Mein Kind muss lernen, mit den Konsequenzen zu leben. Verdammt nochmal.
Das Kind wird angeschrien, nachdem es eine Stunde gebrüllt und getreten hat. Der Jugendliche wird von einer Lehrerin zum Nachsitzen verdonnert. Das Kleinkind wird vom Hund gebissen, den es getreten hat.
Dinge haben Konsequenzen. Wer sich scheiße verhält, bekommt es damit nun mal zu tun.
Das ist die Idee, die mir ständig vorkommt. Sie wurde gerade erst bei diesem Interview formuliert am Beispiel eines kleinen Kindes, das den ganzen Tag schreit und stresst.
Müssen die Kinder nicht lernen, dass es nunmal solche Situationen gibt? Müssen sie nicht mal erleben, dass es halt irgendwann zu viel ist?
Nein. Müssen sie nicht.
Die Idee hinter dieser Frage ist meines Erachtens Schuld. Denn natürlich passiert sowas. Ich persönlich schreie manchmal ein Kind an. Scheiße. Aber passiert. Oder ich nehme was weg. Oder ich überrede.
Das ist falsch. Aber ja, es kann passieren. Und es ist natürlich absolut verführerisch, uns dann zu sagen, dass es wichtig für unsere Kinder sei, das zu erleben. Das fühlt sich einfach besser an als: Scheiße. Das war falsch. Es schadet. Es tut weh.
Das Problem ist: Das ist aber so.
Und das liegt daran, dass wir Dinge, die wir tun, gerne mit Scham belegen – eine der schlimmen Nebenwirkungen von Erziehung: Wir beschämen uns, anstatt uns mit dem Problem auseinanderzusetzen. Und weil Scham so schrecklich ist, versuchen wir sie kleinzureden.
Aber: Ist es nicht so, dass wir das nunmal lernen?
Ja. Das tun wir. Es gibt ne Menge Dinge, die wir im Leben erleben, die Mist sind. Sich darüber zu beschämen, ist genauso sinnlos, wie es kleinzureden. Es passiert.
Aber: Es ist nicht in Ordnung, dafür die Verantwortung abzugeben.
Denn es ist IMMER nicht in Ordnung, ein Kind anzuschreien, auch wenn es schon seit drei Stunden brüllt. Nicht die Handlung des Kindes hat dich dazu gebracht, sondern du. Deine Gedanken. Was auch immer dir auf der Leber lag.
Glaubst du mir nicht? Dann stell dir vor, es wäre ein anderer Mensch. Ein Fremder. Eine Erwachsene. Stelle dir das fest vor und du wirst merken, dass deine Reaktion sich verändert. Denn sie entsteht nicht wegen deines Kindes. Sondern deinetwegen (mehr dazu hier).
Es ist dein Job, für dein Kind da zu sein. Es ist der Job der Lehrerin, für ihre Schüler*innen zu sorgen und sie nicht zu bestrafen.
Nochmal langsam: Es. Ist. Immer. Die. Verantwortung. Von. Den. Erwachsenen.
Aaaaaber: Muss das Kind nicht erfahren, dass es nunmal manchmal diese Folgen hat?
Gegenfrage: Hat es das?
Manchmal, wenn mein Mann mich fragt, ob ich den Abwasch machen könnte, werde ich sauer. Weil ich nen schlechten Tag habe und PMS und wir uns seit zwei Tagen streiten.
Oder ich sage einfach ’nein‘. Und dann ist es gut.
Nicht immer, wenn mein Mann mich nach dem Abwasch fragt, reagiere ich gleich. Eigentlich reagiere ich nie gleich. Denn ich bin mit meinen Emotionen abhängig von den Umständen, dem Wetter und ob gerade ein alter Schmerz auf dem inneren Tisch liegt. Das ist nicht schlimm, nur Tatsache. Du und ich, wir reagieren nie gleich.
Ich kann also dem Kind gar nicht beibringen, dass jeder, immer, wenn es sich so und so verhält, das schlecht finden würde. Vielleicht ja, vielleicht nein. Vielleicht verletzt es eines Tages jemanden. Vielleicht nicht.
Was es erleben wird, sind Beziehungen. Und darauf kann ich es vorbereiten. Jetzt. Indem ich meine Gefühle zeige, anstatt zu bestrafen. Indem ich zeige, wie das geht, meine Macht nicht zu missbrauchen und anderen wehzutun.
Und damit bin ich heute schon genug beschäftigt. Das ist heute dran.
Viel wertvoller als eine abstrakte Vorbereitung ist, deutliche Rückmeldungen zu geben. Komischerweise sind meist die Menschen, die finden, dass Kinder heute Verhalten x für morgen lernen müssen, gleichzeitig oft nicht in der Lage, eine persönliche Rückmeldung zu geben. Na gut, eigentlich ist das nicht komisch – es zeigt das Maß an Entfremdung und eigener erlittener Erziehung.
Mein Kind verdient eine ehrliche Rückmeldung. Wie soll es denn sonst lernen? Lernen braucht unter anderem Beziehung. Und Beziehung ist nicht nett sein, sondern echt (gibt es ein ganzes Buch drüber). ‚Man macht das aber nicht‘ ist nicht echt. Warum denn nicht? Was stört mich daran? Was stört ggf andere daran?
Außerdem ermöglicht eine Rückmeldung, die ohne Drohungen und Pseudobitten auskommt, so viel mehr Lösungen. Können wir vielleicht woanders spielen, wenn es andere stört? Oder kann ich mich vielleicht ablösen lassen, wenn mich diese Kleinigkeit schon derart aufregt – ich scheine dringend etwas verschnaufen zu dürfen? Und ja, auch DAS ist Beziehung: Die Lösung ist nicht immer das, was sie scheint. Das Verhalten des Kindes ist es (scheinbar), was mich aufregt, aber mir akut liebevoll zu begegnen, ist oft viel, viel sinnvoller als nun am Verhalten des Kindes herumzudoktorn. Denn, nochmal: Das. Ist. Meine. Verantwortung.
Und das sollte die einzige Konsequenz sein aus kindlichem Verhalten – dass wir, ohne uns mit Schuld oder Scham aufzuhalten, hiflreiche Ideen brainstormen, für uns alle.
Und wenn etwas zukunftweisend ist, dann das: Menschen zu unterstützen und mit ihnen im Kontakt zu bleiben lernen, egal was außenrum ist. Lösungen finden, die jenseits des bisherigen liegen. Und lernen nicht als schnellen Erfolg im Jetzt, sondern als langfristige Anlage von hilfreichen Strategien zu verstehen.
Jaaaa! Für mich ist das die (inzwischen und hart erarbeitete) Essenz des Eltern-, ja eigentlich Erwachsenseins – Es ist meine Verantwortung, wie die Situation abläuft.
Liebe Ruth,
Du schreibst aus meinem vollen Herzen!
Die größte Herausforderung und der wichtigste Schritt im Umgang mit anderen ist es, sich selbst zu ergründen, mit sich zu wachsen, liebevoll zu sich zu sein, sich der Dinge (z.B.Verantwortung) bewusst werden.
Ich finde ja, die meisten Konsequenzen (Strafen) sind nichts anderes als „Zurück treten oder zurück schreien auf Erwachsenenart“. Da „lernt“ ein Kind ja vor allem, dass dieses Verhalten durchaus angebracht ist – wenn man der Stärkere ist.
Alleine deshalb finde ich es schon wertvoll, andere Lösungen zu suchen – das ist doch das, was ich mir erhoffe, dass meine Kinder irgendwann andere Strategien finden als schlagen/treten/schreien (auch im übertragenen Sinn) 😉
Liebe Katrin das finde ich super ausgedrückt. „Zurück treten oder zurück schreien auf Erwachsenenart“ ist das, was wir ja eben nicht weitergeben wollen. Danke, deine Worte haben mir gerade noch mal mehr Klarheit gegeben, da mich Ruths Texte sehr bewegen und beschäftigen.
Danke 🙂 das hilft mir sehr. Eine Frage habe ich jedoch noch. Ist es denn so schlecht wenn das Kind tatsächlich „lernt“ wann zb bei mir „Schluss“ ist weil ich einfach nicht mehr kann/will etc… Es ist doch keine Strafe für das Kind wenn ich ehrlich sage „ich bin zu müde um nochmal xy zu machen, lass uns xy machen?“.
Vielen Dank für diese tollen Impulse. Auch wenn man es schon mal wusste, vergisst man wieder. Magst du nicht mal ein Buch mit all diesen Texten rausgeben? Ich würde es gern lesen, darin unterstreichen, Seiten umknicken und Ausrufezeichen dahinter machen.
Haha Cynthia, cool dass du das sagst, ich bin tatsächlich an einem Buchprojekt dran – aber kann noch nix Genaues sagen.
Grüße, Ruth
Liebe Ruth,
ich stimme Dir aus ganzem Herzen zu:
„Es. Ist. Immer. Die. Verantwortung. Von. Den. Erwachsenen.“
IMMER.
Ich danke Dir für diesen wunderbaren Text, der mir nochmal klar gemacht hat, dass ich von der Gültigkeit dieses Satzes felsenfest überzeugt bin. Auch meine Eltern und Großeltern glaub(t)en an diesen Grundsatz. Das heißt aber auch, dass es mir recht leicht fällt danach zu handeln. So funktioniert meine Welt (trotzdem schaffe ich es nicht immer). Die Welt meines Mannes funktioniert anders. Da geht es um eher um Gehorsam. Kinder sollen „folgen“. Das macht mich schon ganz kribbelig, wenn ich es schreibe! Ich möchte dann scheien: „Kinder sollen ihren Weg finden. Nicht hinterherlaufen. Nicht funktionieren. Sondern suchen und SEIN!“
Was für ein wunderbarer Beitrag. Von Herzen: danke!