uns ein stückweit aussetzen ohne Lösungen, ohne Abschluss, ohne Plan. Ich liebe Pläne. Ich mag Dinge organisieren und vorher wissen, was rauskommt. Für mich war das eine der schwersten Übungen überhaupt. Aber nur so geht gleichwürdige Beziehung.
Wenn du die Würde deines Gegenübers ernst nimmst, hast du keinen Output vor Augen, dann hast du keine Vorstellung, wie die Person zu sein hat.
Und das spannende daran ist: Aus dem Loslassen der Idee, dass du für alles eine Lösung parat haben musst, dass du immer tiefenentspannt sein musst, dass mit deinem Kind immer alles super laufen muss, wenn du das loslässt, findest du eher und leichter eine Lösung.
Aus dieser Leichtigkeit heraus, kannst du Lösungen finden, an die du vorher nicht gedacht hast.
Und dein Kind auch. Wenn es sicher weiß, es wird respektiert und du hast nicht vor, es anzugreifen, sondern drückst nur aus, was in dir vorgeht, ist es besser in der Lage, kreative Lösungen zu finden.
Diese Art der Konfliktkultur zu lernen, ist schwer, und es wird unheimlich erschwert, durch die Idee, Konflikte seien nicht friedvoll. Dass „Scheiße, ich weiß gerade nicht weiter!“ schlecht sei und bedeute, du seist ein nicht friedvoller Elternteil. Im Gegenteil! Auszudrücken, wo du stehst, ist wichtig. Du brauchst das nicht deinem Kind an den Kopf knallen, aber du musst das für dich klar haben.
Ich hoffe, dieser Beitrag führt dazu, dass wir mehr darüber reden, wie Friedfertigkeit auch aussehen kann, ohne Bewertung und ohne dass wir ein „So muss es sein!“ vor Augen haben.
Was sind deine Erfahrungen dazu? Was kann friedvoll sein, obwohl es auf den ersten Blick nicht so aussieht? Ich freu mich auf deinen Kommentar.
Liebe Ruth, dein Artikel hat mich heute sooo gut abgeholt, da waren einige Schlüsselsätze für mich in deinen Worten. Danke für diese Inspiration! Ich habe selber erst in den letzten Tagen angefangen zu realisieren, dass ich „friedvoll“ lange Zeit mit „nett“, und „ohne Konflikte auskommend“ gleichgesetzt habe und es sich dadurch nicht friedlicher angefühlt hat. Sondern ebenfalls nach nicht lebendig und Rolle. Puh, und ich merke, wieviel Mut diese Verletzlichkeit braucht. Sich wirklich zu zeigen und einzugestehen, dass da Gefühle sind, die zu haben zwar völlig menschlich ist, die aber lange lange von mir selbst zensiert wurden. (Mir hilft EFT sehr dabei, die Gefühle anzunehmen, die Botschaft und Bedürfnisse hintendran wahrzunehmen und auch das Gefühl wieder loszulassen!).
Herzlichst, Svenja
Also der Artikel kam ja heute genau passend. Lautstarke Diskussionen gibt es hier auch aber oft bin ich unsicher wann laut zu laut ist und ich frage mich wie andere es schaffen die meiste Zeit ruhig und sachlich zu bleiben.
das kann ich dir sagen – gar nicht. Niemand ist immer ruhig und sachlich.
– Ruth
Oh was für ein toller Text, ich danke Dir dafür, Du schreibst mir aus der Seele.
Auch ich kenne diese Wut, die Explosionen, den 500.sten Kompromiss, nichts funktioniert, dabei war ich immer nett und freundlich, habe zugehört, verhandelt und zuckersüß, nett und völlig unklar formuliert, was ich möchte und was nicht….. meine Bedürfnisse irgendwann nicht mehr gespürt, nicht mehr gekannt.
Ich war ständig traurig, wütend, hab mich nicht gesehen gefühlt und wollte es doch so gut, so richtig machen… so viele unausgesprochene, versteckte, widersprüchliche (gewaltvolle) Botschaften gesendet, aber immer höflich, freundlich und nett- mich selbst ständig verraten….
Heute bin ich auf einem sehr guten Weg. Ich lerne meine Bedürfnisse jeden Tag besser kennen, höre sie, spüre sie, kann sie formulieren, so dass meine Kinder sie verstehen- seit dem ich Tag für Tag klarer werde, spüre ich wieder Frieden, Frieden in mir, gemeinsam mit meinen Kindern. So schön! und es wird noch besser, das spüre ich.
Ja! Genau das ist die Gefahr – und dann ist das Kind dafuer verantwortlich dass wir Eltern uns wohl fuehlen. Gut dass du da rausgekommen bist.
– Ruth
Diesen Artikel finde ich wirklich sehr heilsam – er nimmt Druck und bewirkt bei mir gefühlsmäßig authentisch zu bleiben. Das ist ja, was Kinder denke ich auch gleich spüren und damit das Miteinander ehrlicher wird.
Was ich in diesem Zusammenhang noch oft an mir beobachte ist, nicht „bei mir“ bleiben zu können, wenn mir von Aussen Erwartungen oder gar Bewertungen entgegen gebracht werden. Da ist nochmal ordentlich Abgrenzungsübung gefragt….
Liebe Ruth,
Vielen Dank für diesen tollen Text! Er hat mich gerade zum weinen gebracht und den Nagel auf den Kopf getroffen.
Das ist ein großes Thema bei mir und das schon sehr lange, wie mir gerade auffällt und „immer nett“ sein zieht sich durch mein komplettes Leben, durch alle Bereiche. Das sitzt so tief und ich stelle fest, dass ich da immer noch nicht viel weitergekommen bin. Leider.
Danke, dass du mich immer wieder erinnerst, dass es sich lohnt dran zu bleiben und weiterzumachen.
Sei ganz lieb gegrüßt
Kerstin
Hallo Ruth,
ich habe den Beitrag gerade gehört und mir ist gleich ein Beispiel dazu eingefallen.
Thema Homeschooling, Homeoffice, gefühlt ohne wirkliche Anleitung der Lehrer, und alles unter einen Hut kriegen.
Ich bin vor zwei Wochen mitten im Homeschooling total ausgeflippt. Ich habe versucht zu verstehen was genau mein Kind denn jetzt machen soll. Es gab verschiedene E-Mails von Klassenlehrer und Fachlehrer, und eine Plattform wo man was runterladen sollte. Es hat vorne und hinten nicht hingehauen. Ich habe rumgeschrien und dann fast geheult, dass die das nicht mit mir machen können und ,dass ich nicht mehr kann.
Meine Kinder waren ganz betreten, bis ich ihnen erklärt habe, dass es nicht ihre Schuld ist, sondern die Schuld der Lehrer und der Senatsverwaltung Berlin, die von mir verlangen den Job des Lehrers zu übernehmen.
Ob das so richtig ist, steht jetzt gerade nicht zur Diskussion. 😉
Friedfertig scheint es auf den ersten Blick auch nicht.
Ich denke aber, dass meine Kinder gesehen haben, dass man auch mal rauslassen muss, wenn man nicht mehr kann.
Und ich habe nicht meine Kinder angeschrieen oder beschuldigt.
Danach ging es mir besser und wundersamer Weise haben die Kinder ihre Aufgaben ohne weitere Diskussionen gemacht.
Ist das ein passendes Beispiel rot?
Oder habe ich was falsch verstanden.
LG
Franzi
Hach – es wäre so schön wenns so wäre. Ich bin manchmal unglaublich sauer und brause dann auch auf. Mein Problem damit ist bei der Wut – ich werde manchmal wütend auf meine Kinder, auf die Umstände, auf mich… ist es aber nicht so, dass Wut nur einfach ein Mittel ist den andern zu beherrschen? Ihn dazu zu bewegen DAS zu tun, was ICH will?
Die Frage ist wohl: Kann Wut je friedvoll sein?
Aber vielleicht ist es, wie bei dir, dass ich einfach vorher zu wenig auf mich geachtet habe so lange ich noch total genervt war. Aber was ist dann friedvoll, wenn ich total genervt bin?