Funktioniert es besser, Kinder nicht zu erziehen?
Ja und nein.
Ja. Es funktioniert. Wenn irgend etwas Menschen dazu bringt, freiwillig aufzuräumen, freundlich zu sein und ein zufriedenes Leben zu führen, dann der Verzicht auf Erziehung.
Weil das Freiwilligkeit beinhaltet. Wenn ich darauf verzichte, anderen etwas beizubringen, bleiben (!) sie freiwillig, also frei im philosophischen Sinne.
Wenn Respekt, Freundlichkeit und Miteinander gelebt werden, dann bin ich in der Selbstverständlichkeit groß geworden, dass ich wertvoll bin. Dann weiß ich, dass ich und wie ich Konflikte lösen kann, ohne andere anzugreifen.
Die nicht erzogenen Kinder, die ich kenne, sind in der Menge sehr unterschiedlich, aber durchgehend sehr sozial, freundlich und höflich. Gleichzeitig sind sie absolut unbestechlich. Viele von ihnen haben eine regelrechte Allergie auf pädagogisches Handeln, sie erkennen jede Absicht und sind verstimmt, sozusagen.
Es funktioniert. Aber es funktioniert dadurch, dass es nicht funktioniert.
Knoten im Kopf, ne?
Viele Menschen, die dazu kommen, sich mit unerzogen und der Antipädagogik zu befassen, fragen erstmal, ob und wie das funktioniert.
Klar. So sind wir konditioniert. So ist unser Denken über Kinder und ihre Begleitung: Höchstmöglicher Output.
Und damit meine ich lobenswerte Ziele. Weltoffenheit, Freundlichkeit, Glück. All das wünschst du deinen Kindern, oder? Dagegen habe ich auch nichts.
Worauf ich aufmerksam machen möchte, ist eben das Paradoxon von unerzogen: Erst wenn wir wirklich loslassen, dass unsere Kinder in irgendeiner Art und Weise sein müssen, damit sie richtig sind, erst dann haben sie die innere Freiheit sich so zu verhalten.
Das gilt übrigens für alle Beziehungen. Verhaltensziele vergiften Beziehungen.
Das ist also das ‚Nein‘ aus der Antwort auf die Eingangsfrage: Nein, es funktioniert nicht. Weil es darum nicht geht.
Menschenrecht oder Privileg?
Wir fragen nicht, ob Menschenrechte funktionieren – klappt es besser, wenn wir davon ausgehen, dass Frauen genau so Menschen sind wie Männer und die gleichen Rechte haben sollten?
Das tun wir nicht. Denn das ist unerheblich. Diese Rechte sind direkt aus Moral abgeleitet: Es sind sogenannte negative Freiheiten – Freiheiten VON etwas. Freiheit davon, aufgrund eines Merkmales gleiche Rechte erst erlangen zu müssen.
Kindern Rechte zuzugestehen heißt weder, ihnen die gleichen Pflichten zu geben (eben dafür stehen ja die Menschenrechte, dass auch Menschen, die eben nicht in der Lage sind, in der gleichen Weise zur Gesellschaft beizutragen wie andere, die gleichen Rechte trotzdem bekommen, einfach aufgrund ihres Menschseins!) noch ihnen Verantwortung aufzuhalsen.
Es bedeutet, sich klarzumachen, dass das Formen von Menschen Unrecht ist. Egal in welche Richtung.
Es bedeutet, sich klarzumachen, in welcher Position wir sind und dass wir bei aller Genervtheit verdammt gute Gründe brauchen, um die Rechte unserer Kinder mit Macht zu beschneiden.
Es bedeutet über Kinder als Menschen zu denken und nicht als unfertige Halbmenschen.
Das ist nicht einfach. Oh verdammt, das ist schmerzhaft! Ich erinnere gut, wie mich die Erkenntnis, was ich eigentlich tue, wenn ich erziehe, damals wie ein Hammerschlag traf. Wie mich meine gut gemeinten und allgemein nicht als Gewalt anerkannten erzieherischen Handlungen trafen, wie sie wehtaten – und wie sie Unrecht taten an denen, die von mir abhängig sind.
Da rauszukommen braucht viel Liebe und Geduld, vor allem und zuerst mit dir. Aber es ist schaffbar.
Am Anfang darf aber nicht die Frage stehen – ‚funktioniert denn das? Ist das effektiv? Bekomme ich damit das, was ich will?‘ – denn dann muss die Antwort nein sein. Solange du das willst, wird es nicht funktionieren. Wenn du aber in Frieden und echter Augenhöhe lebst und viele deiner Fragen an dich selber gerichtet werden (‚wie kriege ich mein Kind dazu, xy zu machen‘ wird zu ‚warum brauche ich das so dringend, was habe ich damit erlebt und wie schaffe ich es, meiner Verantwortung gerecht zu werden und gute Entscheidungen zu treffen?‘), wird es vermutlich funktionieren.
Was dir dann aber einfach nicht mehr wichtig sein wird.
Liebe Ruth, ich bin auf dem Weg und manches Mal kommt ein Artikel von Dir zur richtigen Zeit. Dankeschön!
Lg Kathrin