Unsere Kinder sind echt bewundernswert.
Sie kommen auf diese Welt und vertrauen uns. Sie sind der tiefen Überzeugung, dass wir sie beschützen, leiten und begleiten werden. Solange sie es brauchen. Ziemlich krass.
Sie glauben das so sehr, dass sie eher bereit sind, uns und unseren Urteilen zu vertrauen als ihre Integrität zu verteidigen. Sie sind abhängig und zutiefst hilflos.
Wir alle waren das. Wir alle hatten dieses Vertrauen.
In der Arbeit mit Eltern, die Erziehung überwinden und endlich Frieden finden wollen, stellen wir immer wieder erschrocken fest, wie groß die Angst vor Hilflosigkeit geworden ist bei Erwachsenen. Weil wir erlebt haben, was passiert, wenn unser Vertrauen missbraucht wird.
Erziehung missbraucht Vertrauen. Sie geht davon aus, dass große Menschen ihre übermächtigen Stempel, an die die kleinen Menschen glauben, auf sie drücken dürfen. Dass kleine Menschen verbesserungswürdig sind. Unfertig.
Dieses Vertrauen nicht zu brechen, ist die Kunst. Und heute mag ich dir erzählen, welche Schritte es dazu braucht. Es ist der Weg in den Frieden und er ist verdammt schwer – also kleine Warnung an dich, falls du hier liest, um irgendeinen Trick im Umgang mit den Kids zu bekommen: Vergiss es.
Es geht um mehr. Es geht um Liebe und Vertrauen und friedfertiges Verhalten. Und das braucht Mut. Mehr Mut als Regeln, Grenzen und Verrat an unseren Kindern, wie unsere Eltern uns verraten haben.
Erster Schritt: Gehe davon aus, dass dein Kind nicht dein Gegner ist
Dein Kind handelt für sich, nicht gegen dich. Wenn es rebelliert, schreit, beißt, spuckt und anderes Verhalten zeigt, was dir nicht gefällt, übe dich darin, ihm die bestmöglichen Motive zu unterstellen. Sei sein_e Freund_in. Sei an seiner Seite. Hilf ihm. Fühle mit.
Und lass die Idee los, das Verhalten bekämpfen zu müssen. Das musst du nicht. Was du bekämpfst, ist das Kind, dein Kind, das sein Verhalten zeigt, weil es noch nichts anderes kennt.
Zeige ihm anderes.
Das Problem ist sonst, dass das Kind lernt, dass ein bestimmtes Verhalten dazu führt, dass es selbst nicht okay ist. So wie es ist. Es lernt nicht, was es statt dessen tun kann. Es lernt Abwertung und es lernt, seine Gefühle zu verstecken. Lass das!
Zweiter Schritt: Gib, gib, gib
Gib deinem Kind Nähe. Gib ihm Liebe. Bring ihm das Käsebrot vor den Fernseher und ziehe ihm die Schuhe an, auch wenn es das schon kann.
Gib alles. Nicht mehr als das, aber auch nicht weniger.
Zeige ihm, wie es ist, mit einem hilflosen Menschen umzugehen und diese Macht NICHT zu missbrauchen. Zeige ihm Großzügigkeit. Zeige ihm Mitgefühl. Zeige ihm Respekt.
(Btw ich kenne keine liebevolleren, mitfühlenderen und respektvolleren Menschen als nicht erzogene. Ich bin immer wieder überwältigt von dem Maß an Rücksichtnahme und Empathie, das schon kleine Menschen zeigen, die keiner Erziehung ausgesetzt waren/sind.)
Dritter Schritt: Umgib dich mit Menschen, die dir helfen
Wenn du wissen willst, das Kinder, die Liebe erfahren, Tyrannen werden, und dass Kinder verweichlicht werden und Grenzen brauchen und…
blablabla.
Dann lies Winterhoff. Oder auch die Haarer. Oder irgend ein anderes Erziehungsbuch der letzten hundert Jahre.
Wenn du wirklich nicht mehr erziehen willst, bist du Pionier_in.
Lies hier. Komm zu Treffen. Organisiere eines. Besuche das Schulfrei-Festival. Vernetze dich mit Menschen, die dir helfen.
Unsere Gesellschaft ist vergiftet von Menschen, die Machtmissbrauch erlebt haben, als sie Schutz und Liebe gebraucht hätten. Die Alternativen sind nicht selten komplett unvorstellbar (einer der Gründe, warum ‚unerzogen‘ mit vor Autos rennenden Kleinkindern assoziiert wird – es ist uns unvorstellbar, wie wir liebevoll schützen UND in der Verantwortung bleiben können, weil wir nur Gewalt kennen).
Durchbrich das. Schaffe dir Inseln, auf denen du auftankst.
Vierter Schritt: Gehe jeden Tag ein bisschen weiter
Gib jeden Tag mehr. Liebe dich und dein Leben und den Moment und deine Kinder jeden Tag etwas mehr. Denke dir immer wieder neue Wege aus, mehr zu lieben und in Verbindung zu sein.
Streichele deine Kinder mehr. Spiele mehr. Vertraue mehr.
Nicht schnell. Nicht plötzlich. Sondern langsam und nachhaltig.
Die Tiefe eines in Liebe gelebten Lebens wird dich umhauen. Ich verspreche es. Auch wenn es eine Weile dauern wird, bis du das fühlen kannst (erstmal kommt die Angst. Das ist okay. Ich begleite dich da gerne durch.)
Denke dir neue Dinge aus. Werde proaktiv. Gestalte dein Leben schöner. Immer ein bisschen mehr. Dazu gehört übrigens auch Selbstliebe: Verzeihe dir deine Fehler. Jeden Tag neu. Es ist okay. Du bist auf dem Weg.
Fünfter Schritt: Kämpfe an der Seite deiner Kinder
Deine Kinder leben in einer Gesellschaft, die sie systematisch diskriminiert. Sie werden in Schulen gezwungen und in Kindergärten abgeliefert, sie sind ökonomischen Zwängen unterworfen und haben dabei üblicherweise keine Mitsprache, sie werden ausgelacht, klein gemacht und – erzogen. Wenn nicht von dir, dann von anderen.
Sei wachsam und sei da. Wenn dein Kind Hilfe braucht (!), zögere nicht zu helfen. Tue das friedlich und als Vorbild, aber hilf.
Steh auf, wenn Erzieher_innen im Kindergarten dein Kind erniedrigen und beschimpfen. Zwinge dein Kind nicht zu seinen Hausaufgaben. Hör zu. Sei da.
Kämpfen bedeutet übrigens auch sauber zu differenzieren – nicht immer ist das, was du gut findest, auch gut für dein Kind. Es kann sein, dass dein Kind deine Hilfe auf eine bestimmte Art möchte.
Sei da. Finde es heraus.
Abschließend möchte Pam Sorooshian zitieren (hier geht es zu der Seite, auf der das Zitat gesammelt wurde):
There is nothing wrong with wanting to be your child’s friend. Do what it takes to earn their friendship – be supportive and kind and honest and trustworthy and caring and generous and loyal and fun and interesting and interested in them and all the other things that good friends are to each other. Be the best 40 year old friend you can be (or whatever age you are). People use „I’m the parent, not a friend,“ as an excuse to be mean, selfish, and lazy. Instead, be the adult in the friendship. Be mature.
Danke,Danke,Danke….:)
ich fühle mich manchmal so allein mit meinen Gedanke, Gefühlen und den Umgang mit meinen Kindern. Dieser Artikel tut mir gerade so gut. Was tue ich wenn mein Partner nicht recht mitzieht….weil er selbst erzogen wurde,sich nicht mit Beziehung beschäftigt? Bin ich meinen Kindern dann trotzdem eine Hilfe für ein freies selbstbestimmtes Leben? Lg und bitte weiter so:)
Liebe Franzi,
immer. Das bist du immer. Liebe kann man nie zu viel geben!
Grüße, Ruth
Liebe Frau Abraham,
ich ziehe meinen Hut vor Ihrer Lebensleistung und freue mich, auf ihren Blog gestossen zu sein.
Ich bin selbst mehrfache Mutter und teile mit Sicherheit einige ihrer Werte. Aber was hat denn ihre Empfehlung, dem Kind „Käsebrote vor den Fernseher“ nachzutragen mit einem erziehungsfreien Miteinander zu tun?? Ich deute solch ein Verhalten als klares „Verwöhnprogramm“ und kann mich des Eindrucks nicht erwähren, dass bei solch einer Empfehlung (bei allen liebevollen Absichten)klar kompensatorische Muster ihrerseits zwischen den Zeilen hervorblitzen.
Und für Herrn Winterhoff möchte ich hier auch mal „eine Lanze brechen“… Ich kenne ihn persönlich und weiss um den Wert seiner Arbeit. Vorallem seine Symbiosetheorie möchte ich Ihnen mal ans Herz legen. Mein Tipp als mögliche Kundin lautet: Etwas weniger schwarz-weiss Denken und ihre Glaubwürdigkeit würde mit Sicherheit davon profitieren.
Und, von Herzen Dank für Ihren Mut ein Herzensanliegen in die Welt zu tragen. Chapeau!
Hallo Ursula,
oh ja, mit den Diagnosen Winterhoffs gehe ich mit – nur mit den daraus folgenden Schlüssen nicht. Das ist ja der Punkt, wo es spannend wird.
Kinder zu verwöhnen halte ich für eine schöne Idee. Dazu brauche ich gar nichts zu kompensieren, ich kann es einfach tun, wenn ich die Angst vor möglichen irgendwo in der Zukunft verorteten Folgen loslasse. Ich meine, es gibt ganz Industrien die Erwachsene verwöhnen. Bei Erwachsenen macht uns das keine Sorgen. Kinder zu verwöhnen zeigt ihnen genau so wie Erwachsenen: ich bin wichtig, ich bin wahrgenommen. Resonanz mit der Umwelt nennt der Soziologe Hartmut Rosa das – ich merke, dass meine Umwelt auf mich reagiert und ich reagiere ebenfalls.
Übrigens verwöhnen mich meine Kinder auch sehr gerne. Gerade eben hat mir mein Kind Tee gekocht. Obwohl ich das schon ganz allein kann!
Grüße, Ruth
<3
Ich finde das Konzept interessant, weiß aber nicht so richtig die Grenze zu ziehen – ab wann fängt erziehen an? Wenn ich verbiete zu beißen? Wenn ich möchte dass im Sitzen (gern auch auf dem Boden) gegessen wird?
Oh, wir sind schon beim Du angelangt.
Na, dann von dieser Warte aus…
Liebe Ruth,
es gibt, auch in meinem direkten sozialen Umfeld, eher einen Mangel an liebevoller Zuwendung für Kinder und in sofern tun Sie sicherlich Gutes, Eltern daran zu ermahnen sich ausreichend um die Belange ihrer Kinder zu kümmern. Was das Verwöhnen von Kindern anbelangt füge ich hier mal den Link zu einem Artikel ein, dessen Inhalt ich als teilenswert betrachte. http://www.elternwissen.com/erziehung-entwicklung/erziehung-tipps/art/tipp/kindererziehung-wann-verwoehnen-ihrem-kind-schadet.html
Auch ich habe viel Freude daran, meine Mitmenschen und Tiere immer wieder „zu verwöhnen“ und stimme ihnen natürlich zu, dass sich ein fürsorgliches Verhalten positiv auf das Beziehungsklima auswirkt. Ich meine dennoch, dass es von großer Wichtigkeit ist, dass wir Eltern Klarheit haben, sowohl über das Maß in dem wir unsere Kinder „verwöhnen“, die Art und Weise und auch unsere Beweggründe. Denn es gibt, meiner Meinung nach, definitiv die Gefahr, ein Kind über Verwöhnung in emotionale Abhängigkeit zu führen und es so dauerhaft zu schwächen. Sie verwehren sich der Manipulation. Ich möchte Sie kurz mal darauf aufmerksam machen, wie komplex auch dieses Thema ist. Ich habe noch keine Mutter getroffen, die ohne manipulative Momente auskommt. Die Frage ist nur, inwiefern sich Mütter ihres Verhaltens immer voll bewusst sind. Zudem gibt es zahlreiche Beispiele im Familienmalltag, wo Manipulation das Mittel der Wahl ist, um Kinder sicher und achtsam im Alltag zu begleiten.
Den all unser Handlungen, die einem bestimmten Zweck dienen sind letztendlich manipulativen Charakters. Und, wenn wir gerade mal nicht unser Gegenüber manipulieren, stehen wir nur noch all zu häufig in der Gefahr uns selbst zu manipulieren.
Liebe Ruth, ich danke dir sehr für diesen wiedermal tollen und inspirierenden Artikel:) wir haben es tatsächlich geschafft Erziehung hinter uns zu lassen und ja es hat uns umgehauen was stattdessen entstehen kann wie du so schön schreibst. Ich sehe meine kinder mit völlig anderen Augen, viel klarer .Wir leben nun im gegenseitigen respekt und unser Alltag war noch nie so einfach wie jetzt. Das haben wir unter anderem auch dir zu verdanken du warst ein sehr guter Begleiter auf diesem Weg also vielen Dank dafür 🙂 LG kati
Alleine der „Erste Schritt“ bringt einen schon viel weiter. Wenn man das im Kopf behält, klappt vieles einfacher.
Ich merke immer wieder, wenn ich versuche zu „erziehen“ entsteht draus ein größerer Konflikt, als das was ich „beheben“ wollte. Lass ich es aber bleiben und gehe auf mein Kind ein (also schon Schritt 2), löst es sich viel einfacher.
Danke! Ich werde jetzt noch viel öfters hier lesen.
Liebe Ruth,
dein Artikel erinnert mich an den Satz „Du bist die Mutter und nicht die Freundin deines Kindes“. Ich war schon immer der Meinung, dass ich durchaus beides sein kann und soll.
Wenn nicht ich meine Kinder liebe und akzeptiere, wer dann?
Wenn nicht ich ihre Meinung schätze, wer dann?
Wenn nicht ich ihnen das Gefühl gebe, dass sie voll ok sind, wer dann?
Freundschaft ist freiwillig und beruht auf Gegenseitigkeit. Es wäre das größte Lob, wenn meine Kinder auch im Erwachsenenalter zu mir sagen „Du bist und warst schon immer meine Freundin“.
Liebe Ruth,
Ich bin ganz frisch auf dich und auch deine Gruppe gestoßen und lese nun aufmerksam und mit viel Interesse deinen Blog.
Sei deinem Kind der Freund, den du gebraucht hättest. Ein ganz toller Satz. Genau das wollte ich immer sein…und dann hab ich doch alles falsch gemacht bei meiner größeren Tochter (6 J.). Ich hoffe so sehr, dass ich mein Verhalten ändern kann und die Beziehung wieder zu dem machen kann was sie einmal war.
Danke für den schönen Artikel.
Liebe Grüße aus Rutesheim!
Hallo,
Ich finde es gute, dass deine Beiträge mich immer wieder zum nachdenken anregen. Ich versuche unseren Weg zu finden, aber oft komme ich an meine Grenzen. Zb weiß ich natürlich, dass unser Sohn nicht gegen uns arbeitet, aber es fühlt sich halt leider oft so an, wenn er grinsend weiter macht, wenn man ihn bittet etwas zu lassen. Und es gibt nun mal Dinge, die er lassen sollte. Dazu gehört zb hauen, treten (vor allem, wenn es denn Baby Bruder betrifft) usw. Da frage ich mich oft, wie man so etwas löst. Ich kann es ja nicht einfach aussitzen bis er aufhört und freundliche Bitten finden kein Gehör. Ich rede erst mal mit ihm, wie ich auch Freunde bitten würde etwas sein zu lassen (weil es meine Grenzen überschreitet oder jmd weh tut usw). Und ja, da möchte ich dann einfach mal, dass er das macht, was ich „will“. Da hänge ich immer wieder und komme nicht weiter, was die Lösungen angeht ohne laut zu werden. Ich hoffe sehr ich finde da unseren Weg und hole mir weiterhin Anregungen! Danke dafür
Liebe Ruth!
Mal wieder ein so bewegender, Liebe-voller, genialer Artikel. Ich bin Dir zutiefst dankbar für all Deine Worte, Deine Arbeit und fantastische Unterstützung, und hoffe sehr, dass viele Leser Deine Artikel weiterempfehlen und Deine Gedanken mit anderen teilen. Es ist unsere Verantwortung als Eltern dieser Generation, den Teufelskreis der Gewalt zu brechen und unseren Kindern gewaltfreies Leben vorzuleben (und mit ihnen zu lernen).
Danke <3
Ein toller Ansatz … allerdings für mich im Alltag schwer umzusetzen. Zu oft kollidieren die Wünsche und Bedürfnisse der Kinder mit meinen … oder schlicht dem Alltag
Ach Ruth, bin so froh über deine Worte, danke!
Unerzogen ist an sich eine Revolution, aber ich seh Massen und Massen an Eltern, die nicht eine Sekunde an ihrer strengen Erziehung zweifeln. Ich finde das schwerer und schwerer zu ertragen.
Ich lese diesen Artikel grad zum zweiten mal. Heute, fast ein Jahr später hat er für mich eine ganz andere Bedeutung. Es ist wirklich ein Prozess. Danke liebe Ruth du hilfst mir sehr auf diesem Weg…