Friedvolle Elternschaft als Konzept ist nun etwa 10 Jahre alt. So lange ist es her, dass ich beschlossen habe meinen damaligen Blog “unerzogen leben” umzubenennen und den Begriff unerzogen nicht mehr zu nutzen.

Seit 10 Jahren reden wir über Friedvolle Elternschaft. Und so langsam können wir uns berechtigterweise fragen – funktioniert das?

Diese Frage stellen sich einige Eltern nun schon einige Zeit. “Funktioniert bedürfnisorientierte Erziehung?” ist eine super häufige Google-Anfrage geworden. Es gibt erste Bücher, die die Abkehr von neuer Pädagogik verkünden und viel Applaus bekommen. Die Angst vor dem Tyrannen geht wieder um.

Weil: Es funktioniert nicht. Das ist korrekt.

Ich finde allerdings viel interessanter warum wir so darauf versessen sind, dass es funktionieren soll.

Bedürfnisorientierte Elternschaft ist demokratisch, nicht funktional

Man stelle sich folgendes Szenario vor: Du bist bei Freund*innen eingeladen, einem heterosexuellen Pärchen. Du kommst an, die Mama bringt gerade noch die Kinder ins Bett. Der Papa bietet dir einen Wein an und ihr kommt ins Gespräch. Nach einer Weile fragst du, wo denn die Mama der Kids bleibt und er sagt “ach, weisst du, wir haben das versucht mit der gleichberechtigten Elternschaft und dass ich die Kinder ins Bett bringe, aber das war total anstrengend für mich. Es funktioniert einfach nicht für uns, also macht das meine Frau wieder allein”

Das wäre weird, oder?

Denn DASS es erschütternd und schwierig ist, moderne demokratische Elternschaft zu leben in einem Patriarchat, ist glaube ich allen klar. Dass es für Männer schwer ist, ist wissenschaftlich und gesellschaftlich gut beschrieben.

Nur in dem Moment, indem wir sagen ” das funktioniert nicht”, dann ging es ja nie um demokratische Werte. Für Menschenrechte KANN Funktionalität kein Gewicht haben. Die Kämpfe der Frauenrechtsbewegungen weltweit zum Beispiel haben nie gefragt ob das was sie fordern angenehm ist für andere – denn natürlich kann es das nicht sein. Systeme ändern sich nicht, indem man ihnen Menschenrechte schmackhaft macht, sie ändern sich, indem es unangenehm wird.

Friedvolle und bedürfnisorientierte Elternschaft ist ein Wert. Keine Funktion. Sie ist nicht da, um dein Leben einfacher zu machen sondern gerechter und sinnerfüllter. Beziehungen nach vorne zu stellen in einer Welt, die nur fragt ob das Kind denn fein brav ist, ist komplett gegen den Strich deiner Sozialisation. Und damit ist es sozialer Aktivismus.

Deswegen kann die Frage ob es funktioniert, nicht den Raum bekommen, den sie gerade hat.

Aber was ist mit Erschöpfung?

Nun sagst du vielleicht, alles klar, aber was mach ich denn nun mit der Erschöpfung? Was ist mit MEINEM Wohlbefinden und meiner Freiheit?

Und jetzt müssen wir etwas machen, was ein bisschen aus der Mode gekommen ist in einer nuancenfreien Welt: Gleichzeitigkeit aushalten.

Denn dass wir erschöpft sind als Eltern ist eine Realität. Die Rate an psychischen Erkrankungen in den ersten 5 Jahren der Elternschaft ist astronomisch hoch. Die Erschöpfung ist real. Es werden Bestseller darüber geschrieben, warum bedürfnisorientierte Elternschaft nicht mehr passt für Menschen, weil es sie verunsichert. Weil sie so erschöpft sind.

Die Kritik, die mittlerweile von vielen Seiten kommt, ist meines Erachtens an dieser Stelle korrekt. Es ist GLEICHZEITIG wichtig, zu verstehen dass bedürfnisorientierte Elternschaft das Neueste der Wissenschaft und ethisch richtig ist UND dass sie Eltern erschöpfen kann. UND dass es nicht immer möglich ist, zu tun, was vielleicht richtig für das Kind ist. Weil das Umfeld es nicht zulässt, weil die Ressourcen es nicht hergeben. Weil du da noch nicht bist.

Aufmerksamkeit, Gleichzeitigkeit und Stress

Und ehrlich gesagt sind wir hier eher beim Thema: Ich glaube, das auszuhalten ist besonders schwierig. Dass ich Dinge entscheide, die meinem Kind weh tun oder gegen meine Werte verstossen, ist Teil von Elternschaft, egal wie autoritär oder anti-autoritär. Es wird immer Momente geben, in denen ich gewaltvoll handele. Die Schwierigkeit von bedürfnisorientierter (nicht-)Erziehung ist, dass wir das anerkennen als die Verletzung die es ist. Und das macht uns Stress.

Der Stress davon, dass wir etwas tun was wir nicht rechtfertigen als nötig oder “Kinder brauchen aber auch mal Grenzen” ist eine sogenannte kognitive Dissonanz. Und was ich vorschlage, ist, dass wir aufhören sie als Zeichen unseres Versagens zu interpretieren und anfangen als ein Zeichen zu sehen, dass wir menschlich sind und unsere Kinder eben auch. Erst, wenn ich meinem Kind als Menschen Gewicht gebe in einer Entscheidung, komme ich in das Dilemma.

Natürlich ist die Versuchung gross, bedürfnisorientierte Elternschaft für dieses Dilemma anzukreiden. Aber ich glaube, der Anspruch an Menschlichkeit in unmenschlichen Ansprüchen kann niemals das Problem sein. Das Problem sind und bleiben die unmenschlichen Ansprüche. Wenn bedürfnisorientierte Elternschaft nur ein weiterer ist auf der Liste, zwischen allein Erwerb erwirtschaften und Wäsche machen, ja, dann ist das einfach eine Belastung ohne Sinn. Aber wenn es die Art ist WIE ich diesen Spagat leben will dann müssen wir uns den Anspruch erhalten, weil er uns der Kompass in einer Zeit ist, die verwirrend, einsam machend und herausfordernd sein kann.

Also ja. Friedvolle Elternschaft funktioniert – wenn es um die Befreiung von Ansprüchen geht. Die Haltung der unperfekten Lösungen, die Kreativität und die radikale Abkehr von Erziehung sind konstant, das was seit vielen Jahren die Menschen in unserer Begleitung als unendliche Befreiung erleben. Auch für sich. Aber wenn du willst, dass es dazu führt, dass dein Kind besser hört und braver wird, dann solltest du mehr Gewalt anwenden. Denn eines muss man ihr lassen: Sie ist effektiv.