„Bedeutet eigentlich bedürfnisorientiert oder unerzogen miteinander zu leben, dass es keinerlei Struktur, keinen Rahmen mehr gibt und alle immer machen, was sie wollen?“

Diese Frage höre und lese ich immer wieder. Manchmal direkt, manchmal indirekt, machmal auch als Vorwurf à la „Die Kinder haben ja überhaupt keine Struktur!!“. Mich hat das anfangs verwirrt, weil für mich Struktur von Natur aus sehr, sehr bedürfnisorientiert ist und mir unheimlich gut tut und ich gar nicht verstanden habe, wie Leute auf die Idee kommen, es gäbe in unerzogen lebenden Familien keine.

Was mir sonst noch zu dem Thema eingefallen ist, könnt ihr hier hören und lesen.

 

Es gibt die Vorstellung, Kinder bräuchten Struktur, einen liebevollen, aber festen Rahmen, sie bräuchten Vorhersehbarkeit und sie müssten lernen sich zeitlich anzupassen, um gut zu gedeihen. Deswegen seien mindestens feste Essens- und Schlafenszeiten unabdingbar.

Wenn wir auf Erziehung, auf erzieherisches Denken verzichten wollen und uns stattdessen an Bedürfnissen orientieren, fangen wir an, diese Vorstellungen zu hinterfragen.

Es ist nicht bedürfnisorientiert, dich oder dein Kind in ein zeitliches Korsett zu zwängen.

Familien bemerken dann, dass derartige Vorgaben nicht beziehungsdienlich sind und es adultistisch ist, dem Kind zeitliche Vorgaben aufzuzwingen. Was dann manchmal passiert – das sehen wir bei den Weggefährt*innen hin und wieder – die Erwachsenen schmeißen jegliche Struktur von heute auf morgen um und die Familie stürzt ins Chaos, nichts funktioniert mehr und alle drehen durch.

Das kennen wir übrigens auch von Süßigkeiten, Bildschirmmedien und Schlafenszeiten – den alten Klassikern. Die Eltern möchten etwas verändern, es anders machen, weil sie anfangen, beziehungsdienlich und friedvoll zu denken, sind aber zu schnell in ihrem Prozess. Sie geben alles frei, kriegen dann aber Panik, können die gegebene Freiheit nicht aushalten und rudern zurück. Nicht dramatisch übrigens. Kann passieren.

Wie kann Struktur bedürfnisorientiert sein?

Struktur wird oft mit Erziehung gleich gesetzt. Wahrscheinlich hat das damit zu tun – wie bei vielen anderen Dingen auch -, dass wir uns nicht vorstellen können, dass es nicht-erziehende Strukturen geben kann, dass es möglich ist, einen Alltag zu leben, der nicht erziehend und trotzdem strukturiert ist, einen Rahmen hat.

Strukturen sind ein bisschen wie persönliche Grenzen. Bei beiden Themen habe ich oft den Eindruck, uns fehlen schlicht Vorbilder und Ideen, wie wir etwas klar feststecken können, ohne übergriffig zu werden, ohne die Meinungen und Bedürfnisse anderer zu ignorieren.

Uns fehlen die Vorbilder für einen bedürfnisorientierten Alltag.

In meiner Kindheit hat meine Mutter immer eine Mittagspause gemacht, die hat sie absolut konsequent jeden Tag durchgezogen. Und ich kann mich erinnern, dass ich darunter gelitten habe, weil ich sie manchmal brauchte oder weil ich an dem Tag unglücklich war. Heute zwingt mich die Mittagshitze im südeuropäischen Sommer in die Knie und ich habe gemerkt, dass ich auch solche Pausen brauche. Ich hatte aber nur im Kopf, wie meine Mutter ihre Pausen damals mit Zähnen und Klauen verteidigt und wirklich jeden Tag gemacht hat, unabhängig davon, ob das gerade für alle Beteiligten ok war. Als einzige Alternative fiel mir ein, dann eben keine Mittagspause zu machen, mich überhaupt nicht hinzulegen und über meine Bedürfnisse drüber zu latschen.

Wie bei so vielen Dingen auf meiner Reise in ein bedürfnisorientiertes Familienleben durfte ich lernen, meinen Raum zu finden.

Es geht nicht darum, einen Alltag ohne jegliche Struktur zu leben und jede Situation immer wieder neu zu durchdenken und zu diskutieren. Entscheidender ist, was passiert, wenn ein Familienmitglied mit der derzeitigen Struktur, dem Rahmen an einem Tag oder auch generell nicht zufrieden ist.

Was bedeutet Struktur für dich?

Bedeutet das, dass du dich nach der Uhr strukturierst? Oder nach Bedürfnissen?

In meinem Zuhause ist es so, dass wir uns um die Mahlzeiten herum strukturieren, die sind nicht zeitlich festgelegt, aber sie finden statt. Und wenn sie stattfinden, gibt es meistens zuvor eine Vorbereitungsphase und hinterher oft eine Phase, in der ich Pause mache. Gerade wenn ich gekocht habe. Wer mich schon länger kennt, weiß, ich mag kochen nicht, das kostet mich sehr, sehr viel Kraft. Wenn ich koche, brauche ich hinterher eine Pause.

Es kann auch andere Strukturen geben: Jeden Abend, während mein Kind die Zähne putzt, räume ich eine bestimmte Fläche frei, weil mir das so gut tut und mich erfreut, wenn ich am nächsten Morgen auf diese Fläche schaue. Oder jeden Morgen, wenn ich meine Meditation gemacht habe oder verschlafen in die Küche gestolpert bin, räume ich den Geschirrspüler ein.

Ich mag Strukturen, sie tun mir gut und geben mir total viel. Das entspricht auch meinem Gehirntyp. Ich musste ganz viel ausprobieren und schauen, wie ich für mich Strukturen haben kann in unserem Alltag, ohne die anderen damit zu behelligen. Kein Mensch muss eine Mittagspause machen oder ordentlich sein, weil ich zwischendurch Ruhe brauche und mir Ordnung gut tut.

Struktur an für sich kann sich wunderbar an Bedürfnissen orientieren.

Viele, viele Dinge im Alltag können dadurch vereinfacht werden, dass wir sie schlicht jeden Tag machen und sie so zur Gewohnheit werden. Dinge aus Gewohnheit heraus zu machen ist viel einfacher, als sie jeden Tag wieder neu zu verhandeln. Wenn wir jeden Tag zu einer bestimmten Zeit die Zähne putzen, etwas essen oder schlafen gehen und es allen damit gut geht, ist da überhaupt nichts gegen einzuwenden.

Wie lassen sich bedürfnisorientierte Strukturen finden?

Es gibt nicht die bedürfnisorientierte Struktur, deswegen kann ich dir nicht sagen, was für deine Familie passt, das kann ich noch nicht einmal allgemein für meine Familie sagen, Bedürfnisse verändern sich ja. Aber ich kann dir Fragen an die Hand geben, die dir dabei helfen können, den Alltag bedürfnisorientiert zu gestalten:

1. Welches Bedürfnis steckt hinter deinem Wunsch nach Struktur?

An der Struktur ist nichts falsch. Wenn du aber an dem Punkt stehst, wo du sagst: „Das fühlt sich für mich nicht besonders bedürfnisorientiert an, ich glaube, ich latsch da über die Grenzen anderer Leute.“, dann frag dich: „Warum mache ich das?“ Wenn die Antwort ist: „Weil man das so macht.“ oder: „Damit das Kind endlich mal … lernt!“, dann haben wir es vermutlich mit Erziehung zu tun und folgende Fragen dürften interessant für dich sein.

Was genau brauchst du, wenn du dir Struktur wünschst? Worum geht es dir? Was tut dir gut? Welches Bedürfnis erfüllt dir diese Struktur? Kann es sein, dass es dir Sicherheit gibt, wenn die Dinge jeden Tag gleich ablaufen? Erfüllst du dir dadurch dein Bedürfnis nach Ordnung und Planbarkeit? Und überleg mal, kannst du dir diese Dinge vielleicht auch auf anderem Wege erfüllen, als jeden Tag genau zum gleichen Zeitpunkt die gleichen Dinge zu tun und das ggf auch von anderen zu verlangen? Wie kannst du deine Bedürfnisse erfüllen, ohne dass andere Familienmitglieder darunter leiden?

2. Wem dient die Struktur?

Willst du diesen Rahmen haben? Denkst du, dein Kind benötigt Struktur? Ist es dein Haustier, das einen gewissen Rahmen vorgibt?

Ich glaube, wenn wir sagen, Kinder brauchen Struktur, meinen wir oft, für uns Eltern ist es so leichter, praktischer, angenehmer. Da braucht es mehr Ehrlichkeit! „Ok, eigentlich ist es für mein Kind nicht besonders toll, wenn es jeden Abend um sieben ins Bett gesteckt wird. Mir tut das aber gut.“ Und wenn du das herausgefunden hast, gehe zurück zu Schritt 1; vielleicht findest du dann eine Lösung, dir dein Bedürfnis zu erfüllen, ohne dein Kind ins Bett zu packen, wenn es das eigentlich gar nicht will.

Eine Struktur sollte sich an den Bedürfnissen aller orientieren.

Meine drei Kinder zB sind unfassbar unterschiedlich: Für eines ist Struktur absolut wichtig, notwendig und toll, für die anderen beiden muss das überhaupt nicht sein. Für ein Kind ist Spontanität total wichtig und sie will nichts machen müssen, nur weil wir gesagt haben, dass wir es machen. Selbstbestimmung steht da im Vordergrund. Und dann sind da natürlich noch die tagesaktuellen Befindlichkeiten ganz unterschiedliche. Als wir hier im Lockdown zusammen gesteckt haben, waren die Möglichkeiten für Lösungen ganz andere, als zu Zeiten, in denen wir Besuch hatten oder rausgehen oder Ausflüge machen konnten.

Also nochmal: Wer braucht hier Struktur? Vielleicht braucht ein Familienmitglied so dringend feste Essenszeiten, dass sich der Tagesablauf daran orientiert. Oder das Baby muss unbedingt um 14h Mittagsschlaf in seinem Bett machen, weil es sonst den Rest des Tages gnatscht. Oder es ist der Hund in der Familie, der einen Rahmen vorgibt, weil er drei Mal täglich pinkeln gehen will. Es kann sein, dass ein Kind so unheimlich dringend eine gewisse Struktur braucht und um gut miteinander auszukommen, müssen die anderen um dieses Kind herum arbeiten. Das kann eine Realität in Familien sein. Wir brauchen da Ehrlichkeit!

3. Strukturen an den Moment anpassen

Eigentlich geht dein Kind jeden Abend um 19h ins Bett und findet das voll ok. Du auch, denn du genießt deine freien Abende. Aber heute will es nicht schlafen, nix zu machen. Und nun?

Was sind deine Möglichkeiten? Genau in diesem Moment! Es geht nicht um übermorgen, es geht noch nicht einmal um die nächste Stunde. Es geht ums Jetzt.

  • Was ist jetzt wichtig für dich? Ist es aufschiebbar? Kann dein Kind dabei sein?
  • Was ist wichtig für dein Kind? Reichen für die Erfüllung vielleicht schon 20 Minuten und dann geht es guter Dinge ins Bett?
  • Was sind mögliche Lösungen? Wie sind die aktuellen Bedingungen? Gibt es vielleicht eine andere Betreuungsperson? Welche Lösungen bin ich bereit mitzudenken jenseits von erlauben, verbieten, gewinnen und verlieren?

Schaue von Moment zu Moment. Du brauchst etwas zu einem bestimmten Zeitpunkt? Was kannst du tun, damit dein Kind in dem Moment kooperieren kann?

Vom durchstrukturierten Rahmen zur bedürfnisorientierten Linie

Es sollte inzwischen klar geworden sein, dass ich überhaupt nichts gegen Rahmen habe. Stell so viele auf, wie du willst, aber frag dich, für wen die Rahmen sind. Wem dienen sie? Für wen sind sie herausfordernd?

Und was müsste passieren, damit aus diesem festen, rechteckigen Rahmen flexible Linien werden, die alles zusammenhalten und die Halt geben, bei denen sich die Welt auch weiter dreht, wenn sie sich verändern oder verschieben. Je flexibler wir da werden – und da wird es interessant -, desto weniger müssen wir unsere Grenzen verschieben. Oft ist ja die Idee, ich müsse einen Rahmen halten, um meine Grenzen zu verteidigen. Ich finde es viel, viel hilfreicher, als um 19h alle ins Bett zu schicken, weil eben alle ins Bett müssen, zu sagen: „Für mich ist es wichtig, abends Zeit allein zu haben.“ und dann in den Konflikt zu gehen.

Bedürfnisorientiertes Familienleben ist nicht die Abwesenheit von Konflikt, es ist die gemeinsame Gestaltung von Rahmenbedingungen.

Das heißt nicht, dass am Ende alle glücklich sind, in die Hände klatschen und sagen: „Juhuh, wir gehen jetzt ins Bett, weil wir dich verstanden haben.“ Häufiges Missverständnis. Es bedeutet auch nicht, dass ich den ganzen Tag diskutiere – auch so eine Fantasie. Es bedeutet nur, dass ich bereit bin hinzuschauen, wenn ich merke, es stößt sich eine Person an einer Rahmenbedingung. Dass ich überdenke, was wir brauchen, wofür dieser Rahmen steht, welche Bedürfnisse dahinter stehen und wir das anpassen für alle Beteiligten inklusive mir. Das ist keine Aufgabe von Grenzen, es ist Flexibilität und damit echte Begegnung.

Erzieherische Strukturen ersetzen oft echte Begegnungen, echten Konflikt.

Das ist so schade. Ein echter Konflikt kann dem Kind so viel beibringen, kann mir so viel beibringen. Wenn ich sage, alle müssen immer um 19h ins Bett, dann weiß ich überhaupt nicht, worum es mir da geht. Was ist es denn, was ich brauche? Ich kann mich nicht kennenlernen. Ich kann auch mein Kind nicht kennenlernen. Und mein Kind kann meine Gründe nicht kennenlernen und fühlt sich im schlimmsten Fall einfach nur gegängelt. Echter Kontakt und echter Konflikt ist wundervoll. Schreib dir das auf und lern es auswendig:

Konflikte machen dich nicht weniger friedvoll! Echter Kontakt und echter Konflikt auf Augenhöhe sind absolut essentiell und bedürfnisorientiert.

Wenn du merkst, deine Strukturen sollen den Kontakt ersetzen, dann schau dir deine Strukturen an. Wenn Strukturen euch aber glücklich machen und keine*r ein Problem damit hat, hej, ganz ehrlich, du brauchst keine Sachen zu ändern, die funktionieren. Das ist doch totaler Quatsch. Was euch gut tut, tut euch gut und du musst dich vor niemandem dafür rechtfertigen. Von außen ist nicht ersichtlich, ob etwas bedürfnisorientiert ist oder nicht. Nicht auf den ersten Blick. Also ich kann das nach all den Jahren in der Elternbegleitung schon relativ gut sehen, aber ob es nun bedürfnisorientiert ist oder nicht, wenn die Kinder einer Familie um 19h ins Bett gehen, kann ich definitiv nicht adhoc sehen. Wenn alle happy damit sind oder es sehr gute Gründe für dieses Vorgehen gibt, es klar kommuniziert ist und keine*r tut so, als wäre alles super, dann ist das genauso wertvoll, wie alles andere auch.

Ja! Etabliere Strukturen und frag dich, warum und für wen du das tust und frag dich, ob du bereit bist, flexibel zu werden.