„Du bist aber geduldig mit deinem Kind. Das könnte ich ja nicht!“

Als meine Kinder noch klein waren und ich mühselig versuchte, friedvoll mit ihnen zu agieren, begegneten uns immer wieder Menschen an den guten Tagen, fanden mich uuunglaublich geduldig und waren der Überzeugung, dass sie das so niiiiiemals schaffen könnten.

Was mich an solchen Aussagen nervt und warum sie mich trotzdem hoffnungsvoll stimmen – genau darum geht es in diesem Artikel.

 

Mir wurden auf Instagram super interessante Fragen gestellt, die mich zu diesem Artikel inspiriert haben.

  • Was ist Geduld?
  • Wieso nervt es mich so, wenn Leute meinen, ich hätte mehr Geduld als sie?
  • Wie entsteht Geduld?
  • Ist Geduld wichtig für friedvolle Elternschaft?
  • Kann ich als Elternteil lernen, geduldig mit meinem Kind zu sein?

Vorweg:
Ich weiß nicht, ob ich auf alles eine Antwort habe. Aber fangen wir mal an:

Was ist Geduld?

Bestimmte Dinge, die für mich triggernd oder anstrengend sind, sind für andere Menschen total ok, also brauchen sie keine Geduld. Aufgrund ihrer Erziehung, ihrer Erlebnisse, ihrer Geschichte ist diese Situation für sie kein Problem und der friedvolle Umgang keine Anstrengung. Das ist dann keine Geduld, sondern das Privileg, bestimmten Formen von Gewalt nicht ausgesetzt gewesen zu sein oder Zugang zu therapeutischer Hilfe gehabt zu haben, um das aufarbeiten zu können. Oder das Glück gehabt zu haben, im Umfeld Faktoren gehabt zu haben, die einen aufgefangen haben.

Geduld ist die bewusste Anstrengung, die bewusste Entscheidung, Zeit vergehen zu lassen, bevor ich reagiere.

Das ist meine Definition von Geduld. Ich bin bereit, ein wenig Zeit verstreichen zu lassen, bevor ich reagiere. Ich bin bereit, Zeit als wichtigen Faktor anzuerkennen in der Beziehung in diesem Moment. Also ist Geduld eine Entscheidung. Ich weiß nicht, ob du da mit mir übereinstimmst und ich freue mich total, wenn du Lust hast, das in den Kommentaren mit mir zu diskutieren.

Geduld ist von außen unsichtbar

Geduld ist von außen nicht sichtbar. Als Außenstehende*r sehe ich nicht, ob das elterliche Verhalten, das ich beobachte Geduld erfordert oder nicht. Strengt sich diese Mama gerade total an, ruhig zu bleiben und abzuwarten, bis sie ihrem Kind eine Reaktion zeigt? Oder geht ihr das total leicht von der Hand? Zählt der Papa innerlich bis 10, um sich zu beruhigen und seinem Kind dann die 27. Lösung zu vorzuschlagen, anstatt mit Gewalt vorzugehen? Oder sind seine Eltern schon ähnlich mit ihm umgegangen und er hat dieses Verhalten total verinnerlicht?

Wir wissen von außen einfach nicht, wann gewaltfreie Optionen Geduld und Kraft erfordern.

Für eine Person ist das beim Thema Essen, für eine andere beim Thema Anziehen, eine dritte hat mit beidem kein Problem und zusätzlich noch die Ressourcen, morgens zu spät zum Kindergarten zu kommen und braucht deswegen keine Geduld investieren. Aber sei dir sicher, Person 3 hat andere Baustellen, die sie stressen, an denen ihre Geduld strapaziert wird und die vielleicht für andere Eltern total einfach sind.

Geduld ist ein bisschen wie Toleranz. Es ist ein nettes Wort, ein nettes Konzept, aber nichts wert, solange sie nicht herausgefordert wird. Und was unsere Geduld und unsere Tolenranz erfordert, ist individuell. Was für uns herausfordernd ist und was eine wirkliche Entscheidung in unsere Werte hinein braucht, ist individuell. Tante Hilde beim Familienfest kann nicht wissen, was für mich schwierig ist.

Aussagen anderer über meine Geduld mit Kindern

„Ich habe gar nicht mehr Geduld als andere. Es tönt, als ob das ein Geschenk wäre. Dabei ist es so viel Arbeit an mir selbst.“ (Nachricht über Instagram)

Geduld als Charaktereigenschaft

Ich verstehe, was daran nervt. Denn die Idee dahinter ist, dass eins entweder mit dieser Geduld geboren ist oder eben nicht. Geduld als Charaktereigenschaft. Du bist halt ein relativ ruhiger Mensch, den nichts so leicht aus der Fassung bringt, geduldig sein ist deine Werkseinstellung. Und ich kann nicht geduldig sein, weil ich eben temperamentvoller bin.

Komplimente über Geduld mit Kindern

„Woooow! Wie geduldig du bist!! Das würde ich mit meinen Kindern ja nie schaffen.“

Wie wäre es, wenn wir versuchen, derartige Aussagen als Kompliment aufzufassen? Übersetzt als: Ich sehe, dass du dich bemühst, ich sehe, dass du harte Arbeit leistest, Geduld fällt schließlich nicht vom Himmel.

Ich verstehe, dass es sich nicht unbedingt so anfühlt. Es erinnert ein bisschen an Situationen, in denen Fleischessende Vegetarier*innen gegenüber ihren Fleischkonsum rechtfertigen. Da geht es nicht darum, ob ich geduldig bin, sondern wie sich die anderen Menschen mit meiner Geduld fühlen und warum sie mit ihren Kindern anders umgehen.

Trotzdem können wir versuchen, das Freundlichste, was wir über solche Aussage denken können, zu extrahieren, nämlich: Die Person beobachtet genau, stellt fest, dass du versuchst, es anders zu machen, und geht darauf ein.

Umgang mit Aussagen über Geduld mit Kindern

Und unter uns gesagt, braucht oft der Umgang mit anderen Menschen, vor allem wenn ich schon ein bisschen geübt bin im friedvollen Umgang mit meinem Kind, mehr Geduld als der Umgang mit dem eigenen Kind.

Mit diesem Hintergrund lässt sich auch die Frage beantworten: Nein, ich brauche überhaupt keine Geduld in diesem Fall. Aber die Auseinandersetzung mit dir gerade kostet mich viel Kraft und sehr viel Geduld.

Je nachdem in welcher Beziehung wir sind, was für ein Moment es ist, je nachdem auch, wie ich die Aussage einschätze – als Kompliment, als Ausrede, als Zeigen des eigenen Schmerzes – kann ich darauf eingehen. Ich bin ein Fan davon, in den Austausch zu gehen! Ich finde es super, andere Menschen, die den Umgang mit unseren Kindern kommentieren, einzuladen, ein Gespräch zu führen. Ich würde jetzt nicht unbedingt ein riesiges, theoretisches Fass aufmachen – naja, ich bin die Richtige, das zu sagen, ich mach gerne theoretische Fässer auf. Hier habe ich ein paar Aussagen für dich gesammelt, die ich als passende Antwort empfinde, je nachdem, was für dich in dem Moment wahr ist.

  • Ich hab das lange geübt.
  • Danke, dass du das siehst!
  • Das ist nicht vom Himmel gefallen.
  • Ich bin gar nicht geduldig, mich stört das Verhalten meines Kindes einfach nicht.
  • Dieses Verhalten wurde bei mir als Kind schlimm bestraft und es total schwierig für mich, jetzt anders damit umzugehen.

Durch Geduld mit Kindern den öffentlichen Diskurs verändern

So sehr mich Aussagen über meine Geduld manchmal nerven, sie stimmen mich auch hoffnungsvoll. Wenn Menschen meine Geduld bemerken – auch wenn die Aussage über sie selbst ist, dass sie nicht so geduldig sein können -, dann haben wir etwas verändert in der Welt. Wir haben etwas gezeigt, wir haben ein Bild hingestellt, wie der Umgang mit Kindern auch aussehen kann.

Und auch wenn Menschen das ablehnen oder komisch finden oder für sich selber Ausreden finden, warum das für sie nicht möglich ist – was völlig in Ordnung ist und meines Erachtens nicht von uns bewertet oder beurteilt werden sollte -, haben wir ihnen dennoch gezeigt, dass es einen anderen Umgang gibt, er eine Möglichkeit ist.

Die Geduld mit unseren Kindern zeigt auf, dass ein friedvoller Umgang möglich ist.

Für mich persönlich waren Eltern, die etwas anders gemacht haben, immer sehr inspirierend. Vielleicht hab ich in dem Moment gedacht: Himmel, was für ein Quatsch! Aber wenn ich später in eine ähnliche Situation gekommen bin, hatte ich ihre Handlung im Kopf, wusste ich, das gibt es auch.

Genau so können wir öffentliche Diskurse verändern. Also ja, mich stimmt diese Rückmeldung hoffnungsvoll.

Also, liebe Fragestellerin, ich bin total bei dir: Geduld ist im Grunde das, was wir bei den Weggefährt*innen ganz viel üben, worüber wir ganz viel sprechen im Rahmen friedvoller Elternschaft, nämlich Abstand zu bekommen zwischen Reiz und Reaktion, den Raum zu erweitern für Lösungen, Zeit ihre Rolle spielen zu lassen in unseren Reaktionen und ja, das ist sehr viel Arbeit.

Schreib gerne in die Kommentare, was dir durch den Kopf geht. Welche Aussagen hast du schon gehört über deine Geduld mit deinen Kindern?