Es ist zum geflügelten Ausdruck geworden, wenn wir sagen:

Wir wollen Kindern auf Augenhöhe begegnen.

Was soll das sein? Was soll das heißen?

Ich finde, mit diesem Bild „uns auf Augenhöhe begegnen“ können wir das ungeheure Machtungleichgewicht zwischen Eltern und Kindern sehr schön zeigen.

 

 

Es ist unsere Aufgabe, für einen Machtausgleich zu sorgen, wenn wir friedvoll und auf Augenhöhe mit unseren Kindern leben wollen.

Lass uns mal einen Schritt zurück gehen. Warum müssen wir überhaupt auf Augenhöhe gehen? Und wie geht das? Normalerweise braucht es, das sich die Person, die höher ist, als die andere, runter beugt oder die kleinere Person nach oben befördert wird. Das ist ein super Bild für das, was wir versuchen, wenn wir friedvoll mit anderen leben wollen, vor allem mit jungen Menschen.

Macht – Was ist das?

Hier nur ein ganz kurzer Exkurs – die Weggefährt*innen haben das viel ausführlicher in ihrem Mitgliedsbereich.

Macht ist in unserer Betrachtung nichts falsches, es ist nichts schlechtes, nichts, was eins loswerden muss oder bloß nicht anwenden darf. Macht ist die Beschreibung eines Gefälles in der Handlungsfreiheit, in den Möglichkeiten, im Wissen und  in der Ansammlung von Ressourcen zwischen Menschen. Und Macht ist etwas interindividuelles. Es ist also nicht so, dass sich eine Person Macht einfach nimmt, sondern Macht wird von anderen auch zugesprochen. Ganz grob und oberflächlich.

Die Eltern-Kind-Beziehung ist von extremer Macht gekennzeichnet.

Macht ist besonders präsent zwischen Eltern und Kindern, weil Eltern eine Macht über Kinder haben, die absolut allumfassend ist. Wie diese Kinder sich selber sehen, wie physisch und psychisch gesund oder nicht gesund sie sind, wo sie leben, wie sie leben, was sie essen, ihr grundsätzliches Überleben, einfach alles hängt von ihren Eltern ab. Die Abhängigkeit ist so extrem, dass es meines Erachtens in zwischenmenschlichen Beziehungen kein Äquivalent dafür gibt. Wir haben es mit extremer Ansammlung von Macht zu tun.

Augenhöhe – Wie kommen wir dahin?

Auf Augenhöhe gehen bedeutet nicht, dass ich mich einfach nur runterbeuge, das ist nicht wortwörtlich gemeint. Es heißt vielmehr, dass ich bereit bin, von meiner Macht etwas abzugeben, meine Macht nicht zu gebrauchen, außer ich habe einen guten Grund. Und es heißt auch, dass ich der anderen Person aktiv Macht zuspreche.

Auf Augenhöhe agieren bedeutet, Macht abzugeben.

Wie kann das aussehen?

Augenhöhe durch Weitergabe von Wissen

Es heißt immer so schön, Wissen ist Macht. Das ist soziologisch nicht ganz korrekt, denn Wissen ist eine Machtquelle. Das wissen Kinder auch und deswegen fragen sie uns die ganze Zeit warum, warum, warum. Sie wissen, wir haben die Autorität, wir wissen mehr als sie, wir haben mehr Erfahrungen gesammelt, also bitten sie uns, von unserer Erfahrung zu teilen.

Wir alle kennen das Gefühl von Macht- und Hilflosigkeit, wenn wir eine Entscheidung treffen  müssen und nicht alle Einzelheiten verstehen. Deswegen ist zB die Informierte Einwilligung (Informed Consent) in der Medizin so wichtig, weil es eine moralische Pflicht ist, für einen möglichst starken Machtausgleich zu sorgen, damit die Person, die zu etwas einwilligt, bestmöglich darüber informiert ist, was mit ihr passieren wird.

Dadurch, dass wir unseren Kindern Wissen geben, sorgen wir für einen Machtausgleich und dafür, dass sie bessere Entscheidungen treffen können.

Ich kann zB – jetzt gehen wir ganz zurück in den Alltag – Informationen über die Situation geben, die mein Kind vielleicht auf Grund seines Alters, seiner Gehirnreife und seiner Erfahrung nicht hat. Ich kann sagen: „Ich weiß, es sieht draußen sonnig und schön aus und hier drinnen ist es total warm, aber es ist Januar. Meine Erfahrung ist, dass du draußen frieren wirst. Ich glaube, es ist keine gute Idee, in Unterwäsche raus zu gehen. Aber natürlich kannst du das ausprobieren.“ Ich als Bezugsperson bin natürlich da und gebe dem Kind bei Bedarf Klamotten, es ist schließlich mein Job, dafür zu sorgen, dass mein Kind gesund bleiben kann.

Die Verantwortung bleibt immer bei mir!

Aber dieser Informationsaustausch ist wichtig, damit das Kind überhaupt die Möglichkeit hat, eine Entscheidung zu treffen. Es ist unsere Verantwortung, dass das Kind im Januar Klamotten anziehen kann, die kindliche Gesundheit fällt nämlich in unseren Verantwortungsbereich.

Wir vergessen oft, Informationen zu geben, die wichtig sind für den relativ neuen Menschen.

Gerade was soziale Situationen angeht. Gerade wenn wir schimpfen.

Beispiel: „Dieses Restaurant ist besonders fancy und hier wird Schmatzen beim Essen nicht als gut angesehen.“ statt „Jetzt hör doch endlich auf zu schmatzen, das ist peinlich!!“

Leben auf Augenhöhe bedeutet, bereit zu sein, meine Wissensmacht zu teilen und mich dafür einzusetzen, dass eine andere Person, die strukturell benachteiligt wird in dieser Gesellschaft, mehr Möglichkeiten hat.

Augenhöhe durch Abgabe ökonomischer Macht

Meines Erachtens und ich weiß, jetzt gibt es die bösen Zuschriften – haben Kinder ein Recht darauf, dass wir ökonomische Macht mit ihnen teilen. Nein, ich sage nicht, das Einjährige soll darüber entscheiden, ob die Miete gezahlt wird oder nicht. Es ist immer unsere Verantwortung, genau wie bei den Klamotten. Aber natürlich hat ein Kind das Recht, auf das Teilen der ökonomischen Macht, es hat ein Recht darauf, mitzuentscheiden, was mit dem Familiengeld passiert.

Du findest, es ist dein Geld, schließlich bist du dafür auch arbeiten gegangen? Komm schon! Es ist auch meine Brust und nicht die des Kindes und trotzdem muss das Baby aus meiner Brust trinken, sonst ist es tot. Oder ich muss von meinem Geld Pulvermilch kaufen, um es zu ernähren. Und wenn ich nicht durch Geld für ein Dach über dem Kopf sorge, Nahrung, Kleidung und einen Schlafplatz zur Verfügung stelle, also für das Kind bezahle, dann ist es auch tot. Mein Kind nutzt alle meine Ressourcen. Die gehören ihr*m, weil es hilflos und ausgeliefert ist.

Die Abgabe ökonomischer Macht hört nicht beim blanken Überleben auf.

Genau wie wir uns im Supermarkt mal einen Cappuccino für 3€ reinpfeifen, hat das Kind ein Recht darauf sich Sachen zu kaufen. Auch wenn wir die vielleicht uncool finden und den Kauf für unnütz halten. Das heißt natürlich nicht, dass ich das gut finden muss, mich nicht streiten darf oder keine Haltung zeigen darf. Aber wenn ich Augenhöhe wirklich ernst meine und wirklich einen Machtausgleich anstrebe, dann muss ich aktiv auf meine Macht verzichten. Dann muss ich aktiv Macht abgeben.

Augenhöhe durch Verzicht auf Ausübung psychischer Macht

Der aktive Verzicht darauf, zu glauben, dass eine Person, nur weil sie*r jung ist, weniger Wert hat, das aktive Verzichten auf adultistisches Verhalten, ist meines Erachtens eine weitere Art, auf Augenhöhe zu leben. Nicht auslachen, wenn die Person etwas niedliches gesagt hat, weil sie noch nicht so gut sprechen kann. Nicht über die ach so hormongeladenen Jugendlichen witzeln, die sich ja total bescheuert verhalten, nicht sachlich denken können und so lustig sind, diese Hormonbomben.

Wenn ich nicht will, dass andere mit mir oder über mich so sprechen – ganz goldene Regel – dann sollte ich das auch nicht tun, nur weil eine Person jung ist.

Augenhöhe durch Angleichung der physischen Macht

Da gibt es ganz viele Beispiele wie wir im Alltag zB unsere Wohnung einrichten können, damit ein junger Mensch an unserem Leben teilhaben kann, damit ein junger Mensch mitkochen kann, damit ein junger Mensch dabei sein kann, an die Dinge herankommt, die si*er braucht, und sich möglichst frei bewegen kann. Wer da Bock auf mehr Infos hat: Montessorie und Ja-Umgebung sind Begriffe, nach denen ihr suchen könnt. Da gibt es wirklich gute Arbeiten.

Bist du wirklich bereit, auf Augenhöhe mit deinem Kind zu agieren, auf deine Macht zu verzichten und sie aktiv einer jungen Person zu übergeben.

Nochmal ganz klar: Dem Kind die Macht zu übergeben, bedeutet nicht, das es auch die Verantwortung hat. Und auch nicht, dass wir so tun, als wären wir gleichberechtigt, das sind wir einfach nicht.

Das bestehende Machtgefälle zwischen Eltern und Kind bedeutet, dass wir Erwachsenen am Ende immer die Verantwortung haben. Wir können Macht bewusst abgeben, einfach weil sie weniger wichtig ist, als das moralische Recht des Kindes, seine Gesundheit, seine Selbstwirksamkeit und als das Vertrauen in unserer Beziehung.

Meine Frage an dich für diese Woche:

An welcher Stelle kannst du mehr auf Augenhöhe – im übertragenen und vielleicht auch im realen Sinne – mit deinem Kind leben?

Schreib deine Antworten sehr gerne in die Kommentare.